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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Dankesrede zur Verleihung des Tucholsky-Preises von Lothar Kusche

Sehr geehrte Damen und Herren, geehrter diensthabender Vertreter der Feuerwehr,
auch ich begrüße Sie der Tageszeit entsprechend mit einem herzlichen (…) „Mahlzeit” allerseits!
Der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft, die Otto Köhler und mich in diesem Jahr mit dem Tucholsky-Preis bedacht und gewissermaßen noch aufgewertet hat, danke ich herzlich.
Da kann ich für meine Person nur sagen: Zuviel der Ehre. Klingt ziemlich kokett (und das ist es auch).
Und vor der wunderbaren Gisela May mache ich einen großen Kratzfuß für ihre Laudatio. Ich bin in meinem relativ langem Leben schon oft herabgewürdigt worden, besonders von Mathematiklehrern und Kulturkritikern. Niemals aber hat mich jemand dermaßen hinaufgewürdigt. Statt eines Gänseblümchens ein Lorbeerkranz! Die Lorbeerblätter lasse ich mir nun – um ein poetisches Bild zu benutzen – genießerisch auf der Zunge zergehen.
Gelegentlich wurde ich befragt, wann und wie ich denn eigentlich Tucholskys Persönlichkeit, seine Bedeutung, seine Sendung kennen gelernt und wann ich zum ersten Mal was von ihm gelesen habe. Das ist schwer zu beantworten. Soweit ich mich erinnere, existierte Tucho schon immer in meinem Hinterkopf. Und obwohl ich manchmal nicht genau weiß, wo bestimmte Sachen in meinen stilvoll unaufgeräumten Bücherregalen stehen, hatte ich seine Bände immer griffbereit, erstens, weil ich oft darin nachschlage oder durch ausführlichere Lektüre Rat und Trost suche. Und meistens auch finde. Und zweitens sehe ich oft nach, ob mir ein Tucholsky-Band geklaut worden ist. So was passiert dann und wann. Da sieht man doch, sagen wohlmeinende Freunde, wie wertvoll diese Bücher sind. Sie meinen: waren. Bücher, die nicht mehr da sind, waren allenfalls wertvoll. Wladimir Kaminer ist mir noch nie entwendet worden.
Natürlich konnte ich Kurt Tucholsky nicht mehr in persona kennen lernen. Wie schade! Filmaufnahmen oder Schallplatten sind mir nicht bekannt. Mir begegneten Menschen aus seinem Leben: Mary Gerold-Tucholsky, Ernst Rowohlt, Ernst Busch und Hanns Eisler, Rudolf Arnheim und Kate Kühl. Und ohne solche intelligenten und gründlichen Lektoren und Editoren wie Erich Kästner, Fritz J. Raddatz, Roland Links, Walther Victor und viele andere wäre meine Generation nie so intensiv mit seinem Werk vertraut geworden. Ein besonderes Erlebnis war das legendäre Tucholsky-Programm auf dieser Bühne hier – lange her, aber unvergesslich für viele Leute: Gisela May, Ernst Busch, Horst Drinda, der Komponist und Pianist Peter Fischer – als Ansager Karl Kleinschmidt, seines Zeichens Domprediger zu Schwerin. Kleinschmidt hat auch eine kleine, etwas flüchtige, aber lustige Bildbiographie des Mannes mit den 5 PS herausgegeben. Einer der großen Darsteller des letzten Jahrhunderts (nämlich ich) sollte mal in einem Film als Kurt Tucholsky auftreten. Soweit kam es nicht. Der Regisseur wollte mich nicht haben. Ich war ihm etwas zu dick für diese Zwei-Minuten-Szene, in der K. T. irgendwo hinten vorbeigeht. Auch missfiel ihm mein leicht berlinischer Tonfall. Er hatte sich seinen Helden anders vorgestellt und besetzte die Rolle mit einem Charakterdarsteller aus Erfurt. Vergessene Anekdote!
Eine Freundin fragte mich: Wer war oder ist eigentlich größer – Tucholsky oder du? Ich konnte nur antworten: Größer ist allemal Goethe.
Wie aber klang die Stimme des Schloß-Gripsholm-Dichters?

… Das gehauchte Berlinisch, in dem die Stimme Ruhepausen braucht, die von ‚nich‘ gebildet werden… Ein ganz einheitlicher Mensch von einundzwanzig Jahren (…) Will Verteidiger werden, sieht nur wenige Hindernisse – gleichzeitig mit der Möglichkeit ihrer Beseitigung… Zweifel an der eignen Fähigkeit zur Pose, die er sich aber von größerer Welterfahrung erhofft – endlich Angst vor einer Verwandlung ins Weltschmerzliche, wie er es an älteren Berliner Juden seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig gar nichts davon… Er wird bald heiraten.
(Aus Franz Kafkas Tagebuch, 1911)

Neben dem gehauchten Berlinisch, das Kafka bei Tucholsky wahrnahm, schrieb und sprach der von uns schon als Schülern bewunderte Mann auch ein bestimmtes und sehr klares Deutsch wie in diesem Peter-Panter-”Schnipsel” (Weltbühne, Dezember 1930):

Die stupide Anschauung Ernst Jüngers, Kampf sei das Primäre, das Eigentliche, wofür allein zu leben sich verlohne, steht auf ähnlichem Niveau wie die eines falschen Friedensfreundes, der jeden Kampf verabscheut und für Kamillentee optiert. Weder ewiger Kampf ist erstrebenswert noch ewige Friedfertigkeit. Nur Krieg … das ist eine der dümmsten Formen des Kampfes, weil er von einer recht unvollkommenen Institution und für sie geführt wird.

Das muß laut gesagt werden, damit es auch gehört wird. Freunde und ich lasen Mitte der vierziger Jahre, um dem Krieg unseren Krieg zu erklären, in Berliner Klubs, Schulen und anderswo einschlägige Texte von Wolfgang Borchert und natürlich auch von Tucho vor.
In jenen Tagen hatten wir Kontakt zu Heinz Kraschutzki, einem Mann ganz nach unserem Geschmack. Kraschutzki, geboren 1891 in Danzig, Kapitänleutnant a.D., 1932 nach Spanien emigriert, wo er bald ausgebürgert und inhaftiert wurde (…). Uns gefiel er als verdienstvoller Organisator der Internationale der Kriegsdienstgegner. Ihm verdankte ich die Möglichkeit, einmal in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee Borchert und Tucholsky zu rezitieren. Die Insassen des wenig gastlichen Hauses begrüßten meinen Besuch, weil sie endlich mal aus ihren Zellen heraus in einen Vortragsraum geführt wurden. Ich schwitzte sehr. Bekanntlich ist es viel einfacher, in einen Knast reinzukommen als wieder aus ihm rauszukommen. Draußen wartete aufgeregt meine Begleiterin. Nun war ich wieder da . (Vielleicht hatte sie mit dem Gedanken gespielt, man würde mich für längere Zeit in der JVA festhalten? Das weiß ich heute nicht mehr so genau.)
Ungefähr 43 Jahre war ich Bühnenarbeiter, und zwar bei der „Weltbühne”, die im so genannten 1000-jährigen Reich nur in Exil-Ausgaben erscheinen konnte und 1946 von der Witwe Carl von Ossietzkys, Maud von Ossietzky, und Hans Leonard neu herausgegeben wurde. Ich hatte Sympathien für die Zeitschrift; für mich war sie ja Tuchos Blatt. 1951 erschien dort meine erste Glosse, und ich blieb ein treuer Mitarbeiter mit Marginalien, Kommentaren, Kritiken, Satiren, vertrug mich ziemlich gut mit den Redakteuren Hans Leonard, Ursula Madrasch, Hermann Budzislawski, Peter Theek – bis ein neuer Gesellschafter, Immobilienhändler aus Frankfurt am Main, die mittlerweile lauwarme „Weltbühne” fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Wie viele Journalisten konnte ich mir das Schreiben nicht plötzlich abgewöhnen.
Als Eckart Spoo vor zehn Jahren ein „Weltbühnen”-Nachfolge-Blatt namens „Ossietzky” ins Leben rief, holte er mich dazu. Im Kreis solcher Kollegen wie Ulla Jelpke, Daniela Dahn, Susanna Böhme-Kuby, Otto Köhler, Matthias Biskupek, Gerhard Zwerenz, Thomas Kuczynski und so weiter fühlt man sich wohl. Ich hatte nebenher ungefähr 40 Bücher und Bücherchen veröffentlicht. Die sind alle vergriffen.
Mit Kurt Tucholsky gabs mal ein kleines Problem. Keine Frage, dass ich ein Verehrer von Kurt Tucholsky war und bin (…). Die Umbenennung der alten Berliner Artilleriestraße in Tucholskystraße erfüllt mich noch heute mit Freude (…). Als noch jungem Menschen war mir die Ehre zuteil geworden, im VEB Kühlautomat zu Berlin-Johannisthal einen Vortrag über die „Weltbühne” im allgemeinen und Tucholsky im besonderen zu halten (…). Vorm Eingang zum Klubraum wurde ich von einigen netten jungen Männern (damals war ich auch noch so eine Art junger Mann) mit freundlichen Zurufen empfangen: „Imma mit die Ruhe, Kleena, jetzt brauchste noch nich rinjehn. Tanz fängt erstens frühestens inne Stunde an. Vorher hält erst noch eena ne Rede, na bitte, wennet sein sehnlichsta Wunsch is – aber ohne uns, wah!”
So was braucht jeder Referent zur seelischen Einstimmung. Das Furchtbare ereignete sich erst in der nachfolgenden Diskussion. Nach meinem profunden Vortrag über Tucholsky fragte einer dieser grauhaarigen Typen, die auf allen Versammlungen hauptsächlich deshalb anwesend sind, um die Referenten auf diesem Weg zur Hölle genügend zu beheizen: „Na schön, junger Mann, aber wie war das denn nun mit Theodor Tagger? Sie haben hier alle möglichen oder unmöglichen Tucholsky-Pseudonyme bemüht, sind aber nie auf Theodor Tagger gekommen.” Ich versuchte ohne nennenswerten Erfolg diesen Mann davon zu überzeugen, dass Theodor Tagger der wirkliche Name des erfolgreichen Theaterleiters und -autors Ferdinand Bruckner (1891–1958) gewesen sei. Der Bursche glaubte mir kein Wort. Oder er tat so. Wir debattierten zwanzig Minuten lang erfolglos. Und das war meine erste Tucholsky-Produktion. In seinem fernen Grab möge Tucho auch dies seinem Nachahmer verzeihen.
Mit meinen vielen Erinnerungen an ungezählte große (und kleine) Theater-Größen, die mich seit mehr als fünfzig Jahren – mit Unterbrechungen und Pausen (versteht sich) bezauberten, möchte ich das geduldige Publikum höflicherweise verschonen. Auf dieser Bühne, die für mich natürlich nicht nur aus ein paar Brettern besteht, sondern aus jenen speziellen Spundbrettern, welche die Welt bedeuten, saß ich auch mal mit meinem Freund Hans Bunge – da vorne noch vor dem eisernen Vorhang (aus Sicherheitsgründen? Keine Ahnung), als wir etwas über den schwierigen Umgang mit dem schwierigen Ernst Busch in einem Matinee-Gespräch zu erklären versuchten. Der Regisseur, Autor und Dokumentarist Bunge betreute damals auch ein nicht mehr existierendes kleines Theater mit 99 Sitzplätzen – die Kleine Komödie, befindlich unter den Kammerspielen. Ein hübscher und behaglicher Raum war das.
Bunge arrangierte dort neben vielen andren Sachen auch die Vorstellung einer damals neu erschienenen Märchensammlung Die Rettung des Saragossameers. Unter den sehr vielen Märchentanten und –onkels war auch ich mit einem auffallend kurzen Text. Der lautete so: Minutenmärchen Nr. 3. Es war einmal ein richtiger alter Deutscher, der hatte einen Fehler gemacht. Und nun will ich euch erzählen, liebe Kinder, was er danach tat: Er ghab den fehler zu. Peng, aus.
Der Einfachheit halber kriegte jeder von uns das gleiche Honorar. 150 Mark, glaube ich. Na immerhin.
Ein anderer meiner DT-Freunde, der Germanist, Schauspieler und Regisseur Ernst Kahler, Augen- und Ohrenzeuge des Events (den Ausdruck gabs seinerzeit noch nicht) offenbarte seine Talente als Rechenkünstler, indem er uns hinterher in der Kantine sein kleines feines Buch Eine himmlische Rolle mit folgender Widmung schenkte: Lothar und Ingelott überreicht an dem Tage, als Lothar für einen Stundenlohn von 72.000 Mark 1 Märchen erzählte. 5. Oktober 1976.
Das waren noch Zeiten!
Erinnern sich die Berliner etwa mit einem Denkmal an ihren früheren Mitbürger Kurt Tucholsky? Das wäre eine widersinnige Hoffnung. Niemand denkt wirklich an eine Figur, die ihn von einem sogenannten Denk-Mal herunter anglotzt. Wäre es anders, so müssten die Bewohner mancher deutschen Stadt täglich an Bismarck denken oder an Kaiser Willem. Oder Menschen auch aus kleineren Siedlungen hätten zu Sowjet-Zeiten rund um die Uhr an Väterchen Stalin gedacht. Das haben sie vielleicht sogar getan, aus gewissen Gründen, nicht wegen der Denkmäler.
In Berlin gibt’s indes eine Tucholskystraße. Ganz in der Nähe dieses Theaters. Diese Straße hieß früher Artilleriestraße, weil in der Gegend mal eine Kaserne für Artilleristen war. Diese Straße verläuft vom Spreeufer bis zur Torstraße. Auf der einen Seite befindet (oder befand?) sich die Charitéklinik für natürliche Heilweisen, worinnen einst der Professor Paul Vogler auf natürliche Weise heilte. Hauptsächlich mit Wasser. Daher nannte man den Professor auch „Plansche-Paule”. Auf der anderen Seite wohnte zeitweilig ein prominentes DT-Mitglied namens Eberhard Esche. Die Torstraße hieß früher Wilhelm-Pieck-Straße. Kleiner Hinweis für Gäste aus älteren oder exotischen Ländern: Pieck war mal DDR-Präsident.
Apropos: Der amtliche „Reichsanzeiger und Preußische Staatsanzeiger” gab am Freitag, dem 25. August 1933, bekannt, wem die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt wurde: dem Dr. Tucholski, Kurt, geschrieben mit i. Und übrigens auch dem Pieck, Wilhelm.
Dazu möchte ich folgendes sagen: Gar nichts.
Gehalten am 21. Oktober 2007 im Deutschen Theater in Berlin

