Liebe Mitglieder und Freunde der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
der neue Rundbrief Dezember 2017 ist erschienen. Sie können ihn (ohne Vereinsinterna) als pdf herunterladen [ca 3 MB].
Ausgewählte Beiträge sind zudem direkt als Einträge im Blog zu lesen:
[Presseschau] Tucholsky im Spiegel
[Rede] Laudatio für Sönke Iwersen
[Rede] Dankesrede von Sönke Iwersen
[Nachruf] Abschied von Beate Schmeichel-Falkenberg
[Nachruf] In Gedenken an Irmgard Ackermann
[Artikel] In Amerika entdeckt: Kabinettfoto von Berta und Flora Tucholsky
[Originaltext] Großstadt-Weihnachten
Monat: Dezember 2017
»Ich hatte sie sehr gern – sie waren so grundanständig« (Kurt Tucholsky über seine Tanten)1
Das Kabinettfoto, das Kurt Tucholskys Tanten Berta (rechts im Bild) (geboren am 8. Juni 1856 in Greifswald) und Flora (geboren am 14. September 1864 in Greifswald), die Schwestern seines Vaters Alex, zeigt, wurde um 1895 in Stanislawow/Ost-Galizien (damals Österreich-Ungarn) im Fotostudio Leo Rosenbach aufgenommen. Das Foto gelangte nun über 120 Jahre später auf abenteuerliche Weise von Amerika nach Deutschland.
Verkauft wurde es 2016 auf einem amerikanischen Flohmarkt in Saint Louis im Bundesstaat Missouri. Die Käuferin bot das Foto zum Wiederverkauf im Internet an, woraufhin es die Autorin entdeckte, einen moderaten Preis dafür zahlte und das schöne und sehr seltene Kabinettfoto schließlich ca. zwei Wochen später in den Händen hielt. Die Freude war groß, als sie erkannte, um wen es sich auf dem Foto handelte.
Klar erkennbar sind die Namen der beiden Schwestern, erahnen kann man weiter noch: »Schwestern von Alex Tucholsky«. Gut möglich, dass sich die bis zu ihrem Tod unverheirateten Tanten Tucholskys längere Zeit dort bei Verwandten aufhielten. »Frau Flora Tucholsky, Stanislau« konnte man z.B. im selben Jahr auf einer Liste (Jg. 4 (1895) Nr. 10, S. 381–383) der Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde lesen. Die Lehrerin Flora Tucholsky hatte zwei Kronen als Mitgliedsbeitrag oder Spende bezahlt. Am Untertitel Die Waffen nieder! lässt sich eine gewisse Geistesverwandtschaft zu Kurt erkennen, der später einmal »Soldaten sind Mörder« schreiben sollte. Dass es in Stanislawow (bzw. Stanislau) eine Familie Tucholsky gegeben haben muss, beweist auch der Eintrag im Pester Lloyd vom 15.7.1891 auf S. 6. Damals stieg dort – laut »Fremdenliste des ›Grand Hotel Hungaria‹« in Budapest – »F. Tucholsky s.[amt] Töchter, Stanislau« ab. Die genaue Identität dieser Familie konnte derzeit nicht ermittelt werden und muss an dieser Stelle zunächst offen bleiben.
Im Jahr 1899 ließ sich Berta in Wien in der Lutherischen Stadtkirche taufen. Ihre genauen Lebensstationen können dort nicht vollständig rekonstruiert werden, weil die historischen Wiener Meldeunterlagen lückenhaft sind. Um diese Zeit wohnte sie im Lehrerinnenheim der Stadt in der Wipplingerstraße 8. Unter dieser Adresse hatte sie ein Jahr zuvor einen Brief an Samuel L. Clemens in Amerika geschrieben2. Dahinter verbarg sich der von Berta hoch verehrte Schriftsteller Mark Twain, dessen Werke sie gerne ins Deutsche übersetzt hätte.
Das Kabinettfoto dient auch als Beweis, dass schon früh ein Kontakt zwischen den preußischen Tucholskys und ihrer amerikanischen Verwandtschaft in Saint Louis bestand, einer Verwandtschaft, die vereinzelt aus der Kurt Tucholsky-Gesamtausgabe hervorgeht.
Mitte des 19. Jahrhunderts war der preußische Lehrer Neumann Tucholsky mit seiner Ehefrau Johanna geb. Arnfeld und den gemeinsamen fünf Kindern nach Amerika ausgewandert und hatte sich in Saint Louis niedergelassen, wo er vier Jahre nach seiner Einbürgerung (die Einbürgerungsurkunde datiert vom 19. April 1886) im Jahr 1890 verstarb
Seine Enkelin, Rose Tuholske, hatte Kontakt zu Kurt Tucholsky, was durch Briefe in der Tucholsky-Gesamtausgabe belegt ist. Kurts Bruder Fritz half sie mit einem affidavit (einer Art Bürgschaftserklärung von Verwandten oder Freunden während der NS-Zeit, damit Verfolgte aus Deutschland in die USA einreisen konnten), schnell in Amerika unterzukommen, weil die Situation in Deutschland für ihn immer bedrohlicher wurde. Seines Amtes bei der Berliner Stadtverwaltung enthoben, gelang ihm über Prag die Flucht nach Amerika, wo er jedoch bereits 1936 bei einem Autounfall ums Leben kam.
Im Jahr 1899 kam es zu der einzigen persönlichen Begegnung zwischen Rose und dem damals neunjährigen Kurt, als ihr Vater sie auf einer längeren Europareise mitnahm, die sie auch nach Berlin führte.
