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Allgemein Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Zum Tod von Inka Bohl

Die Jury für den Kurt-Tucholsky-Preis und die Kurt Tucholsky-Gesellschaft beklagen den Tod von Inka Bohl.
Inka Bohl war in der Literaturszene vor allem durch die Fachzeitschrift für Literatur und Kunst Der Literat bekannt, die als Organ des hessischen Landesverbandes Deutscher Schriftsteller seit 1958 herausgegeben und 1988 von Inka Bohl erworben wurde. Unter ihrer Verlagsleitung und Redaktion wurde Der Literat zu einem produktiven und streitbaren Fachblatt, in dem Literaten aus West und Ost – auch mit gegenteiligen Auffassungen – zu Wort kamen.  In den Jahren 2000 – 2008 wurde Der Literat in Berlin herausgegeben, im Jahre 2008 jedoch eingestellt.
In der Jury war Inka Bohl ein äußerst sachkundiges, einfühlsames und engagiertes Mitglied. Sie prüfte alle vorgebrachten Argumente und nahm sich die Zeit, sich auch mit solchen Editionen und Publikationen von Preiskandidaten zu beschäftigen, die nicht zur Preisbegründung vorgelegt wurden, und sie war aufgeschlossen für alle Hinweise, die der gründlichen Beurteilung der Arbeit und der Persönlichkeitsbewertung von Autoren dienen konnten.
Inka Bohl war ein stets zuverlässiges Jurymitglied. Ihre Freundlichkeit, ihre Aufgeschlossenheit und ihr Humor werden mir fehlen.

Wolfgang Helfritsch

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Allgemein Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kusche für immer – Zum Tod von Lothar Kusche

Lothar Kusches Glossen und Schnappschüsse erschienen häufig als Taschenbücher, und das war gut so. Sein erstes bb-Taschenbuch wurde 1960 unter dem Titel »Nanu, wer schießt denn da?« herausgegeben.
Es lohnte sich, seine lockeren Weisheiten in der Akten- oder Westentasche mit sich zu führen und im Tagesverlauf ab und zu einen verstohlenen Blick hineinzuwerfen. Darüber hinaus bürgten seine nüchternen Ideenspritzer und Schnapsideen auch im Eulenspiegel und in der Weltbühne für Originalität, egal, ob der Autor sich mit seinem eingetragenen Namen outete oder sich in seinen Mantel vornamens Felix  verzog. Nun ist der ehemalige dienstälteste DDR- und spätere bundesdeutsche Satiriker dahingegangen, und das tut weh, obgleich wir schon lange von seinem angeschlagenen Gesundheitszustand wussten. Er litt wohl selbst am meisten darunter, dass ihm das Schreiben nicht mehr wie gewollt von der Hand ging.
Lothar Kusche diente schon beim Eulenspiegel-Vorgänger Frischer Wind, schrieb für die Weltbühne und brachte nachfolgend die Ossietzky-Leser mit seinen  Beobachtungen und Texten zum Schmunzeln und Abnicken. Als Distel-Autor glossierte er Erscheinungen, die jeder kannte, für deren Dramatisierug aber manchem der Mut fehlte.
Ich erinnere mich an eine Szene, die ich in den 60er Jahren gesehen habe, als die Sowjetunion in ihrer Vorbild-und Beispielwirkung noch unantastbar war: Eine Delegation aus dem Brudervolk wird auf dem Flughafen Schönefeld (das werden Sie nicht mehr wissen, den gab es damals schon)  überschwenglich empfangen und ob ihrer Beispielleistungen auf allen Gebieten über den grünen Klee gelobhudelt. Im Hintergrund flattert die Losung »Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!« über das Flughafen-Areal. Die Gastgeber überbieten sich mit Bewunderung, bis es dem Delegationsleiter zu viel wird.  »Wissen Sie, werter Genosse,« fragt er den Chef des Empfangskomiteés, »was Sie vor allem lernen sollten? Aufrichtigkeit!« Das war ein Tabu-Bruch.
Lothar Kusches Zugehörigkeit zur Tucholsky-Gesellschaft war logisch, und seine Ehrung mit dem Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2007 war mehr als verdient. Das traf für den Heinrich-Heine-Preis im Jahre 1960 auch schon zu, und vielleicht ist es fast symbolisch, dass sein Lebenswerk von Heine und Tucholsky als Namensgebern seiner Ehrungen geradezu eingerahmt wurde.
Er war ein verschmitzter, guter Beobachter. »Kollege P. hat seit gestern einen Pickel,« bemerkte er in einer Groteske. »Aber er ist sich noch nicht ganz sicher, ob dieser als Stoff für eine neue literarische Arbeit ausreichen wird.«
Wenn er im Cabinett oder anderswo um die Jahrtausendwende las, zuckte sein Spitzbart voller Mitfreude. Wenn er seine Glosse über die Herstellung der originalen märkischen Reiblinge vortrug, blieb kein Auge trocken.
Nun hat er sich selber in die Phalanx der unvergesslichen märkischen Reiblinge eingebracht.
Seine Ideen und unsere jährlichen Begegnungen zu Ossietzkys Geburtstag in der Ossietzky-Redaktion werden uns fehlen.
Lebend wäre er uns lieber, aber richtig totzukriegen ist Felix Kusche nicht.

Wolfgang Helfritsch

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2016 Rundbriefe

Rundbrief August 2016

Liebe Mitglieder und Freunde der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
der neue Rundbrief August 2016 ist erschienen.
Sie können ihn hier (ohne Vereinsinterna) als pdf herunterladen.
Ausgewählte Beiträge sind zudem direkt als Einträge im Blog zu lesen:
[Presseschau] Tucholsky im Spiegel
[Nachruf] Gerhard Kraiker (1937-2015)
[Rezension] Helmut Duffner: Himmler im Tunnel
[Rezension] Kurt Tucholsky: Seifenblasen
[Rezension] Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg
[Bericht] Schwarzwaldmuseum in Triberg wirbt mit Tucholsky
[Originaltext] Theobald Tiger: Europa

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief August 2016 Rundbriefe

Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg

barth-orig300Boris Barth ist Professor für Neuere und Neueste Ge­schichte an der Universität Konstanz. Nach Büchern über die deutsche Au­ßenpolitik vor 1914 aus dem Jahre 1995, einer Arbeit zur deut­schen Niederlage 1918 und der Fol­gen in der Zeit bis 1933 aus 2003 und einem 2006 er­schienen Titel über Völkermord im 20. Jahrhundert, stellt er nun einen Band vor, der mit dem Unterti­tel »Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918-1938« das Thema be­nennt.
Barth beschäftigt sich, unter breiter Nutzung der außerordentlich umfangrei­chen Literatur über die anstehenden Sachverhalte, mit den Fol­gen, die der Aus­gang des Ersten Weltkrieges den europäischen Staaten bescherte. Trotz des er­kennbar wissenschaftlichen Anspruchs (722 Fuß­noten am Ende des Textes und einer sehr breiten Literaturliste) bleibt der Text gut les- und verstehbar für den historisch interessierten Laien.
An eine Einführung, die den Weg zu mehr Demokratisierung und Parlamentari­sierung im 19. Jahrhundert, einen Aufriss der Probleme nach 1918 und die Be­deutung des Ersten Weltkrieges und seiner Folgezeit be­schreibt, schließt Barth sechs Themenblöcke an, mit denen er den zu behandelnden Stoff systemati­siert. Das sind »Die Pariser Weltordnung«, »Paramilitärische Gewalt und Kriege nach dem Krieg«, »Politische Ethni­sierungen und Vertreibungen«, »Die unzu­längliche ökonomische Rekon­struktion«, »Der Kampf um die Staatsform« und schließlich »Die Offensi­ve gegen den Parlamentarismus«.
Bei dem ersten Problemfeld, der Friedensordnung, wird gerade uns Deutschen klar, dass es außer dem am 28. Juni 1919 unterschriebenen ›Versailler Vertrag‹, der das Deutsche Reich betraf, noch vier weitere Verträge, nämlich die mit Ös­terreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei, verhandelt wurden. Alle fünf Verträ­ge gemeinsam sollten eine neue Weltordnung einleiten.
Barth schaut bei seiner Betrachtung auf die jeweils verschiedenen Ein­zelstaaten und beschreibt die differenten Lösungs- (oder Nichtlösungs)-Ansätze; dabei im­mer an einem der oben genannten Problemfelder orientiert. Eine recht positive Bewertung erfährt dabei generell das schwedische Modell des sozialdemokrati­schen Wohlfahrtsstaates.
Ein Problem dieser Art der Querschnittsbetrachtung liegt darin, dass bei Sicht auf ein Einzelland natürlich nur der jeweilige Fragezusammenhang diskutiert wird und so eine kontinuierliche nationale Sicht nicht möglich ist. Das liegt aber in der Natur dieser Darstellungsweise und weitet den Blick auf unsere verschie­denen Nachbarn.
Auch die Staaten, die nicht in das Kriegsgeschehen eingegriffen hatten, waren umfassend mit den Kriegsfolgen beschäftigt. Die Inflation, die Fi­nanz- und Ban­kenkrise, eine weit reichende Agrarkrise (eher selten the­matisiert), der wach­sende Nationalismus und die Weltwirtschaftskrise berührten naturgemäß alle Staaten (mehr oder weniger).
In seinem knappen Fazit analysiert Barth, dass vor allem die Nachkriegs­kämpfe zwischen 1919 und 1921/22 die Lage instabil hielten. Ein radika­lisierter Natio­nalismus, der die Ethnisierung ganzer Bevölkerungsgrup­pen betrieb,

löste wiederum massive Vertreibungen und Fluchtbewegungen aus. […] Flüchtlinge und Vertriebene trugen nicht nur zur Destabilisierung von par­lamentarischen Systemen bei, sondern konservierten auch in er­heblichem Maße revanchistisches und teilweise rassistisches Gedanken­gut. (S. 294 f.)

Diktaturen, die sich in der besprochenen Zeit herausgebildet haben, sind nicht wegen der besonderen Anziehungskraft der Persönlichkeiten der Diktatoren entstanden, sondern wegen der Schwäche der Demokratie.

Überall, wo derartige starke Parteien [wie z.B. in Schweden oder in GB] weiter existierten, überlebte auch die Demokratie. (S. 295)

Ein lesenswertes Buch, das gerade in dieser durch territoriale, ethnische und religiöse Konflikte und Kriege, große Migrationsbewegungen und internationa­len Terrorismus gekennzeichnete Zeit nachdenkenswerte In­formationen bietet. Viele Fehler im Umgang mit Anderen und uns Selbst sind im 20. Jahrhundert bereits schon einmal gemacht worden und wir sollten uns unbedingt daran er­innern und daraus lernen.

Klaus Leesch

Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg. Campus Verlag. Frankfurt/Main 2016, 361 Seiten, gebunden, 34,95 €. ISBN: 978-3-593-50521-3
Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2016 Rundbriefe Tucholsky im Spiegel

Tucholsky im Spiegel [August 2016]

Diesmal beginnt die wie immer keinesfalls vollständige Übersicht mit einem Ar­tikel im Wochenblatt für Landwirtschaft & Landleben, Heft 20, vom 20. Mai 2016, auf dessen Titelblatt die geneigte Leserin mehre Schweine verträumt bis ver­liebt anschauen – also nix für Vegetarier- oder Veganerinnen. Und was hat Tucholsky mit Schweinen zu tun? Natürlich nichts, außer – was wissenschaft­lich-historisch wohl (noch) nicht belegt ist – dass er möglicherweise gerne Schweinefleisch aß.

Jedenfalls findet sich auf Seite 98, die den thematischen Titel »Westfälische Köpfe« trägt, ein Artikel von Gisbert Strodress mit der Überschrift: »Er hat ein­fach drei Augen« und dem Untertitel »Der Fotograf Albert Renger-Patzsch (1987-1966) begann seine Karriere in Hagen und lebte mehr als zwei Jahrzehnte in Wamel am Möhnesee«. Im Text heißt es dann u. a.:

Einem größeren Publikum ist Renger-Patzsch nicht wegen seines Eintre­tens für Bäume und naturnahe Seeufer bekannt, sondern wegen seiner bahnbrechenden Art zu fotografieren. Seit den 1920er Jahren hatte er das »Licht-Handwerk« zu einer eigenständigen Kunstgattung weiterentwi­ckelt. Der Publizist Kurt Tucholsky nannte ihn seinen »Lieblingsmaler« […] Der Publizist Kurt Tucholsky schrieb, Renger-Patzsch sei kein »süßlicher Frauenfotograf, kein ›Malerischer‹, kein Stilfatzke – der Mann hat einfach drei Augen: zwei im Kopf, mit denen er den Bildausschnitt sieht und die Linse im Kasten.

Unser Mitglied Karl-Heinz Meilwes aus dem bäuerlich-landwirtschaftlich ge­prägten Vorort Mindens mit dem völlig assoziationsfreien Namen »Todtenhau­sen«, der diese Fundstelle eingesandt hat, hat recherchiert und herausgefun­den, dass Tucholsky in einem am 16. Oktober 1927 in der Vossischen Zeitung erschienenen Artikel über eine kleine Ausstellung von Fotografien in Paris be­richtet und in diesem Zusammenhang auch den Namen Renger-Patzsch er­wähnt.1

Die Tucholsky in dem obigen »Schweineblatt« – dies ist ausnahmsweise und ausdrücklich nicht despektierlich gemeint – zugeschriebenen Äußerungen über Renger-Patzsch finden sich allerdings nicht in diesem Zeitungsartikel, sondern in: Peter Panter, Weltbühne v. 18.12. 1928, »Das schönste Geschenk«2. Bei die­sem Artikel handelt es sich um eine Besprechung des bei Kurt Wolff in Mün­chen erschienenen Bildbandes von Renger-Patzsch »Die Welt ist schön«. In die­ser Besprechung heißt es neben den obigen Zitaten u. a.:

Nun liegt endlich von meinem Lieblingsphotographen Alber Ren­ger-Patzsch ein Band mit hundert Photos vor […]. Das ist das Beste vom Bes­ten. […] Von diesem Buch kann man schwer loskommen. […] Am schönsten sind die Pflanzen und die Aufnahmen, auf denen nichts ist als Stoff, Masse, Körper – das, was man anfassen kann, was man mit den Sinnen wahrneh­men, spüren, streicheln kann. Wollbündel und Schuhleisten, kleine Näpf­chen und Holz – die Materie ist so beseelt; das hat wohl noch nie ein Pho­tograph fertig bekommen. […] Renger-Patzsch hat uns zu Weihnachten das schönste Buch von allen geschenkt.

Ganz ärgerlich ist dagegen die nächste »Fundstelle«. Ein aufmerksamer Berliner Bürger hat uns voller Empörung einen Flyer von »BärGiDa e.V. i.G« zugeschickt, den er zufällig am 21. Juni 2016 am Bahnhof Friedrichstraße (U-Bahn) gefunden hat. Dieser Flyer ruft zu einer montäglichen Demonstration auf, in der gegen die Islamisierung Deutschlands und die Asyl- und Flüchtlingspolitik der Bundes­regierung protestiert (ehrlicher wäre wohl: gehetzt- [B. B.]) werden soll. Infa­merweise ist folgendes Zitat abgedruckt:

»In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist als viel ge­fährlicher, als derjenige, der den Schmutz macht.« Kurt Tucholsky

Vor falschen Freunden kann man sich halt nicht schützen.

Wir haben dem Einsender als Dank das von unserer Gesellschaft herausgegebe­ne Buch: »Kurt Tucholsky. Die Zeit schreit nach Satire« geschenkt.

Ralph Hartmann beginnt seinen Artikel über die aktuelle Situation in der Ukrai­ne in Ossietzky, Nr. 13, 18. Juni 2016, S. 477, mit der Überschrift: »Lerne Lachen ohne zu weinen« und endet auch mit diesem Buchtitel unseres Namensgebers:

Und im Februar 2016 versprach Präsident Poroschenko erneut eine Rück­gabe derSchwarzmeer-Halbinsel Krim und Sewastopols an die ukraini­schen Bürger. Dieser »schwierige und aussichtsreiche Prozess« habe be­reits begonnen. Ob ihmAnders Fogh Rasmussen diese Zuversicht eingeflö­ßt hat? Mittlerweile ist derehemalige NATO-Generalsekretär, einer der übelsten Scharfmacher in der Heerschar der Russophoben, »Sonderbera­ter« des ukrainischen Präsidenten. Darüber kann schon nicht mehr gelacht werden, oder man hält sich an den Titel des 1931 erschienenen letzten Bu­ches von Kurt Tucholsky: »Lerne lachen ohne zu weinen.«

Leider ist die tageszeitung (taz) aus Berlin innerhalb von vier Tagen zweimal ei­nem Irrtum erlegen und hat ein erneutes Beispiel für die missliche Tatsache der falschen Zitatzuschreibung geliefert.

In der Ausgabe vom 14. Juli 2016 befasst sich Johanna Roth auf Seite 14 unter der Überschrift »Lass das mal den Siggi machen«, mit der Rolle von Wirt­schaftsminister Sigmar Gabriel bei der Fusion der Supermartketten EDEKA und Kaiser’s Tengelmann und vergleicht den Vizekanzler mit »Stromberg« aus der gleichnamigen ProSieben-Serie.

Man schämt sich fremd bis zum Anschlag, muss aber trotzdem hysterisch kichern – hauptsächlich deswegen, weil jeder auch im echten Leben so einen Stromberg kennt. Der sich durchs Leben tölpelt und beim Lachen grunzt. Vor allem aber verkörpert Stromberg eine große Tucholsky-Wahr­heit: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Nur eben, dass er es selbst hauptsächlich gut mit sich selbst meint.

Vier Tage später, in der Ausgabe vom 18. Juli 2016, S. 14, setzt sich Nemi El-Hassan in ihrer Kolummne »Hilfe, ich bin weiß. Wie schief es gehen kann, wenn man es ›nur gut‹ meint und sich mit denen solidarisieren will, die Rassismus er­leben« mit einer falsch verstandenen Solidarität einer deutschen Christin, weiß und gebildet, auseinander.

Meistens meinen Weiße es tatsächlich »nur gut« und wollen sich mit denen, die Rassismus ausgesetzt sind, solidarisieren. Dabei vergessen sie allerdings den gesellschaftlichen, historischen und politischen Kontext von Rassismus. Hautfar­be zählt, sehr sogar. Ein Kopftuch auch. Anders als ein Kreuz am Hals. Kurt Tucholsky sagte übrigens einmal: »Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.«

»Spezialist« für falsche Zitatzuschreibungen ist nach wie vor unser Mitglied Friedhelm Greis, der schon vor Jahren einen Buchpreis ausgesetzt hat, falls je­mand für die von ihm gesammelten Falschzitate eine Fundstelle in Tucholskys Lebenswerk finden sollte (siehe insoweit auch: Sudelblog.de – Das Weblog zu Kurt Tucholsky)3

Mein Dank gilt diesmal Karl-Heinz Meilwes aus Minden-Todtenhausen. Sämtli­che Artikel sind wie immer über die Geschäftsstelle abrufbar.

Bernd Brüntrup

Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

1»Altes Licht« in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 9, [T 137], S. 544-547

2Tucholsky Gesamtausgabe Band 10, [T 221], S. 622f.

3Siehe hierzu die auf Friedhelm Greis‘ Arbeit aufbauende Rubrik auf der Website der Kurt Tucholsky-Gesellschaft.

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2016 Rundbriefe

Gerhard Kraiker (1937-2015)

Prof. Dr. Gerhard Kraiker, Historiker von Rang, packender Redner, langjähriges KTG-Mitglied und letzter verbliebener Herausgeber der Tucholsky-Gesamtaus­gabe, ist am 22. November vorigen Jahres gestorben. Er ist vorher längere Zeit krank gewesen und hatte gerade eine schwere Operation hinter sich. Nicht nur seine Frau Gisela, auch die gesamte KTG wird Gerhard Kraiker schmerzlich ver­missen.

Man muss sich nur in die chaotische Verlagspolitik der späten Raddatz-Jahre zu­rückdenken, um die Verdienste von Dirk Grathoff, Antje Bonitz, Michael Hepp and eben Gerhard Kraiker angemessen zu würdigen. Mehr als 50 Jahre nach Tucholskys Tod erschienen Gesammelte Werke, bei denen ein Viertel des Ge­samtwerks, darunter manche sehr wichtige Artikel, einfach fehlten. Raddatz hatte diese Unterlassungssünde wohl eingesehen, ließ häppchenweise Ergän­zungsbände nachdrucken, zog sich dann aus der Arbeit zurück und ließ bessere Nachwuchskräfte heran. Endlich entstand eine kommentierte Ausgabe, die wis­senschaftlichen Ansprüchen genügte.

Als Mitglied des Herausgeberteams konnte er auch streng kritisieren, wenn es not tat, das weiß ich aus Erfahrung. Aber er zeigte deutlich, wie man es besser machen konnte und sollte. Darauf kam es an, man lernte etwas dabei.

Auch als Vortragender ein Experte, der nicht trocken und besserwisserisch do­zierte, sondern gut über die Rampe kam. Ich erinnere mich an einen packenden Vortrag 1998 im Kornhaus in Weiler, es ging um Tucholskys Verständnis von politischer Führung. Er kannte sich eben aus.

Die Gesamtausgabe war der entscheidende Schritt nach vorn für die Tucholsky-Forschung. Gerhard Kraiker und seine KollegInnen machten es möglich, suchten Band-Herausgeber aus, ermutigten und tadelten sie, freuten sich über Gelunge­nes. In der St Pauls-Kathedrale von London steht ein lateinischer Satz über ih­ren Erbauer Sir Christopher Wren: Si monumentum requieris, circumspice. Wenn Du sein Denkmal suchst, schaue um Dich. Die Gesamtausgabe war für alle vier Herausgeber das passende Denkmal. Wir sind traurig, dass sie von uns gegangen sind. Wir sind aber stolz, sie gekannt zu haben. Wir sprechen Gisela diese Trauer und diesen Stolz aus.

Ian King

Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief August 2016 Rundbriefe

Helmut Duffner: Himmler im Tunnel

Helmut Duffner Himmler im Tunnel CoverDie Frage: »Was will uns der Autor damit sagen?«, wird immer dann gestellt, wenn der Leser eines Artikels oder eines Buches mit dem Geschriebenen nicht so ganz klar kommt.
Vor mir liegt ein hübsch gestaltetes Buch von Helmut Duffner mit dem Titel »Himmler im Tunnel« und dem Untertitel »Geschichten aus dem Schwarzwald«. Das hört sich nach Vergangenheit an und nach Bekanntem. So ist vor Jahren schon der Gremmelsbacher Heimatforscher Karl Volk dem zeitweisen Aufenthalt des ehemaligen Reichsfüh­rer SS, Heinrich Himmler, im Zweiten Weltkrieg in Triberg nachgegangen.
Dass dann noch die Besuche des Berliner Satirikers Kurt Tucholsky in Nußbach* und des späteren Nobelpreisträgers Ernest Hemingway in Triberg während der Wei­marer Republik sich in diesem Buch wiederfinden, gehört zum Thema. Dann aber wird es ganz persönlich, denn Helmut Duffner greift nun auf eigenes Erle­ben und das von Zeitzeugen während des Weltkriegs im Bereich Nußbach, Schwenningen und Löffingen zurück.
Und das leider recht ungeordnet, denn die Titelgeschichte befindet sich z.B. erst auf Seite 117. Dass Helmut Duffner in Schwenningen aufwuchs, sein Vater Karl der Bruder des in Nußbach lebenden und bei der Eisenbahn arbeitenden Eugen Duffner ist, erfährt man eher neben­bei nur bei ganz akribischem Lesen. Schade eigentlich, denn das Buch ist ein Sammelsurium von interessanten Fakten und liebevoll zusammen getragenen Recherchen.
Allerdings ärgert Hemingway-Freunde, dass der Amerikaner mit Frau und Freunden im Wehrle in Triberg wohnte. Biografen verorten ihn im ehemaligen Löwen, heute Sparkassengebäude am Marktplatz. Was will uns Hel­mut Duffner, der in Moers lebt und schon zwei weitere Bücher heraus gab, nun mit seinem Werk sagen?
Nun, dass er seiner alten Heimat verbunden ist und die unsäglichen Mühen und Taten des zweiten Weltkrieges vor dem Vergessen bewahren will. Somit gehört das Duffner-Buch besonders in die Hände der Hei­mat- und Geschichtsvereine der Region.

Renate Bökenkamp

Helmut Duffner: Himmler im Tunnel. Geschichten aus dem Schwarzwald. Moers 2016, 147 Seiten. Festeinband. 10,90 € ISBN 978-3-00-052793-7
*siehe Brief an Mary Gerold vom 19.8. 1919 (Tucholsky GA Bd. 17, [B 37], S. 68 ff.)
Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

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Kurt Tucholsky: Seifenblasen

»Hänschen klein / ging allein / wollte gerne Gretchen sein …«1

seifenblasen-orig300Tucholskys Film-Travestie Seifenblasen von 1931 zum Nachle­sen.

Auch, wenn heute in Film, Literatur und Sozialwissenschaft der Begriff Transgender häufig eine Rolle spielt, so ist das Phäno­men, das er bezeichnet, nicht neu. Das Spiel mit den Ge­schlechtern, das Verkleiden, waren schon vor Tucholskys Zeiten bekannt – mal gesellschaftlich geächtet und mal akzeptiert. Travestien von Transvestiten wa­ren als Bühnengag schon vor dem 1. Weltkrieg in Cabarets und Varietés beliebt.

Peter Panter, bekanntlich in platonischer Liebe zur Kabarettistin Gussy Holl ent­flammt, schilderte 1913 einen Auftritt der Künstlerin als »Damenimitatorin«:

Aber die Höhe ist doch: die Imitation eines Damenimitators. Die Frau fühlt, wie unendlich weit es immer noch ist von jedem Mann, und sei er der wei­bischste, bis zu ihr. Wie diese Kluft doch nicht zu überspringen ist. Und so macht sie sich über die vergeblichen Anstrengungen eines Gegners lustig, den sie ja allerdings nicht mehr als Mann anerkennt, aber der doch nur ein amüsantes Zwischending ist, beileibe keine Frau. […] Am Schluß ein herrli­cher Zug: sie reißt sich anstatt der Perücke triumphierend den »Shinjong« aus und hält jubelnd die Trophäe ihrer Mannheit hoch.2

Daran muss er sich erinnert haben, als Peter Panter zu Beginn der Tonfilmzeit von Nero-Film den Auftrag für das Szenarium zu einer Filmkomödie erhielt. Ide­engeber war der der Nero-Regisseur G.W. Pabst, der als Hauptvertreter der »Neuen Sachlichkeit« im Film kein besonderes Verhältnis zu heiteren Stoffen hatte (aber mit dem Henny-Porten-Schwank Skandal um Eva seine leichte Hand bewies). Peter Panter schrieb also ein ausführliches Filmexposé von Barbara, ei­nem »Fräulein Nummer« am Varieté, das als Damenimitator zu einem umjubel­ten Star wird, in den sich viele Frauen verlieben – Frauen und ein Mann, der auf einem Wochenendausflug entdeckt, was es mit ihr auf sich hat. Dazu kommt noch eine etwas weit hergeholte Kriminalgeschichte.

Panter-Tucholsky zeigte in seinem Filmtext, daß er durchaus filmisch denken konnte. Bei ihm spielte die moderne Technik in Gestalt von Telefonen eine Hauptrolle. Er entwickelte für den damals noch ganz neuen Tonfilm bereits in seinem Szenarium dramaturgisch begründete Geräusch-Collagen. Dazu griff er auf seine Stärken zurück, den Mutterwitz und den Einsatz zahlreicher Chan­sons. Wenn die Igel in der Abendstunde, war beispielsweise für diesen Film vor­gesehen.

Tucholsky-Kennern ist diese Filmerzählung, die tatsächlich in der KT-Gesamt­ausgabe3 erstmals veröffentlicht wurde, spätestens seit der Jahrestagung über Tuchos Verhältnis zu den Medien 2005 ein Begriff. Ganz so sensationell ist also die Entdeckung des Rowohlt-Verlags nicht, aber immerhin ist es die erste Ein­zelpublikation dieses Textes. Michael Töteberg hat dazu ein Vorwort geschrie­ben, in dem er Tucholskys schwieriges Verhältnis zum Medium Film noch ein­mal referiert. Als 23jähriger hatte er für die Schaubühne erste Filmkritiken ver­fasst, in denen er dem Stummfilm mehr als kritisch gegenüberstand. Allerdings anerkannte Tucholsky schon damals technische Finessen, die nur im Film mög­lich waren und revidierte sein abschätziges Urteil über das Genre nach dem Kriege mehr und mehr – was bei Töteberg etwas zu kurz kommt.

Bekanntlich wurden die Seifenblasen nicht realisiert, möglicherweise, weil der einzig interessierte Regisseur Pabst die Nero-Film 1932 verließ. In einem seiner Schnipsel zeigte sich der Autor enttäuscht:

Es war einmal ein Vertrag zwischen einer Filmgesellschaft und einem Au­tor, der wurde von der Gesellschaft anständig und sauber erfüllt. Das war kurz vor der Erfindung der Fotografie.4

Der Stoff wurde kurz darauf von der Ufa aufgegriffen. Chefdramaturg Robert Liebmann – den Tucholsky wegen Vielschreiberei mit Sarkasmus bedachte – schrieb zusammen mit anderen die Film-Travestie Viktor und Viktoria, in dem der damalige Publikumsliebling Renate Müller einen Damenimitator spielte. (Der Stoff bot 1982 die Grundlage für den Hollywood-Film Victor/Victoria mit July Andrews.)

Tucholskys einziger Film in der Weimarer Republik war die Verfilmung Wie kommen die Löcher in den Käse? von 1932, an der er selbst allerdings nicht mit­arbeitete.

Frank-Burkhard Habel

Kurt Tucholsky: Seifenblasen. Rowohlt rotation. Reinbek 2016, eBook, ca. 84 Seiten. ISBN 978-3-644-05391-5.

seifenblasenprint150Inzwischen hat Rowohlt auch eine gedruckte Ausgabe angekündigt:

Im Dezember 2016 erscheint eine Hardcover-Ausgabe im Geschenkformat:

Kurt Tuchols­ky: Seifenblasen. Eine Geschichte, die ein Film werden sollte.

Rowohlt Taschenbuch Ver­lag. Reinbek 2016, 128 Seiten, gebunden, 10 €. ISBN 978-3-499-29033-6

1Peter Panter: Seifenblasen. Ein Spiel. Nach einer Idee von G.W. Pabst. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 15, [T 144], S. 401

2 Peter Panter: Gussy Holl, Schaubühne Nr. 26, 3.7. 1913, S. 688 (Tucholsky Gesamtausgabe Band 1, [T 133], S. 224ff., hier: S. 225. Online bei textlog.

3 Peter Panter: Seifenblasen. Ein Spiel. Nach einer Idee von G.W. Pabst. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 15, [T 144], S. 400-462

4 Peter Panter: Schnipsel. Die Weltbühne, 03.11.1931, Nr. 44, S. 673. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 14, [T 129], S. 435. Online bei textlog.

Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2016 Rundbriefe

Schwarzwaldmuseum in Triberg wirbt mit Tucholsky

Aus »Nußbach bei Triberg« schrieb Kurt Tucholsky am 19. August 1919 einen Brief an Mary Gerold.1 Er weilte im Haus der Familie seines Hamburger Freun­des Hans Fritsch, genannt »Jakopp«, in der noch heute so benannten Villa Fritsch. Das weiß man in Triberg schon seit 1990.
Eine Tagung der Kurt Tuchols­ky-Gesellschaft im Jahre 2000 in Triberg mit Kaf­feepause im »Römischen Kaiser« in Nußbach, von dem die Familie Fritsch sei­nerzeit ihren Wein »unter der Hand« bezog, sorgte ebenfalls für lokale Auf­merksamkeit.
Mit Gastspielen und Tucholsky-Programmen mit Marlis und Wolfgang Helfritsch wurde weiter­hin die Trommel gerührt. In der Triberger Stadtchronik ist Tuchols­ky samt der Geschichte des über 100 Jahre alten Hauses festgehalten. Ebenso der mehrfa­che Besuch des amerikanischen Publizisten Ernest Hemingway in den zwanziger Jahren2.
Während Tucholsky noch die politische Ahnungslosigkeit im Schwarz­wald kari­kierte, drosch Hemingway auf die Schwarzwaldbevölkerung ein. Ledig­lich das Forellenfischen fand seine Zustimmung. Nachdem der heute noch am­tierende Bürgermeister den recht erfolgreichen Hemingway-Days nach Ein­spruch ehe­maliger Wehrmachtsangehöriger ein unrühmliches Ende setzte, wurde es still um die berühmten Besucher der Wasserfallstadt.
Der Bürgermeis­ter, Jurist wie Tucholsky, sah in einem Hemingway-Brief, in dem sich der Autor rühmte, bei der Besetzung von Paris »Krauts« eigenhändig er­schossen zu ha­ben, Schaden auf die Stadt zukommen. (Ein Gutachten der Uni­versität Hamburg kam allerdings 2008 zur Ansicht, dass die entsprechenden Passagen fiktional waren.) Das bisherige Organisationsteam sollte – so die Bür­germeister-Idee – doch auf Tucholsky-Tage umschwenken. Nach dem Einwand, dass dieser in der Weimarer Republik zu den meistgehassten Publizisten der Nationalisten gehör­te, zog der Triberger die Idee zurück.