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Dankesrede zur Verleihung des Tucholsky-Preises

»Der Krieg ist aber unter allen Umständen tief unsittlich«. Das ist das Motto dieser Tagung. Das sagt Kurt Tucholsky. Und das ist uns Deutschen zehn Jahre nach seinem Tod ganz selbstverständlich geworden.
Aber ich doch nicht. Ich konnte 1945 als zehnjähriger Dorfbewohner – in einem kleinem Nest bei Bad Kissingen, wo Bismarck immer kurte und wo er sein Kissinger Diktat zur Lösung der Balkankrise entwarf – ich konnte nicht verstehen, daß unser Krieg verloren sein soll. Ich glaubte, noch gut zwei Jahre, daß der Führer lebt und daß unsere Wehrmacht mit ihren Wunderwaffen aus dem Untergrund aufstehen und den Feind schlagen wird. Und hätte ich nicht die Gnade der allzu späten Geburt gehabt, in der Waffen-SS wäre ich auch noch gelandet.
Der Abscheu der Deutschen vor dem Krieg hielt bis nahezu zum Ende des Jahrhunderts an. Bis zum Beginn der rot-grünen Reformkoalition. Da, um 1998/99 stellte sich für uns Deutsche heraus, daß Krieg durchaus nicht unsittlich sein muß. Tucholsky ist seither widerlegt.
Es war Gerhard Schröder, der als erster deutscher Kanzler seit Adolf Hitler wieder Krieg führte. Der Kriegsgrund war zutiefst sittlich. Es war ein Ritus der Adoleszenz, der Reife, der Deutschland aus seiner 1945 selbstverschuldeten Unmündigkeit befreite, der Deutschland endlich wieder erwachen ließ, erwachsen machte. Es war der Gründungsmythos der Berliner Republik.
Schröders Außenminister Joseph Fischer hat dies auf den Punkt gebracht. Weil der serbische Hitler Adolf Milosevic den Balkan in ein – da kennen wir uns aus – neues Auschwitz verwandelt hatte, verwandelte sich die bis dahin gültige Doppelparole »Nie wieder Auschwitz«, »Nie wieder Krieg« in eine saubere Alternative.
Mit dem Schlachtruf »Nie wieder Auschwitz« stürzten wir uns in den Krieg.
Zuvor war Verteidigungsminister Rudolf Scharping – Sie erinnern sich: der heutige Präsident der manchmal ehrlichen Radfahrer – an der Spitze einer uniformierten Bundeswehrkompanie in die Gedenkstätte Auschwitz einmarschiert, um sich mit Hilfe eines dort niedergelegten Kranzes die Weihe für diesen Krieg zu verschaffen.
Es ging auch gar nicht anders: Nach der vollzogenen Wende war Krieg notwendig. In seinen soeben erschienenen Memoiren unterrichtet Joseph Fischer das deutsche Volk, wie man sich so einen Krieg holt. Noch nicht im Amt, bat er seinen FDP-Vorgänger Klaus Kinkel, ich zitiere, »um den aktuellen Sachstand in der Frage Kosovo und NATO über die Mobilisierungsentscheidung der militärischen Kräfte (Act.Ord). Danach würde der konkrete Einsatzbefehl allein beim NATO-Oberbefehlshaber liegen, und würde dieser den Befehl – nach einem Anruf aus Washington erteilen, dann hieße dies Krieg.« (S.106)
Eine Seite weiter in seinen Memoiren hat Fischer sich – auch für uns – entschieden: »Innerhalb weniger Minuten hatte ich, ohne Abstimmungsmöglichkeit mit Partei und Fraktion, eine der weitreichendsten Entscheidungen in meinem Leben zu treffen gehabt, nämlich die über Krieg und Frieden…« (S.107)
Joseph Fischer wählte den Krieg. An der Seite der USA. Aber er wählte frei und gern. Denn es war im Grund ein alter deutscher Krieg. Der Krieg zur Vernichtung Jugoslawiens, den Deutschland 1941 führte, der damals – ohne Kriegserklärung – mit der Bombardierung Belgrads begann, und 1999 ebenso. Und der auch schon 1914 als Krieg gegen Serbien, begangen wurde, gegen Serbien, das sich Österreichs Sühneforderungen für den Mord von Sarajewo unterworfen hatte. Doch weil Deutschland sich an Österreichs Seite stellte, sollte »Serbien sterbien« wie der Kriegsruf damals hieß.
Dann wurde 1999 aus Jugoslawien das neue Auschwitz, gegen dessen Urheber wir, das erwachsene Deutschland, Krieg führen mußten.
Es lief alles wie im Ersten Weltkrieg. »Nichts, nicht einmal die Feldpost, hat in diesem Krieg so kläglich versagt wie der deutsche Geist«, schrieb im November 1914 der deutsche Schriftsteller Gustav Landauer, den fünf Jahre später deutsche Freikorps auf viehische Weise lynchten.
Ich, der ich als dummer kleiner Junge in Euerdorf, ja so hieß das Nest, schon einmal auf so was reingefallen war, schämte mich, daß unser neuer deutscher Gegenwartsgeist am Ende des Jahrhunderts schon wieder Feldpost spielte – eine liebreizende Kollegin trampte mit ihrem Hund im Bundeswehrpanzer durch das zerschlagene Jugoslawien.
Vorletzte Woche hat auf der Frankfurter Buchmesse die katalanische Schriftstellerin Nuria Ama gesagt: »Wir wissen, dass es Sache der Politiker ist, mit Lügen zu manipulieren, und die der Schriftsteller wie Kafka, Wahrheiten aufzudecken.«
Nun haben wir zwar keinen richtigen Kafka im deutschen PEN, und er selber ist auch nie irgendwo PEN-Mitglied gewesen, aber Schriftsteller zum Aufdecken hätten wir in unserem Verein doch die Menge, dachte ich, nach Josef Fischers Krieg. Und so – ich will jetzt mal ins Plaudern geraten – stellte ich zusammen mit Christoph Hein, dem gerade ausgeschiedenen Präsidenten des Deutschen PEN auf unserer Mitgliederversammlung im Jahr 2000 einen Antrag.
Er ist mit der überwältigenden Mehrheit des im PEN versammelten Geistigen Deutschland abgelehnt worden.
Und so können sie ganz gewiß sein, meine Damen und Herren: der Deutsche Geist, die Deutschen Intellektuellen, die Deutschen Schriftsteller haben nichts, aber auch gar nichts mit den folgenden Sätzen aus dem Jahr 2000 zu tun, die ich Ihnen genau deshalb nicht ersparen will:

Ein Jahr nach dem dritten deutschen Krieg im 20. Jahrhundert bedauert die Mitgliederversammlung des PEN-Zentrums Deutschland, daß Schriftsteller dazu bereit waren, sich hinter die Friedenspolitik der deutschen Bundesregierung zu stellen, die eine Politik des Krieges war.
Heute, nach den Untersuchungen des ehemaligen Brigadegenerals und Leiters des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr, Heinz Loquai, scheint dies festzustehen: Das »Massaker von Racak«, mit dem wir kriegsbereit gemacht werden sollten, war mit hoher Sicherheit eine (leider normale) Schießerei zwischen Bürgerkriegsgegnern. Und der »Hufeisenplan« zur Vertreibung aller Kosovoalbaner, mit dem Verteidigungsminister Scharping die Bombardierung Jugoslawiens rechtfertigte, war eine Erfindung des Bundesverteidigungsministeriums, um die erst nach der NATO-Bombardierung einsetzenden großen Flüchtlingsströme zu begründen.
Wir wissen heute, daß es 1999 entgegen der Behauptung von Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping in der Kosovohauptstadt Pristina kein serbisches KZ gab. Wohl aber gab es 1944 an diesem Ort ein deutsches KZ, in dem mit Hilfe von kosovoalbanischen SS-Leuten Juden, Serben und Roma ermordet wurden.
Wir wissen, daß im jugoslawischen Bürgerkrieg von allen Seiten schwere Verbrechen begangen wurden, Verbrechen, die es aber nicht rechtfertigen, mit der Parole »Nie wieder Auschwitz« (Außenminister Joseph Fischer) zugunsten einer Seite einzugreifen, die schon im Zweiten Weltkrieg auf der Seite Großdeutschlands stand.
Schon im Ersten Weltkrieg haben berühmte deutsche Schriftsteller und Professoren sich in gemeinsamen Erklärungen und Aufrufen hinter ihre Regierung gestellt und die deutsche Propaganda unterstützt. Wir warnen vor Fortsetzung in einer Zeit, in der die Bundeswehr als Krisenreaktionsstreitmacht fähig gemacht werden soll, jederzeit und an jedem Punkt der Welt militärisch einzugreifen. Die – entschieden selektive – Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen in den Staaten, die wir zu Recht oder zu Unrecht als Schurkenstaaten betrachten, kann keine Rechtfertigung dafür sein, daß von deutschem Boden wieder Krieg ausgeht. Wir fordern Mißtrauen gegenüber allen deutschen Regierungen, die sich so leichtfertig wie das gegenwärtige Kabinett zu kriegerischen Einsätzen bereit finden.
Wir fordern die deutschen Medien auf, sich nach dem Vorbild der französischen Presse bei ihren Lesern, Hörern und Zuschauern für die Fehlinformationen zu entschuldigen, die ungewollt erfolgten, da man der Desinformation und Propaganda der Regierung geglaubt hatte.