»Und Sie wollen mich nicht heiraten? Sie bleiben dabei?«3
Wie ihre Cousine Doris Tucholski, der Mutter Kurts, wird Berta ihre Lehrerinnen-Ausbildung am Königlichen Lehrerinnen-Seminar in Berlin absolviert haben. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich als Erzieherin und Lehrerin, gelegentlich aber auch als Schriftstellerin und Übersetzerin.
So veröffentlichte sie z.B. einige Feuilletonartikel im Pester Lloyd. Ihre gelungene Übersetzung des englischsprachigen Romans Jane Eyre erschien 1927. Die nordenglische Pfarrerstochter Charlotte Brontё hatte ihn im Jahr 1847 unter dem Pseudonym Currer Bell veröffentlicht, wohl in der vorausschauenden Angst vor Ablehnung des Romans aufgrund ihres Geschlechts. Es sollte noch eine lange Zeit vergehen, bevor auch weibliche Autoren in der Gesellschaft akzeptiert werden würden, eine Erfahrung, die Berta vermutlich als alleinstehende Frau auch nicht unbekannt war.
Kurt mochte seine Tante Berta sehr, das unsichtbare Familienband zwischen ihnen war sehr eng. Als Tucholsky sich 1928 wegen eines Zahngeschwürs operieren lassen musste und sich vorübergehend deformiert so auf keinen Fall der Öffentlichkeit präsentieren wollte, hatte er nur Tante Berta eingeweiht:
Ich sage überall, daß ich »bei Verwandten« wohne, ohne Telefon, u. der Tante Berta habe ich gesagt, was los ist. Adresse gibt’s nicht. Kopf ist noch dick.4
An Berta war auch bereits 1908 die berühmte Widmung auf der Rückseite mit dem Foto Tucholskys gerichtet, in der er ihr ohne Scheu anvertraute:
Außen jüdisch und genialisch, innen etwas unmoralisch, nie alleine, stets à deux: – der neveu!
Berta kehrte später wieder nach Berlin zurück. Die Tatsache, dass sie sich Jahre vorher in Wien hatte evangelisch taufen lassen, war keine Garantie dafür, dass sie den nationalsozialistischen Schikanen entgehen konnte. Von der »Judenvermögensabgabe« wurde sie nicht befreit, 1938 musste sie daher »auf Grund der Durchführungsverordnung über die Sühneleistung der Juden vom 21. November 1938 (Reichsgesetzblatt I S. 1638)« die für sie festgelegte Abgabe von 1.400 Reichsmark zahlen, was »20 von hundert des angemeldeten Vermögen« entsprach. Abzuleisten war die Zahlung in Teilbeträgen von 350 Reichsmark. Bei nicht rechtzeitiger Zahlung drohte ein Säumniszuschlag von zwei von hundert des rückständigen Betrages. Bei nicht erfolgter Zahlung erfolgte die Zwangsvollstreckung5.
Berta Tucholsky wurde am 29.8.1942 in Theresienstadt ermordet, sie wurde 83 Jahre alt. Als Todesursache nannte ihre Todesfallanzeige: »Erschöpfung der Herzkraft«. Ihr Name ist auf dem Grabstein ihrer Schwester Flora, die bereits am 20. August 1929 in Berlin gestorben war, auf dem jüdischen Friedhof Weißensee in Berlin verewigt (Feld A 7).
Bettina Müller
Die Autorin steht kurz vor der Vollendung eines 35seitigen Aufsatzes mit weiteren neuen Erkenntnissen über die Familie Tucholsky, u.a. über ihre amerikanische Verwandtschaft (Veröffentlichungsort und -termin stehen noch nicht fest); Kontakt: b-mueller-koeln@t-online.de)
1 Bemmann, Helga: Kurt Tucholsky. Ein Lebensbild. Berlin 1990. S. 55.
2 vgl. Brief Berta Tucholsky an Mark Twain (Samuel L. Clemens) v. 2.3.1898, Wien, in: Mark Twain Project and papers, University of Berkeley, California, Signatur UCLC 46196
3 Currer Bell (= Charlotte Brontё): Jane Eyre. 1927, S. 335
4 aus einem Brief an seine zweite Ehefrau Mary Tucholsky, Berlin, v. 18.1.1928, in: Kurt Tucholsky Gesamtausgabe 19, S. 9
5 vgl. Bescheid über die Judenvermögensabgabe v. 6.12.1938 an Berta Tucholsky, Berlin, in: Akademie der Künste, Literaturarchiv, Tucholsky 197; 03 Persönliche Dokumente
Anmerkung: Eine leicht veränderte Version dieses Beitrags erschien am 28. Dezember 2017 im Neuen Deutschland.
Die Presseschau erscheint dieses Mal sogar mit Preisrätsel.
Ulrich Sander, Journalist, Buchautor und Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), fährt jeden Montag nach Wuppertal, um im Landesbüro der VVN-BdA nach dem Rechten zu sehen. In Ossietzky, Heft 16/2017, berichtet er in der Ausgabe vom 26. August 2017, S. 561ff., über eine Begegnung mit einem erblindeten Menschen am 19. Januar 2015 auf eben diesem Weg, die bei ihm zu verschiedensten Assoziationen zum Wort »Blindsein« führt.
Sein Artikel beginnt wie folgt:
Augen in der Großstadt ist eines der schönsten Gedichte, die ich kenne. Es ist ein Gedicht von Kurt Tucholsky. Es heißt darin:
Du musst auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein…
Es sieht hinüber
und zieht vorbei…
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
was da war?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.1
In der gleichen ossietzky-Ausgabe, diesmal Seite 579, sinniert Matthias Biskupek ironisch-satirisch über die Bedeutung bzw. Notwendigkeit von »Schnipseln«, mal auch »Aphorismen« oder sogar »geistreiche Sinnsprüche«. