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Originaltexte Tucholsky: Zum Werk

Kurt Tucholsky: Ein älterer, aber leicht besoffener Herr

1930 erschien eine der besten Satiren auf die Parteienlandschaft der Weimarer Republik Tucholskys. »Ein älterer, aber leicht besoffener Herr« ist zugleich auch einer der Texte, die zeigen, dass Tucholsky immer Berliner geblieben ist, egal wie weit er sich innerlich und äußerlich von Deutschland entfernt hatte.
Der Text ist ein typisches Beispiel für Tucholskys ambivalentes Verhältnis zur Republik, deren Schwächen er nicht übersehen konnte und die es doch zu schützen galt. Gerade in den letzten Jahren, als er mit zunehmender Verzweiflung gegen ihren Untergang anschrieb, zeigt sich dies besonders stark. Für den heute anstehenden Wahlgang sei aber diese Zeile herausgegriffen:

Denn winsch ick Sie ooch ne vajniechte Wahl! Halten Sie die Fahne hoch!

Eine der wohl besten Interpretationen stammt denn auch von einem Ur-Berliner, dem Schauspieler Gerd E. Schäfer, der den Text, wenn auch nicht buchstabengetreu, im Rahmen des Projektes Jazz – Lyrik – Prosa unübertroffen vortrug.

Zum Vergleich hier noch der Originaltext:

Ein älterer, aber leicht besoffener Herr

– Wie Sie mich hier sehn, bin ick nämlich aust Fensta jefalln. Wir wohn Hochpachterr, da kann sowat vorkomm. Es ist wejn den Jleichjewicht. Bleihm Se ruhich stehn, lieber Herr, ick tu Sie nischt – wenn Se mir wolln mah aufhehm … so … hopla … na, nu jeht et ja schon. Ick wees jahnich, wat mir is: ick muß wat jejessen ham … !
Jetrunken? Ja, det auch … aber mit Maßen, immer mit Maßen. Es wah – ham Sie ’n Auhrenblick Sseit? – es handelt sich nämlich bessüchlich der Wahlen. Hips … ick bin sossusahrn ein Opfer von unse Parteisserrissenheit. Deutschland kann nich untajehn; solange es einich is, wird es nie bebesiecht! Ach, diß wah ausn vorjn Kriech … na, is aber auch janz schön! Wenn ick Sie ’n Sticksken bejleiten dürf … stützen Sie Ihnen ruhig auf mir, denn jehn Sie sicherer!
Jestern morjen sach ick zu Elfriede, wat meine Jattin is, ick sahre: »Elfriede!« sahr ick, »heute is Sonntach, ick wer man bißken rumhörn, wat die Leite so wählen dhun, man muß sich auf den laufenden halten«, sahr ick – »es is eine patt … patriotische Flicht!« sahr ick. Ick ha nämlich ’n selbständjen Jemieseladn. Jut. Sie packt ma ’n paar Stulln in, und ick ßottel los.
Es wücht ein ja viel jebotn, ssur Sseit … so ville Vasammlungen! Erscht war ich bei die Nazzenahlsosjalisten. Feine Leute. Mensch, die sind valleicht uffn Kien! Die janze Straße wah schwarz … un jrien … von de Schupo … un denn hatten da manche vabotene Hemden an … dies dürfen die doch nich! »Runta mit det braune Hemde!« sachte der Wachtmeister zu ein, »Diß iss ein weißes Hemde!« sachte der. »Det is braun!« sachte der Jriene. Der Mann hat ja um sich jejampelt mit Hände und Fieße; er sacht, seine weißen Hemden sehn imma so aus, saubrer kann a nich, sacht a. Da ham sen denn laufen lassen. Na, nu ick rin in den Saal. Da jabs Brauselimmenade mit Schnaps. Da ham se erscht jeübt: Aufstehn! Hinsetzn! Aufstehn! Hinsetzn! weil sie denn nämlich Märsche jespielt ham, und die Führers sind rinjekomm – un der Jöbbels ooch. Kenn Sie Jöbbels? Sie! Son Mann is det! Knorke. Da ham die jerufen: »Juden raus!« un da habe ick jerufen: »Den Anwesenden nadhierlich ausjenomm!« un denn jing det los: Freiheit und Brot! ham die jesacht. Die Freiheit konnte man jleich mitnehm – det Brot hatten se noch nich da, det kommt erscht, wenn die ihr drittes Reich uffjemacht ham. Ja. Und scheene Lieda ham die –!

Als die liebe Morjensonne
schien auf Muttans Jänseklein,
zoch ein Rejiment von Hitla
in ein kleines Städtchen ein … !