Bild: Renate Bökenkamp
Bild: Renate Bökenkamp

Jetzt weist am Schwarzwald-Museum in Triberg ein großes Plakat auf Tuchols­kys Besuch seinerzeit hin. Im Treppenhaus hängt dazu sein Foto mit einem Zi­tat. Eine Veranstaltungsreihe im Museum begann mit Texten zum Thema Rei­sen, in denen auch Tucho-Texte verlesen wurde.

Die Villa Fritsch steht erneut zum Verkauf und das nahezu 200 Jahre alte Gast­haus »Römischer Kaiser« samt Pensionsbetrieb ist nach einem Zwischenpächter wie­de-rum geschlossen. Inwie­weit Tucholskys Besuch im Schwarz­waldmuseum weiteren Niederschlag fin­det, bleibt abzuwarten, demnächst wechselt die Lei­tung.

Renate Bökenkamp

1 Brief an Mary Gerold vom 19.8. 1919 (Tucholsky GA Bd. 17, [B 37], S. 68 ff.)

2 siehe die titelgebende Geschichte »Schnee auf dem Kilimandscharo«. Zuletzt erschienen in Neuübersetzung von Werner Schmitz: Ernest Hemingway: Schnee auf dem Kilimandscharo. Rowohlt Reinbek 2015, 224 Seiten, gebunden, 18,90 €. Taschenbuchausgabe für Dezember 2016 angekündigt (9,99 €, ISBN 978-3-499-27286-8).

Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2016 Rundbriefe

Kurt Tucholsky: Europa

Europa

 

Am Rhein, da wächst ein süffiger Wein –
der darf aber nicht nach England hinein –

Buy British!

In Wien gibt es herrliche Torten und Kuchen,
die haben in Schweden nichts zu suchen –

Köp svenska varor!

In Italien verfaulen die Apfelsinen –
laßt die deutsche Landwirtschaft verdienen!

Deutsche, kauft deutsche Zitronen!

Und auf jedem Quadratkilometer Raum
träumt einer seinen völkischen Traum,
Und leise flüstert der Wind durch die Bäume …

Räume sind Schäume.

 
Da liegt Europa. Wie sieht es aus?
Wie ein bunt angestrichnes Irrenhaus.
Die Nationen schuften auf Rekord:

Export! Export!

Die andern! Die andern sollen kaufen!
Die andern sollen die Weine saufen!
Die andern sollen die Schiffe heuern!
Die andern sollen die Kohlen verfeuern!
Wir?

Zollhaus, Grenzpfahl und Einfuhrschein:

wir lassen nicht das geringste herein.
Wir nicht. Wir haben ein Ideal:
Wir hungern. Aber streng national.
Fahnen und Hymnen an allen Ecken.
Europa? Europa soll doch verrecken!
Und wenn alles der Pleite entgegentreibt:
dass nur die Nation erhalten bleibt!
Menschen braucht es nicht mehr zu geben.
England! Polen! Italien muß leben!
Der Staat frißt uns auf. Ein Gespenst. Ein Begriff.
Der Staat, das ist ein Ding mitm Pfiff.
Das Ding ragt auf bis zu den Sternen –
von dem kann noch die Kirche was lernen.
Jeder soll kaufen. Niemand kann kaufen.
Es rauchen die völkischen Scheiterhaufen.
Es lodern die völkischen Opferfeuer:
Der Sinn des Lebens ist die Steuer!
Der Himmel sei unser Konkursverwalter!
Die Neuzeit tanzt als Mittelalter.
 
Die Nation ist das achte Sakrament –!
Gott segne diesen Kontinent.

Theobald Tiger

Die Weltbühne, 12.01. 1932. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 15, [T 6], S. 21f.