Da hätten Sie mal, meine Damen und Herren, angesichts dieses Textes unseren Ersatz-Kafka, den damaligen Generalsekretär und heutigen Präsidenten des Deutschen PEN, Johano Strasser, erleben sollen. »Er gilt als einer der Vordenker der SPD«, las ich letzten Freitag in der Rotenburger Rundschau, dort an der Wümme las er vor dem SPD-Ortsverein aus seinen Memoiren.
Alles Quatsch, der Antrag sei unsinnig, alles längst überholt. Sein Freund Scharping habe ihm versichert, daß es den Hufeisenplan doch gebe und alles andere auch. Und im übrigen können wir nicht lang diskutieren. In zehn Minuten ist die Mitgliederversammlung zu Ende. Wenn nicht, wird das Essen kalt.
Der Deutsche Geist von 2000 hatte Hunger, stimmte rasch mit 9 gegen 78 Nein-Stimmen den ihm zugemuteten Antrag hinweg und begab sich pünktlich zum Abschiedsmahl.
Wenige Tage später aber erhob sich der Deutsche Geist in Moskau zu heftiger Kritik. Beim Internationalen PEN-Kongreß in Moskau werden wir, so sprach Generalsekretär Johano Strasser im Rundfunk, »die Möglichkeit haben, in der russischen Öffentlichkeit und in der Weltöffentlichkeit noch einmal anzusprechen, was in Tschetschenien geschehen ist und immer noch geschieht, daß dort ein Krieg geführt worden ist, nicht gegen Kombattanten ausschließlich, sondern gegen die Zivilbevölkerung mit ungeheuren Grausamkeiten, daß parallel dazu die öffentliche Meinung manipuliert worden ist, daß Journalisten unter Druck gesetzt worden sind und gehindert sind an der Berichterstattung.«
Man werde in und an die Wunde Tschetschenien rühren, versprach Johano Strasser und insbesondere bei der Eröffnungsrede von Günter Grass werde »das Thema Tschetschenien eine Rolle spielen«.
Das war der richtige Mann am richtigen Ort. Wenige Monate zuvor hatte der deutsche Dichter den Krieg der Deutschen gegen Jugoslawien bejaht und das »Herummogeln um die Notwendigkeit des Einsatzes von Bodentruppen« getadelt.
Daß der russische PEN-Club kein Geld von der Regierung bekomme, war für den deutschen Generalsekretär »in dieser Situation eher ein Vorteil«. Denn: »Die Ford Foundation hat mitfinanziert, so daß auch von der Finanzierungsseite her Unabhängigkeit garantiert ist.«
Die Ford Foundation, die einst auch mit CIA-Geldern den Kongreß für die Freiheit der Kultur finanzierte, ist eine US-Stiftung zur Verbreitung der Demokratie, eingerichtet von Henry Ford, dem Freund Hitlers und Begründer des modernen US-Antisemitismus.
In Moskau aber sprach Günter Grass: »Das immerhin leistet die Literatur: sie schaut nicht weg, sie vergißt nichts, sie bricht das Schweigen.«
Ja, es war beste deutsche Literatur, als PEN-Freund Scharping nicht schwieg, als er die Wahrheit über den Serben erzählte: daß er »Frauen ihre Kinder aus den Armen reißt und ihre Köpfe abschneidet, um mit ihnen Fußball zu spielen«, daß »ermordeten Schwangeren der Bauch aufgeschlitzt wird und der Fötus erst gegrillt und dann in den Bauch zurückgelegt wird«.
Große Erzählkunst. Günter Grass findet ihren Urheber öffentlich gut: »Ich finde es jämmerlich, wie die Presse mit so einem hervorragenden Außenminister wie Fischer und so einem hervorragenden Verteidigungsminister wie Scharping umgeht.«
Ich achte Günter Grass, wir kennen uns, meist aus der Distanz seit 45 Jahren, ich halte ihn, nicht einfach nur, weil man das zu seinem 80. Geburtstag muß, für einen der großen deutschen Schriftsteller. Ich bewundere seinen Fontane-Roman »Ein weites Feld« – wie er die Enteignung der Ostdeutschen durch die Treuhand schildert und dafür durch eine wütende westdeutsche Kritik gemaßregelt wurde.
Aber eines kann ich nicht vergessen. Vor zwei Jahren wurde von unbekannter Seite Gerhard Schröder für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Günter Grass, der selbst als Literaturnobelpreisträger kein Vorschlagsrecht für den Friedensnobelpreis hat, unterstützte öffentlich diese absurde Nominierung: Friedensnobelpreis für den ersten deutschen Kriegskanzler seit Hitler, nur weil er einmal – nicht zuletzt aus wahltaktischen Gründen – einmal einen Krieg und schon das stimmt nicht einmal ganz, ausgelassen hat, der ohnedies nie zu gewinnen ist. Der Neue Deutsche Geist – und mit ihm Günter Grass – hat durch die fröhlichen Rotweinrunden im Kanzleramt viel verloren.
Und er gewinnt auch nichts, wenn er sich heute von einem ehemaligen IWF-Präsidenten, der ganze Staaten wie Argentinien in Not und Bankrott trieb, zum Geburtstag belobhudeln läßt. Und sich dessen freut. Weil er in den letzten Jahren »viel Häme und Niedertracht« erfahren habe, »tut es mir gut«, sagt er zu der Ehrung von Horst Köhler, »wenn meine sechs Jahrzehnte währende Arbeit anerkannt wird.« Patriot ist er geworden, der sich stolz dazu bekennt, nach einem Sieg von mutmaßlich deutschen Fußballern das Deutschlandlied gesungen zu haben.
Wer anders als der in Günter Grass transsubstanziierte Deutsche Geist denkt, wird abgestraft. Da wird ein Litereraturpreis vergeben, der Preisträger ist schon gebeten, sich den Tag für die Übergabe frei zu halten – und dann erfährt er aus der Zeitung, daß er doch kein Preisträger sein darf: Peter Handke, der deutsche Schriftsteller, der das allgemeine Kriegsgeschrei nicht mitgemacht hat. Den Heine-Preis sollte er nicht bekommen, weil er sich weigert, anzuerkennen, daß Milosevic Hitlers Widergänger sei.
»Ich lebe ungern damit, dass man Schriftstellern eine Art Genie-Bonus zuspricht, der ihnen dann erlaubt, den größten und gemeingefährlichsten Unsinn mitzumachen.« So sprach Günter Grass über Peter Handke zur Wochenzeitung Die Zeit. Und das war keine Selbstkritik.
Aber nun will ich Dank sagen, Dank Dir lieber Gerhard Zwerenz für die Laudatio, die ich nicht verdient habe, Dank der Tucholsky-Gesellschaft, für den Tucholsky-Preis, den ich dennoch erhielt. Und – diese Gelegenheit will ich nutzen: Dank an Monika, der Frau, die mich vor 44 Jahren geheiratet hat, die mich seither erträgt und unterstützt – und ohne die ich längst eingegangen wäre.
Und nicht zuletzt Dank Ihnen, meine Damen und Herren, die Sie so lang mit soviel Geduld hingenommen haben.

Otto Köhler

Gehalten am 21. Oktober 2007 im Deutschen Theater in Berlin

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Laudatio für Otto Köhler zur Verleihung des Kurt Tucholsky-Preises

Meine Damen und Herren,
die beiden heutigen Preisträger blieben mir nicht ganz unbekannt. Lothar Kusche war bereits ein reüssierter Autor der DDR-Weltbühne, als ich in den fünfziger Jahren dort mithalten durfte, und in der freien BRD wurde Otto Köhler mir bald zu einer Art Kusche-West.
Carola Stern nannte mich in ihrer Autobiographie Doppelleben, unsere Kölner Zeit betreffend, »grantig«. Ich war aber fröhlich, wenn ich sah, wie die Alten von Andersch über Böll bis Kuby von Jüngeren wie Wallraff und Otto Köhler vervollständigt wurden. Da wuchs etwas Tucholskyhaftes nach, was ich von heute nicht sagen könnte. In den Medien jungt überall Ernst Jünger.
Otto Köhlers frühe Karriere von Pardon bis zum Spiegel, wo der laut Selbstauskunft »im Zweifelsfall linke Augstein« das »Sturmgeschütz der Demokratie« bediente, führte den jungen Journalisten wegen »Unternehmensfeindlichkeit« bald ins »freundliche Feuer«. Otto im Jahr 2002 in seiner berückenden Spiegel-Herausgeber-Biographie: »Ich habe mich gefreut, als mich Augstein 1966 als Kolumnisten zum Spiegel holte, ich habe mich gegrämt, als er mich 1972 entließ.« Das geht ans Herz, aber: Gräm dich nicht, Otto, wärst du im Hamburger Magazin verwittert, würde es vielleicht den Konrad-Adenauer-Preis, aber keinen Tucholsky-Preis für dich geben.
Otto Köhler, Jahrgang 1935, war als Schüler ein junger, naivgläubiger Hitlerjunge. Das ging vielen so. Heute wird gern von der Flakhelfergeneration gesprochen als sei diese selbstverschuldet. Wer produzierte deutsche Flak und verdiente daran? Als Zehnjähriger war Otto 1945 für die Flak noch zu klein. Es kommt aber darauf an, was einer später aus sich macht. Die einen schießen ohne Flak weiter. Andere mit Augsteins verbalem Sturmgeschütz. Nehmen wir das Beispiel Elisabeth Goebbels, die in Ossietzky Heft 8/ 2007 aus ihrem Liebesleben berichtet. Überschrift: »Ich, Adorno und Speer.« Sie verabscheut Adorno, der sie nicht nur mit seinen »eiskalten Augen« bedrängte, seiner eigenen Frau Liebhaber beschaffte und in intimen Dingen »widerwärtig« war. Elisabeth träumte vom charmanten Albert Speer, wachte auf und besuchte ihn, seinen Hang zur Autobiographie bestärkend, was, wie wir wissen, Joachim Fest illuminierte. Und sie erklärte Hanns-Martin Schleyer den furchtbaren Wertewandel infolge Adorno und der 68er Bewegung, wobei Schleyer ihr entsetzt und »fassungslos, mit offenem Munde« zuhörte. Was er als SS-Banause 1933 an der Heidelberger Universität bewirkt, was er als deutscher SS-Held und Industrievertreter im besetzten Prag angerichtet und später verschwiegen hatte, war offenbar kein vergleichbarer Wertewandel. Im übrigen beriet Elisabeth Adenauer und Kohl sowie die FAZ und trägt das Große Bundesverdienstkreuz. Ist das nun eine Erfindung von Otto Köhler? Nein, er erfindet nichts, sondern zitiert aus Noelle-Neumanns originalen Erinnerungen. Otto Köhler, als Kind Nazi-Lehrern ausgeliefert, fragt, was wurde aus den Lehrern? Und warum Elisabeth Goebbels statt Frau Noelle? Warum nicht, wenn es um die Jahrzehnte langen Allensbacher Häppchen im mainischen Kapitalanzeiger geht. In ihrer Dissertation schon hatte Elisabeth sich artig beim Unterstützer Goebbels bedankt. In der Anmerkung erläutert Otto nachsichtig: »Die jetzt Neunzigjährige leidet seit frühester Kindheit unter Engelserscheinungen, glaubt fest an die Astrologie und wähnte, schon mehrfach gelebt zu haben, unter anderem in Ägypten, mutmaßlich als Nofretete.« Von braven Meinungsforschern wird eben erwartet, dass sie schon im alten Ägypten den Staat samt Gottheiten vertraten wie Sieburg das Dritte Reich und Frank Schirrmacher den Papst gegen den Islam. Da sind unsere Kapitalkameraden schlicht konservativ, und so kehrt der FAZ-Lemurenklub im Schatten Noelle-Neumanns mit fliegenden Fahnen zu seinen heroischen Vorfahren von Ernst Jünger bis Carl Schmitt, Heidegger und Gottfried Benn zurück. Gegen diese präfaschistischen Kopfgeburten schrieb schon Tucholsky vergeblich an, heute begegnen wir ihnen fortwährend im feuilletonistischen Medienmarathon. Man kriegt die Sentiments der künstlich beatmeten Ganz- und Halbnazis seitenlang portionsweise geboten. 25 Prozent der Deutschen meinen, das Dritte Reich habe auch seine guten Seiten gehabt, wie dem Stern zu entnehmen ist. Dieses Umfrage-Resultat wundert nicht bei einer Presse, die das Nazimitläufertum hofiert und den leidvollen antifaschistischen Widerstand verunglimpft. Laut Frank Schirrmacher am 10. Oktober 2007 im FAZ-Leitartikel zur Frankfurter Buchmesse war Ernst Bloch »ein Mystiker, der leider später ins rote Prophetentum abglitt«. Wäre er wie Schirrmachers Vorvorgänger Friedrich Sieburg ins braune Proselytentum abgeglitten, hätte er heute eine bessere Presse, die haben nach wie vor die umlackierten Heldenkerle, sie zogen 1918 wie 1945 geschlagen nach Haus, die Enkel fechten’s heute noch dümmlicher aus. Vonwegen man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Unsere Meisterschwimmer schaffen es dreimal.
Was Tucholsky in seinem Satireband Deutschland, Deutschland über alles, den der damalige Börsenverein übrigens mit allen Mitteln zu boykottieren suchte, für den Übergang vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg diagnostizierte, belegt Otto Köhler für den dritten Akt der Katastrophe, die zu befürchten steht, wenn die Klassen- und Kriegsherrschaft eskaliert. Tucholsky: »Wir sind zu lange still gewesen. Wer hat auf uns Rücksicht genommen? (…) Gäbe es irgendwo eine Gruppe junger Menschen, die antifaschistisch sind, so wollte ich wohl mittun.«
So etwas wird bei uns immer erst nach der jeweiligen Niederlage wahrgenommen. Neulich rechnete die FAZ mit den SS-Offizieren und Judenjägern im BKA erstaunlich radikal ab und sagte auch warum: Die alten Kameraden sind inzwischen verstorben. Solange die braunen Typen in Amt und Würden lebten, überließ man die Distanzierung anderen. So schrieb Otto Köhler z. B. über SS-Hauptsturmführer Theo Saevecke, bei der Bonner Sicherungsgruppe staatsbeamtet und versichert, obwohl in Turin zu lebenslänglich verurteilt.
Ich sage Köhler und meine Otto, nicht Horst. Wäre Otto Horst, setzte es Reden mit Substanz. Warum wurde Horst Bundespräsident und nicht Otto? Der dürfte nicht mal nach dem dritten verlorenen Weltkrieg.
1961 freute er sich als Berliner Student, als neben dem Publizistik-Professor und Hitler-Lobredner Dovifat die damals 44jährige Leiterin des Allensbacher Instituts Vorlesungen hielt. Es war aber keine Alternative. Nachzulesen in Köhlers Buch Unheimliche Publizisten, Untertitel: Die verdrängte Vergangenheit. Die Verdrängung begann schon zu Weimars Zeiten. Warum wurden Tucholsky und Ossietzky nicht in der Frankfurter Zeitung gedruckt? In einer kleinen Glosse für die Zeitschrift Ossietzky notierte ich vor Zeiten: Stell dir vor, wir hätten in Deutschland keine Zensur. Eckart Spoo gäbe die Bild-Zeitung heraus, Otto Köhler leitartikelte in der Welt und Dietrich Kittner dürfte regelmäßig in der ARD auftreten.
Stell Dir vor, Tucholsky hätte sich nicht das Leben genommen, die Bundeswehr klagte ihn wegen »Soldaten sind Mörder« an und Rolf Gössner verteidigte unseren Mann vorm Reichsgericht.
Stell dir vor, Hitler hätte sich schon 1933 erschossen, und Hindenburg verschenkte seinen Helm samt Bart an das präsidiale Sprachgenie Horst Köhler. Stell dir vor, Hitlers Mama hätte ihn abgetrieben, dann wäre Joachim Fest arbeitslos geblieben mit Hartz IV und Albert Speer spielte sein Leben lang im Kölner Karnevals-Dreigespann die Jungfrau. Stell dir vor, das alles stünde im einem FAZ– Artikel und stammte von mir. Dann gäbe es sogar Honorar dafür.
Das ließe sich noch konkretisieren. Warum wurde Adenauer Kanzler und nicht Martin Niemöller? Warum wurde Heuss Bundespräsident und nicht Adorno, Kogon, Gollwitzer, Abendroth, Bloch? Schaffte es aber mal ein Gustav Heinemann in Ministerämter, gab’s dort bald danach die Bleisoldaten Schily, Scharping, Fischer, Jung, Schäuble. Das sind Tornados statt Friedensdividenden. Wie wäre es mit Otto Köhler als Verteidigungsminister? Nähme man wenigstens den Eppelmann, der hat Erfahrung im Auflösen von Armeen. In Paranthese: Im Moment wird öffentlich angeregt, gegen den früheren Terroristen Rolf Clemens Wagner erneut zu ermitteln, weil er die Entführung Schleyers als richtig bezeichnet. Für einen Tucholsky-Pazifisten handelt es sich um den permanenten Konflikt zwischen zwei bewaffneten Fraktionen im Weltbürgerkrieg. Wagner bereut nicht? Hat Schleyer bereut? Tucholskys Pazifismus hält zu allen Schießprügeln Abstand, egal ob SS oder RAF. Notfalls hilft Matthäi 26/52: » … denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.«
Eben erst, am 13. Oktober 2007 war in der FAZ zu lesen, für das »Scheitern der Weimarer Republik« seien »Ernst Jünger und Kurt Tucholsky verantwortlich zu machen.« Der ehemalige FAZ-Redakteur Friedrich Karl Fromme wusste schon 1986, dass »Tucholsky (…) zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen hat«. Noch früher, am 10. Mai 1933, wussten es die Bücherverbrenner: »Gegen Frechheit und Anmaßung – für Achtung und Ehrfurcht vor dem deutschen Volksgeist – ins Feuer mit den Büchern von Tucholsky, Ossietzky …«
Im Klartext: Hätte das Deutsche Reich im 20. Jahrhundert nicht über Soldaten und Kanonen verfügt, wären Millionen von Menschen am Leben geblieben. Dazu hätte man statt Ernst Jünger jedoch Tucholsky lesen müssen. Lesen wir heute Tucholsky und Lothar Kusche und Otto Köhler!

Gerhard Zwerenz

Gehalten am 21. Oktober 2007 im Deutschen Theater in Berlin