Na, wat denn, wat denn … man witt doch noch singen dürfn! Ick bin ja schon stille – ja doch. Und der Jöbbels, der hat ja nich schlecht jedonnert! Un der hat eine Wut auf den Thälmann! »Is denn kein Haufen da?« sacht er – »ick willn iebern Haufn schießen!« Und wir sind alle younge Schklavn, hat der jesacht, und da hat er ooch janz recht. Und da war ooch een Kommenist, den ham se Redefreiheit jejehm. Ja. Wie sen nachher vabundn ham, war det linke Oohre wech. Nee, alles wat recht is: ick werde die Leute wahrscheinlich wähln. Wie ick rauskam, sachte ick mir: Anton, sachte ick zu mir, du wählst nazzenahlsosjalistisch. Heil!
Denn bin ick bei die Katholschen jewesn. Da wollt ick erscht jahnich rin … ick weeß nich, wie ick da rinjekomm bin. Da hat son fromma Mann am Einjang jestandn, der hatte sich vor lauter Fremmichkeit den Krahrn vakehrt rum umjebunden, der sacht zu mir: »Sind Sie katholischen Jlaubens?« sacht er. Ick sahre: »Nich, dass ick wüßte … « – »Na«, sacht der, »wat wollen Sie denn hier?« – »Jott«, sahre ick, »ick will mir mal informieren«, sahre ick. »Diß is meine Flicht des Staatsbirjers.« Ick sahre: »Einmal, alle vier Jahre, da tun wa so, als ob wa täten … diß is ein scheenet Jefiehl!« – »Na ja«, sacht der fromme Mann, »diß is ja alles jut und scheen … aber wir brauchen Sie hier nich!« – »Nanu … !« sahre ick, »sammeln Sie denn keene Stimm? Wörben Sie denn nich um die Stimm der Stimmberechtichten?« sahre ick. Da sacht er: »Wir sind bloß eine bescheidene katholische Minderheit«, sacht er. »Und ob Sie wähln oder nich«, sacht er, »desderwejn wird Deutschland doch von uns rejiert. In Rom«, sacht er, »is et ja schwierijer … aber in Deutschland … « sacht er. Ick raus. Vier Molln hak uff den Schreck jetrunken.
Denn wak bei die Demokratn. Nee, also … ick hab se jesucht … durch janz Berlin hak se jesucht. »Jibbs denn hier keene Demokraten?« frahr ick eenen. »Mensch!« sacht der, »Du lebst wohl uffn Mond! Die hats doch nie jejehm! Und nu jippse iebahaupt nich mehr! Jeh mal hier rin«, sacht er, »da tacht die Deutsche Staatspachtei – da is et richtich.« Ick rin. Da wah ja so viel Jugend … wie ick det jesehn habe, mußt ick vor Schreck erscht mal ’n Asbach Uralt trinken. Aber die Leute sinn richtich. Sie – det wa jroßachtich! An Einjang hattn se lauter Projamms zu liejn … da konnt sich jeder eins aussuchen. Ick sahre: »Jehm Sie mir … jehm Se mia ein scheenet Projamm für einen selbständigen Jemieseladen, fier die Interessen des arbeitenden Volkes«, sahre ick, »mit etwas Juden raus, aber hinten wieder rin, und fier die Aufrechterhaltung der wohlerworbenen Steuern!« – »Bütte sehr«, sacht det Frollein, wat da stand, »da nehm Sie unsa Projramm Numma siemundfürrssich – da is det allens drin. Wenn et Sie nicht jefällt«, sacht se, »denn kenn Siet ja umtauschn. Wir sind jahnich so!« Diß is eine kulante Pachtei, sahre ick Ihn! Ick werde die Leute wahrscheinlich wähln. Falls et sie bei der Wahl noch jibbt.
Denn wak bei die Sozis. Na, also ick bin ja eijentlich, bei Licht besehn, ein alter, jeiebter Sosjaldemokrat. Sehn Se mah, mein Vata war aktiva Untroffssier … da liecht die Disseplin in de Familie. Ja. Ick rin in de Vasammlung. Lauta klassenbewußte Arbeita wahn da: Fräser un Maschinenschlosser un denn ooch der alte Schweißer, der Rudi Breitscheid. Der is so lang, der kann aus de Dachrinne saufn. Det hat er aba nich jetan – er hat eine Rede jehalten. Währenddem dass die Leute schliefen, sahr ick zu ein Pachteigenossn, ick sahre: »Jenosse«, sahre ick, »woso wählst du eijentlich SPD –?« Ick dachte, der Mann kippt mir vom Stuhl! »Donnerwetter«, sacht er, »nu wähl ick schon ssweiunsswanssich Jahre lang diese Pachtei«, sacht er, »aber warum det ick det dhue, det hak ma noch nie iebalecht! – Sieh mal«, sachte der, »ick bin in mein Bessirk ssweita Schriftfiehra, un uff unse Ssahlahmde is det imma so jemietlich; wir kenn nu schon die Kneipe, un det Bier is auch jut, un am erschten Mai, da machen wir denn ’n Ausfluch mit Kind und Kejel und den janzen Vaein … und denn ahms is Fackelssuch … es is alles so scheen einjeschaukelt«, sacht er. »Wat brauchst du Jrundsätze«, sacht er, »wenn dun Apparat hast!« Und da hat der Mann janz recht. Ick werde wahrscheinlich diese Pachtei wähln – es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich. Und das is sehr wichtig fier einen selbständjen Jemieseladen!
Denn wah ick bei Huchenberjn. Sie … det hat ma nich jefalln. Wer den Pachteisplitter nich ehrt, is det Janze nich wert – sahr ick doch imma. Huchenberch perseenlich konnte nich komm … der hat sich jrade jespaltn. Da hak inzwischen ’n Kimmel jetrunken.
Denn wak noch bei die kleinern Pachteien. Ick wah bei den Alljemeinen Deutschen Mietabund, da jabs hellet Bia; und denn bei den Tannenberchbund, wo Ludendorff mitmacht, da jabs Schwedenpunsch; und denn bei die Häußerpachtei, die wähln bloß in Badehosn, un da wah ooch Justaf Nahrl, der is natürlicher Naturmensch von Beruf; und denn wak bei die Wüchtschaftspachtei, die sind fier die Aufrechterhaltung der pollnschen Wüchtschaft – und denn wark blau … blau wien Ritter. Ick wollt noch bei de Kommenistn jehn … aber ick konnte bloß noch von eene Laterne zur andern Laterne … Na, so bink denn nach Hause jekomm.
Sie – Mutta hat valleicht ’n Theater jemacht! »Besoffn wie son oller liiijel –!« Hat se jesacht. Ick sahre: »Muttacken«, sahre ick, »ick ha det deutsche Volk bei de Wahlvorbereitung studiert.« – »Besoffn biste!« sacht se. Ick sahre: »Det auch … « sahre ick. »Aber nur nehmbei. Ick ha staatspolitische Einsichten jewonn!« sahre ick. »Wat wißte denn nu wähln, du oller Suffkopp?« sacht se. Ich sahre: »Ick wähle eine Pachtei, die uns den schtarkn Mann jibt, sowie unsan jeliebtn Kaiser und auch den Präsidenten Hindenburch!« sahr ick. »Sowie bei aller Aufrechterhaltung der verfassungsjemäßichten Rechte«, sahr ick. »Wir brauchen einen Diktator wie Maxe Schmeling oder unsan Eckner«, sahre ick. »Nieda mit den Milletär!« sahre ick, »un hoch mit de Reichswehr! Und der Korridor witt ooch abjeschafft«, sahre ick. »So?« sacht se. »Der Korridor witt abjeschafft? Wie wißte denn denn int Schlafzimmer komm, du oller Süffel?« sacht se. Ick sahre: »Der Reichstach muß uffjelöst wem, das Volk muß rejiern, denn alle Rechte jehn vom Volke aus. Na, un wenn eener ausjejang is, denn kommt a ja sobald nich wieda!« sahre ick. »Wir brauchen eine Zoffjett-Republik mit ein unumschränkten Offsier an die Spitze«, sahre ick. »Und in diesen Sinne werk ick wähln.« Und denn bin ick aust Fensta jefalln.
Mutta hat ohm jestanden und hat jeschimpft … ! »Komm du mir man ruff«, hat se jebrillt. »Dir wer ick! Du krist noch mal Ausjang! Eine Schande is es –! Komm man ja ruff!« Ick bin aba nich ruff. Ick als selbstänjdja Jemieseladen weeß, wat ick mir schuldich bin. Wollen wa noch ne kleene Molle nehm? Nee? Na ja … Sie missn jewiß ooch ze Hause – die Fraun sind ja komisch mit uns Männa! Denn winsch ick Sie ooch ne vajniechte Wahl! Halten Sie die Fahne hoch! Hie alleweje! Un ick wer Sie mal wat sahrn: Uffjelöst wern wa doch … rejiert wern wa doch …
Die Wahl is der Rummelplatz des kleinen Mannes! Det sacht Ihn ein Mann, der det Lehm kennt! Jute Nacht –!

Kaspar Hauser, Die Weltbühne, 09.09.1930, Nr. 37, S. 405, wieder in: Lerne Lachen.

Gesamtausgabe Band 10, Text 126, S. 345-349

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Jahrestagung 2017 Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik Tagungen

Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2017 an Sönke Iwersen

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft vergibt den mit 5.000 € dotierten Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik an den Journalisten Sönke Iwersen, Leiter Investigative Recherche beim Handelsblatt.

Sönke Iwersen (c) Sönke Iwersen
Sönke Iwersen (c) Sönke Iwersen

Sönke Iwersen, geboren 1971 in Hamburg, arbeitete zunächst als freier Journalist für FAZ, Hamburger Abendblatt und Berliner Zeitung, absolvierte die Axel Springer Journalistenschule und trat dann in die Wirtschaftsredaktion der Stuttgarter Zeitung ein. Seit 2006 ist er Redakteur des Handelsblatts in Düsseldorf, seit 2012 leitet er dort das in jenem Jahr gegründete Investigativ-Team, das seitdem mit zahlreichen Journalistenpreisen ausgezeichnet wurde. Iwersen wurde auch persönlich vielfach für seine Arbeit geehrt, unter anderem mit dem Henri Nannen Preis, zwei Wächterpreisen und dem Georg von Holtzbrinck Preis für Wirtschaftspublizistik.
Sein Dossier Edward Snowden – Schutzengel ganz unten verbindet investigative Rercherche mit der Empathie der literarischen Reportage. Gerade in dieser Verbindung aus engagiertem, aufklärerischem Journalismus und literarischer Qualität liegt der Geist des Werkes Kurt Tucholskys, dessen Tradition zu bewahren Ziel des Kurt Tucholsky-Preises ist.
Die Begründung der Jury:

In seinem Dossier Schutzengel – ganz unten verbindet Sönke Iwersen investigative Rercherche mit der Empathie der literarischen Reportage.
Iwersen bereiste einen Ort, der in der global thematisierten Snowden-Affäre erstaunlich unbesehen blieb: Er besuchte die Wohnsilos von Hongkong, in denen der Whistleblower Edward Snowden im Juni 2013 für zwei Wochen Unterschlupf fand.
Sprachlich prägnant und dramaturgisch pointiert gibt Iwersen den vier Asylsuchenden, die Snowden trotz eigener prekärer Lage Schutz boten, einen Namen und eine Herkunft. Und er gibt ihnen Würde, indem er in wechselnder Perspektive darlegt, was sie in die so genannte illegale Migration trieb.
Iwersens im Handelsblatt veröffentlichte Reportage steht beispielhaft dafür, wie auch eine Wirtschaftszeitung die dunkelsten Nischen der Globalisierung ausleuchten kann.
Der Blick hinter die Fassaden Hongkongs verknüpft unser Zeitalter weltweiter Aus- und Einwanderung mit einer unbekannten Episode der Snowden-Affäre.
Diese Verquickung im Zeitalter weltweiter Überwachung ist engagiert, originell, aufklärerisch – und deshalb preiswürdige Publizistik in bester Tradition Kurt Tucholskys.

Die Preisvergabe findet als Höhepunkt und Abschluss der diesjährigen Jahrestagung »Tucholsky, Die Weltbühne und Europa« der Kurt Tucholsky-Gesellschaft am 22.10. 2017 im Theater im Palais Berlin statt. Als Laudator wird Thomas Tuma, stellvertretender Chefredakteur beim Handelsblatt, sprechen.
Snowden‘s Guardian Angels
Die von Sönke Iwersen in seinem ausgezeichneten Dossier porträtierten Helfer Snowdens sind zwischenzeitlich selbst in Not geraten und haben ihre Zuflucht in Hongkong verloren. Sie benötigen nun selbst Hilfe und Unterstützung.
Informationen hierzu sind zu finden im Artikel »Snowdens Schutzengel fürchten um ihr Leben« von Sönke Iwersen im Handelsblatt und bei der Kampage For the refugees.
Weitere Informationen:

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Geburtstagsgruß an Deniz Yücel

Lieber Deniz,
es fällt schwer, Dir unbelastet zum Geburtstag zu gratulieren, sehen und wissen wir doch, unter welchen Umständen Du gezwungen bist, ihn zu begehen.
Als Carl von Ossietzky für seine journalistische Arbeit 1932 ins Gefängnis geworfen wurde, schrieb Kurt Tucholsky:

Die Strafe ist und bleibt nichts als die Benutzung einer formalen Gelegenheit, einem der Regierung unbequemen Kreis von Schriftstellern eins auszuwischen […] Im geistigen Kampf werden sie auch weiterhin so erledigt werden, wie sie das verdienen. Und das muß doch gesessen haben. Denn sonst wären jene nicht so wütend und versuchten es nicht immer, immer wieder. Es wird ihnen nichts helfen.

Wir wünschen uns allen drinnen und draußen und ganz besonders Dir, dass es auch den heutigen Rechtsbeugern der Türkei nichts helfen möge. So senden wir Dir herzlichste Grüße und versichern Dir unsere ungebrochene Solidarität.
Als die Jury Dir 2011 den Kurt-Tucholsky-Preis zuerkannte, lobte sie Deinen Mut, zur Verdeutlichung der Wahrheit auch vor dem Zorn der verkappten Spießer_innen nicht zurückzuschrecken, sondern »die große, bunte Landsknechts-trommel gegen alles, was stockt und träge ist« (Tucholsky) zu schlagen.
Dein Ehrenplatz zur diesjährigen Preisverleihung wird von uns freigehalten, denn noch immer hoffen wir, Dich in Berlin begrüßen zu können: Wir wollen das Meer sehen – Deniz’i görmek istiyoruz.
Bis dahin wünschen wir Dir, was auch Tucholsky seinem Freund wünschte:

Ich wünsche ihm im Namen aller Freunde, daß er diese Haft bei gutem Gesundheitszustand übersteht.

Der Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

[als pdf herunterladen]

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2017 Rundbriefe

Rundbrief August 2017

Liebe Mitglieder und Freunde der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
der neue Rundbrief August 2017 ist erschienen. Sie können ihn (ohne Vereinsinterna) als pdf herunterladen.
Ausgewählte Beiträge sind zudem direkt als Einträge im Blog zu lesen:
[Presseschau] Tucholsky im Spiegel
[Rezension] Unda Hörner: Ohne Frauen geht es nicht
[Rezension] Ohne Frauen geht es nicht
[Rezension] Thomas F. Schneider: Emil Ludwig
[Rezension] Tucholskys Spiegel: Oper-Premiere in Rheinsberg
[Bericht] Brigitte Rothert übergibt dem Tucholsky Museum wertvolle Dokumente
[Originaltext] Vor und nach den Wahlen
 
 

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Originaltexte Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2017 Rundbriefe Tucholsky: Zum Werk

Kurt Tucholsky: Vor und nach den Wahlen

Also diesmal muß alles ganz anders werden!
Diesmal: endgültiger Original-Friede auf Erden!
Diesmal: Aufbau! Abbau! und Demokratie!
Diesmal; die Herrschaft des arbeitenden Volkes wie noch nie!

Diesmal.

Und mit ernsten Gesichtern sagen Propheten prophetische Sachen:
»Was meinen Sie, werden die deutschen Wahlen im Ausland für Eindruck machen!«
Und sie verkünden aus Bärten und unter deutschen Brillen
– wegen Nichtkiekenkönnens – den höchstwahrscheinlichen Volkeswillen.
Sprechen wird aus der Urne die große Sphinx:
Die Wahlen ergeben diesmal einen Ruck nach links.
So:

← 

Diesmal werden sie nach den Wahlen den Reichstag betreten,
diesmal werden sie zum Heiligen Kompromisius beten;
diesmal erscheinen die ältesten Greise mit Podagra,
denn wenn die Wahlen vorbei sein werden, sind sie alle wieder da.

Diesmal.

Und mit ernsten Gesichtern werden sie unter langem Parlamentieren
wirklich einen Ruck nach links konstatieren.

Damit es aber kein Unglück gibt in der himmlischsten aller Welten,
und damit sich die Richter nicht am Zug der Freiheit erkälten,
und überhaupt zur Rettung des deutsch-katholischen-industriellen Junkergeschlechts
machen nach den Wahlen alle Parteien einen Ruck nach rechts.
So:

Auf diese Weise geht in dem deutschen Reichstagshaus
alle Gewalt nebbich vom Volke aus.

Theobald Tiger

Die Weltbühne, 08.05.1928, Nr. 19, S. 711. (GA Bd. 10, Text 64, S. 196f.)

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief August 2017 Rundbriefe

[Rezension] Unda Hörner: Ohne Frauen geht es nicht

Neben Bertolt Brecht ist Kurt Tucholsky der deutsche Autor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, über dessen Liebesleben be­sonders ausführlich geschrieben wurde. Die Germanistin Unda Hörner, die in Tucholskys Lieblingsstädten Berlin und Paris stu­dierte, hat mit dem schmalen, aber kompakten Band »Ohne Frau­en geht es nicht« auf Erkenntnisse anderer Publizisten von Helga Bemmann bis Klaus Bellin aufgebaut. Ist Hörners Bändchen nun aufschlussreich? Oder überflüssig?
Die Frage ist mit einem klaren »Sowohl als auch« zu beantworten. Wer sich für Tucholsky und die Frauen interessiert – wohlgemerkt die Frauen, und nicht, wie es der Untertitel verheißt »die Liebe« – und keinen Stapel von Büchern wälzen möchte, wird hier kompakt bedient. Von dem wenigen, was wir über Kitty Frankfurter wissen, bis über Liebschaften und zu dem Vielen, was wir von Mary Gerold kennen, referiert die Autorin kenntnis- und zitatenreich wie es gelaufen ist.
Zudem hat sie viele Memoirenbücher von Tucholskys Zeitgenossinnen gelesen und das eine oder andere Detail in den Vordergrund gerückt. Tucholskys Liebe (zumindest zu Frauen) verlässt sie aber, wenn sie über die Diseusen und gar die zeitgenössischen Autorinnen spricht.
Die offenbar platonische Liebe zu Gussy Holl ist bekannt. Hörner lässt offen, ob es mit Hesterberg oder Kühl zu intimen Begegnungen kam. Gerade an diese beiden Künstlerinnen denkt die Autorin of­fenbar nicht, wenn sie feststellt, dass nach 1933 Tucholskys Interpretinnen ver­stummten. Es mag für Rosa Valetti gelten, oder auch für Claire Waldoff. Kate Kühl und Heinrich Manns Ex-Geliebte Trude Hesterberg machten (wenngleich viel zahmer) im Dritten Reich weiter, beide auch in der DDR, bevor sie vom westdeutschen Kulturbetrieb aufgesogen wurden.
Ein anderes Kapitel befasst sich mit den Autorinnen unter Tucholskys Zeitgenos­sen. Hörner legt glaubhaft nahe, dass sich Tucholsky und Vicky Baum durch den anderen Kurt, Tuchos Freund Szafranski, gekannt haben müssen. Aber auch Irmgard Keuns und Gabriele Tergits damalige emanzipierte Haltungen referiert sie mit Zitaten aus Tucholskys Rezensionen auf eingängige Weise.
Tucholsky-Freunde, die schon tief mit Leben und Werk des Meisters vertraut sind, müssen den Band nicht erwerben. Wer es aber kaufen möchte, um Freun­dinnen und Bekannte auf Tucholsky neugierig zu machen, der sollte zugreifen.

Frank-Burkhard Habel

Hörner, Una: Ohne Frauen geht es nicht, Tucholsky und die Liebe, ebersbach & simon. Berlin. 2017, 144 Seiten, geb., 16,80 € ISBN 978-3-86915-137-3

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2017 Rundbriefe Tucholsky im Spiegel

Tucholsky im Spiegel [August 2017]

Unter dem Motto

Entspanne dich. Lass dass Steuer los. Trudle durch die Welt. Sie ist so schön.

hat erfreulicherweise das Café Tucholsky in der Kurt-Tucholsky-Straße 30a in Rheinsberg, direkt am See gelegen, wieder eröffnet. Von April bis Oktober täg­lich außer Dienstags von 12.00 bis 19.00 Uhr. info@tucholsky-cafe.de / Tel. 033931 34370
Auf eine Übernachtung warten die beiden schönen Dachgeschossferienwoh­nungen mit Seeblick »Wölfchen« und »Claire«.
Buchung der Ferienwohnung unter: Tel. 033931/3440 oder unter: http://bit.ly/2vG2okS bzw. http://bit.ly/2pzMNyA.
Das Mindener Tageblatt, Nr.126, vom 01.06. 17, S. 30, gratuliert unserem ersten Preisträger (1995) wie folgt:

Rebell, Poet
Konstantin Wecker wird 70
…Wecker heimste viele Preise ein, darunter die Medaille »München leuch­tet«, den Kurt-Tucholsky-Preis und mit Eugen Drewermann den Erich-Fromm-Preis.

In Hannover erscheint monatlich das Magazin Asphalt. Das Prinzip dieses Maga­zins lautet:

Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer sind Menschen mit brüchigen Bio­graphien. Irgendwann sind sie in ihrem Leben durch schwere Schicksals­schläge, Krankheiten oder traumatische Erlebnisse aus der Bahn geworfen worden. Heute versuchen sie, durch den Verkauf des Asphalt-Magazins ih­rem Leben wieder Struktur und Sinn zu verleihen. Viele sind oder waren wohnungslos. Sie kaufen das Asphalt-Magazin für 1,10 Euro und verkaufen es für 2,20 Euro. Asphalt ist eine gemeinnützige Hilfe-zur-Selbsthilfe-Ein­richtung und erhält keinerlei regelmäßige staatliche oder kirchliche Zu­wendung.

In der Juni-Ausgabe wird auf Seite 11 unter der Rubrik »Wer war eigentlich…WALDEMAR BONSELS?« das Leben dieses Mannes, der von 1880 bis 1952 lebte und unter anderem dadurch bekannt geworden ist, dass er das Buch »Biene Maja« schrieb, in dem er die Entwicklung Majas von der Anarchistin zu einem staatsbewussten Individuum, »vom Abenteurer zum Bürger«, so sein Biograph Bernhard Viel, aufzeigt.
Der Verfasser des Asphalt-Artikels, Gerd Schild, bezeichnet Bonsels als Anhänger des Kaiserreichs, Opportunisten und Antisemiten, wenn – soweit wieder der Biograph – wohl auch kein glühender Nazi-Anhänger. Seine schriftstellerischen Fähigkeiten beschreibt der Verfasser wie folgt:

Will man Bonsels freundlich beschreiben, kann man ihn als Karrierist ab­tun, als einen begabten Schriftsteller, extrem fleißig und wandlungsfähig, der seinen Stil an eine erhoffte Leserschaft anpassen konnte. Er war ein Prahlhans, aber kein Dandy, denn Bonsels war ein fleißiger Autor. […] Er war beliebt, besonders im Bürgertum.
Ein stilbildender Autor war er nicht. Und den eitlen Schriftsteller hat es sicher arg gekränkt, als er etwa von Kurt Tucholsky für seine »Trostlitera­tur« verspottet wurde.

Unter der Überschrift »Tucholsky-Symposium Rheinsberg« berichtet unser lang­jähriges Vorstandsmitglied Wolfgang Helfritsch in Ossietzky, H. 12/17, S. 425ff., über eine Tagung in Rheinsberg unter anderem wie folgt:

Angejahrte Tucholsky-Fans und begeisterte Eleven des Opernfaches, Lite­raturwissenschaftler, Autoren, Komponisten, Publizisten und Satiriker tra­fen sich zur Begutachtung und Diskussion eines bisher einmaligen Projek­tes, das als Oper »Tucholskys Spiegel« am 21. Juli in der Kammeroper sei­ne Premiere erleben wird. Wenn sich dann nur einiges von der begeister­ten, nicht unkritischen Atmosphäre des Symposiums auf die Bretter über­trägt, ist der Erfolg vorprogrammiert […]
Am zweiten Konferenzabend wurde das Symposium durch ein eindrucks­volles musikalisches Programm bereichert. Die »Tour de Rheinsberg« startete in der »Musikbrennerei«, einer von Jane Zahn und dem Komponis­ten Hans-Karsten Raecke begründeten kleinen Aufführungsstätte für groß­artige Kunst. Vormals hatte das Haus anderen spirituellen Genüssen ge­huldigt (Schnapsbrennerei). Zahn und Raecke gestalteten »Musik für Kurt«. In Anlehnung an Bach und Eisler bis zu Heiner Müller verblüfften der Komponist und seine Solistin nicht nur durch eigene Kompositionen, sondern auch durch den Einsatz selbstentwickelter Instrumente wie der Orionharfe.

»Ins Gehirn des Monsters« ist ein Artikel im Mindener Tageblatt, Nr. 142, vom 22.06.17, S. 10, überschrieben, in dem der Komponist und Dirigent Manuel Rös­ler aus Berlin über seine Twittermonologe berichtet.
Dabei geht es in Anlehnung an die von Hans Eisler in den 20er-Jahren vertonten Zeitungsannoncen um Vertonung von Tweets des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. So hat Rösler einen Tweet gegen einen kritischen Fernsehmode­rator, für den Trump 22 Minuten brauchte, vertont, dabei auch die Recht­schreibfehler eingebaut und die Musik amerikanischer Nachrichten persifliert. In Röslers Augen verhält sich der amerikanische Präsident »wie ein 5-jähriger im Körper eines 71-jährigen«. Es heißt dann weiter:

Er [Rösler – B.B.] möchte in seinen Kompositionen weder als Verteidiger noch als Gegner des Präsidenten auftreten, obwohl er weiß, dass er nicht neutral sein kann. Privat sei er Gegner. Als »künstlerisches Ich« möchte er sich aber in das »Gehirn des Monsters« versetzen können, um zu ergrün­den, was den Mann eigentlich antreibt, oder, frei nach Tucholsky, ob es hinter dem Lärm, den er macht, einen Menschen gibt.

Hatte sich Tucholsky zu Lebzeiten häufig kritisch zur SPD geäußert, sind jetzt auch mal DIE GRÜNEN/Bündnis 90 »dran«, wenn auch nur in einem Leserbrief von Wolfgang Siedler, Berlin, in der Berliner taz vom 24./25.06.17, S. 33:
betr. »Perfekt inszeniert, tief verunsichert«, taz vom 19.6.17

Die Grünen sind in der Mitte angekommen. »In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod.« (Tucholsky) Wie viele Mittelwähler wohl grün wählen? Drei Prozent, fünf Prozent? Wir werden sehen!
Anmerkung: Ein weiteres Beispiel für eine Falschzuschrift. Tatsächlich stammt das Zitat vom barocken Epigrammatiker Friedrich von Logau (1605-1655).

In Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 28 vom 14.07.17, S. 28, wird unter der Über­schrift »Dufte!« für verschiedene Modeartikel, Accessoires und Kosmetika gewor­ben, die sich alle um den Tucholsky-Schnipsel

Das beste Gedächtnis hat bekanntlich die Nase

gruppieren. Ob Tucholskys Nase allerdings auch Bekleidungsstücke und Saft­pressen in sein Gedächtnis transportieren konnte, sei dahingestellt, könnte aber eventuell Interesse für ein neues Forschungsprogramm wecken.
Mein Dank gilt mal wieder unserem Mitglied Gerhard Stöcklin. Sämtliche Arti­kel sind wie immer über die Geschäftsstelle abrufbar.

Bernd Brüntrup

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Befreundete Institutionen Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2017 Rundbriefe

Tucholsky Museum erhält wertvolle Dokumente

Eine großzügige Schenkung hat das Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheins­berg Ende Juni 2017 erreicht. Brigitte Rothert, die Großcousine und letzte noch lebende Verwandte Kurt Tucholskys, übergab dem Museum einige bedeutende Sammlungsstücke aus dem Nachlass von Kurt Tucholsky, die sie wiederum zum Teil in den 1980er Jahren von Tucholskys damals noch lebender Schwester Ellen Milo aus New York, USA, erhalten hat.
Darunter sind drei wertvolle, von Tucholsky gewidmete bzw. signierte eigene Bücher, sehr seltene Erstausgaben und weitere Bücher, zum Teil mit hand­schriftlichen Anmerkungen von Ellen Milo. Im Weiteren gehören dazu originale Kinderfotos von Kurt Tucholsky und seinen Geschwistern Ellen und Fritz, einige amerikanische Publikationen mit Tucholsky-Texten und frühe Nachkriegseditio­nen.
Weitere Dokumente und Objekte, wie interessante Briefwechsel, Zeitungsaus­schnittsammlungen, weitere Fotos und ihren Briefwechsel mit der Schwester Tucholskys Ellen Milo hatte sie bereits früher dem Museum übergeben. Die Briefe von Ellen Milo an Brigitte Rothert sind sehr privater Natur, sie geben un­ter anderem Auskunft über das sehr problematische Verhältnis der Mutter Do­ris Tucholsky zu ihren Kindern.
Ein ganz besonderes Stück ist auch der einmalige Exil-Koffer von Ellen Milo, auf dem man durch diverse Aufkleber die Stationen ihres Exils über Italien in die USA ablesen kann.
Das Museum verfügt nunmehr, mit dieser Schenkung, über dreißig Auto­graphen von Tucholsky und mehr als 40 originale Objekte — von Briefschatul­len, Schreibwerkzeugen, Schreibtischutensilien über häusliche Gegenstände bis hin zu Möbeln wie seinen letzten Schreibtisch aus dem schwedischen Exil und zwei Sesseln aus der gemeinsamen Wohnung mit Mary Gerold, die wir gerade im Februar aus dem Nachlass von Fritz J. Raddatz übereignet bekamen.
Weitere Autographen, z.B. Briefe von Rudolf Arnheim, Emil Jannings, von Sieg­fried Jacobsohn, Lisa Matthias, Mary Gerold und Else Weil kommen hinzu. Dar­über hinaus gehören zur Sammlung dutzende originale Fotos und Dokumente z.B. aus dem Familienbesitz von Else Weil, sowie hunderte Erstdrucke in der Weltbühne, der Vossischen Zeitung, dem Berliner Tageblatt, dem Simplicissimus und vielen weiteren Publikationen. Selbst ein originales Blatt aus dem Flieger erhiel­ten wir vor zwei Jahren geschenkt.
Die Schenkung war von Brigitte Rothert schon 2005 testamentarisch verfügt worden, nun hatte sie sich, die mittlerweile fast 89 Jahre alt ist, dazu entschlos­sen, ihr Erbe bereits als Vorlass an das Museum zu übergeben. Wie glücklich wir über diesen bedeutenden Zuwachs unseres Archivs sind, und wie dankbar für das große Vertrauen und die Anerkennung, die Brigitte Rothert damit unse­rem Museum entgegen gebracht hat, brauchen wir nicht zu betonen. Wir wer­den uns bemühen, es mit unserer zukünftigen Arbeit für Tucholsky, sein Werk und seine Ideen, weiterhin zu rechtfertigen.

Dr. Peter Böthig

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[Rezension] Tucholskys Spiegel: Oper-Premiere in Rheinsberg

Diese Rezension beginnt mit einem Geständnis. Ich schätze eher das klassische Opern-Repertoire, von Siegfried Jacobsohns geliebtem Mozart bis zu SJs Feind Wagner. Bin also Opern-Fan, aber kein Experte. Wie es Tucho selbst formulierte, kommt es im Künstlerischen nur auf ein Kriterium an: die Gänsehaut. Bei moderner E-Musik fehlt sie sehr häufig bei mir.
Ausnahme: James Reynolds‘ Partitur. Von Jazz-Einlagen mit Flair der zwanziger Jahre bis zur latenten Bedrohung (man tanzte auf einem Vulkan) steckt atmosphärisch alles drin. Tucho und die NS-Gegenspieler, die ihn die Worte »Giftspeiender Jude!« an den Kopf werfen — wunderbar herausgearbeitet. Das ist nicht in erster Linie MODERNE Musik, sondern vor allem zum Thema PASSENDE Musik, die von einem aufgeweckten Publikum begeistert aufgenommen wurde.
Zweites Lob: dem ideenreichen, innovativen Organisator und gutem Geist des Ganzen, Frank Matthus sowie seinem Regisseur Robert Nemack. Ich hatte mit Vorstandskollegin Jane Zahn schon bei einem Expertensymposium im Mai Gelegenheit, Frank kennenzulernen: Auf diesen Charismatiker müsste Rheinsberg, ja ganz Brandenburg stolz sein. Und Nemack! Die Bühne als Boxring für Tucholskys Kampf um ein demokratisches Deutschland: eine gelungene Idee! Die Beweglichkeit des Ensembles, unter Benutzung der Gänge und des Zuschauerraums: bewusst verunsichernd, hier wollte niemand einschlafen. Jeder wartete gespannt auf den nächsten Regieeinfall.
Die Sänger und Sängerinnen; Wenn ich hier alle, darunter den bekannten Countertenor Jochen Kowalski, und ihre Meriten loben sollte, müsste dieser Rundbrief um vier Seiten verlängert werden. Also soll hier eine für alle stehen: die energische, humorvolle, bei Gelegenheit angsteinflößende Mezzosopranistin Felicitas Brunke. Sicher zum Teil auch als Darstellerin von Mary Tucholsky, aber nicht nur deswegen, hat sie bei mir einen Stein im Brett. Singen kann sie, können sie alle. Ein tolles, aufeinander eingestimmtes Ensemble.
Also eine völlig positive Kritik? Leider nicht. Am Libretto war die Idee mit Pseudonymen, Freundinnen und Gegnern , die Tucholskys Charakter von vielen Seiten beleuchteten, bewundernswert. Aber durch Zerhacken der Figur in die einzelnen Pseudonyme ging m.E. die Tatsache verloren, dass sie fünf Finger an einer Hand sind. Der innere Kompass, der allen PS eigen war, fehlte. Weiter: Christoph Klimke war wohl ein verdienstvoller Rheinsberger Stadtschreiber, wir sind dankbar, dass er mit diesem Libretto Tucholsky ein Denkmal gesetzt hat. Aber er hat meiner Ansicht nach die Größe seiner Hauptfigur nicht verstanden. Ist das Gedichtchen Der Pfau wirklich Tucholskys entscheidendes Werk und nicht etwa Der Graben? Mein Lieblingspseudonym, der politische Kämpfer und Friedensfreund Ignaz Wrobel, war nur als Gegner von Rosa Luxemburg und Zielscheibe einer Kritik von Karl Kraus präsent, eine Verniedlichung, die an die misslungene Anthologie von Hermann Kesten in den 1950er Jahren erinnert.
Die kleine Hosenrolle des Melancholikers Kaspar Hauser ging fast ganz unter: schwere Versäumnisse. Dass Tucholskys Alter Ego am Schluss Tucholskys Spiegel anzünden sollte, wie ursprünglich im Libretto vorgesehen, war ein schwerer Fehle: das hätte Tucholsky-Freunde an die öffentliche Verbrennung von Tucholskys Büchern erinnert, vielleicht auch ans tragische Schicksal seiner ersten Ehefrau Else in Birkenau. Zum Glück wurde diese Idee fallengelassen. Aber es blieb am Schluss ein Antiklimax zurück. Bei Wagners Tannhäuser muss der Stab des Papstes Knospen bekommen; bei Faust I darf die Stimme von oben »ist gerettet« auch nicht fehlen. Hier blieb bei vielen Zuschauern ein Fragezeichen.
Trotz alledem: Dass 82 Jahre nach dem einsamen Tod in Schweden eine Oper über unseren Namenspatron gespielt wird, ist eine tolle Sache. »Ich bekomme recht, wenn’s mich nicht mehr gibt«, resümiert die Tucholsky-Gestalt. Matthus, Reynolds, die Sängerinnen und Sänger haben dafür gesorgt, dass Tucho recht bekommt. Es liegt an uns, das gleiche Ziel anzustreben.

Ian King

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[Rezension] Thomas F. Schneider: Emil Ludwig

Emil Ludwig schrieb Romane, Dramen, Biographien, war Pazifist, Publizist, frühzeitiger Apostel der Vereinigten Staaten von Europa — er schrieb sogar eine Verfassung für dieses Gebilde. Nach Thomas Mann und Stefan Zweig war er der bekannteste deut­sche Exil-Autor in den USA. Er verfasste Expertisen über die Be­handlung Deutschlands nach der voraussehbaren Niederlage im Zweiten Weltkrieg, kannte und beriet Präsident Franklin Roose­velt . War nicht zuletzt Freund und Briefpartner Kurt Tucholskys , der Ludwigs ausgesprochene kritische Biographie vom Ex-Kaiser Wilhelm II. lobte.
Ein be­deutender Zeitgenosse — und ein heute fast vergessener Autor, an den Thomas F. Schneider und seine Mit-Verfasser durch diesen Essayband mit Recht erinnert haben. Nicht jeder Tote hat eine Witwe, die seine Schriften sammelt und her­ausgibt.
Der nach Themen, nicht chronologisch unterteilte Band befasst sich also mit Ludwigs Biographien und Dramen, seinen publizistischen Anbahnungen von Krieg und Moderne, seinen politischen Schriften in der Weimarer Republik — Benjamin Ziemanns Essay dürfte für Tucholsky-Freunde von besonderem Inter­esse sein — sowie mit Anmerkungen zu Charakter und Stil in den Biographien — darunter über Bismarck, Mussolini, Stalin und Hitler.
Ludwig war zweifellos Anhänger der Thomas Carlyle-These, dass die Geschichte von großen Männern gemacht werde, im Guten wie im Bösen. Dabei benutzte er Bismarck als Wider­sacher von Wilhelm II., enttarnte das Schauspielhafte des Kaisers, um durch Zerstörung einer reaktionären, überschätzten Legende die Republik indirekt zu stärken.
Ludwig zog den tschechischen Demokraten Thomas Masaryk allen Diktatoren vor und nicht nur deswegen, weil er wie Kurt Hiller und andere Exilschriftsteller in der Tschechoslowakei kurzfristig Zuflucht gefunden hatte und freundlich auf­genommen worden war. Im US-amerikanischen Exil benutzte er seinen hohen literarischen Ruf, um vor dem deutschen Gehorsam (Tucholsky nannte dies den »Untertanengeist«), dem Militarismus und den Rachegefühlen allzu vieler Landsleute zu warnen: Krieg gegen die Nazis sei nicht zu vermeiden und müsse gewonnen werden.
Diese Ideen eines besonders unreifen, bösen Nationalcharakters verleiteten ihn zum Vorschlag, sein geschlagenes Volk so lange unter Kuratel der Alliierten zu stellen,bis eine neue, vom Faschismus unverdorbene Generation erwachsen werden könnte. Helga Schreckenberger analysiert diese Exilschriften des akti­ven Politikers Ludwig, der den klassenmäßigen Hintergrund der Nazis, die Her­kunft vieler faschistischen Promis aus einem wild gewordenen Kleinbürgertum sowie die Verstrickung von Deutschlands Großindustriellen in die Massenver­brechen der Faschisten — kurz, den sozialen Charakter des NS-Regimes — wohl unterschätzt hat. Vom Marxismus blieb Ludwig unbeeindruckt. Dass es »die« Deutschen nie gab, sondern Täter, Mitläufer, Opfer und wenige Widerstands­kämpfer — wollte er nicht wahrhaben.
Thomas Schneider selber hat einen einfühlsamen Essay (unter dem Titel Erfolg ohne Einfluss) verfasst, der an Tucholskys Formulierung »Ich habe Erfolg, aber keinerlei Wirkung« erinnert. Anders als unser Namenspatron hat Ludwig bei den Mächtigen antichambriert, statt sich nur als Anwalt der Getretenen zu füh­len. Aber Ludwig hat so wenig wie Tucholsky seine demokratischen Grundsätze verraten, zahlte dafür mit Exil und — nach 1945 in der Schweiz — mit un­verdienter Nichtachtung.
Dabei waren beide überzeugte Antinationalisten und »gute Europäer«. Das wird bei unserer Tagung im Oktober zu hören sein, denn der Ludwig-Experte Schneider tritt als Referent auf.

Ian King

Schneider, Thomas F. (Hrsg): Emil Ludwig. (= Non Fiktion, 11. Jahrgang 2016, Heft 1/2). Wehrhahn Verlag Hannover 2016. 232 Seiten, kart., 24,80 € ISBN 978–3–86525–546–4 ISSN 0340–8140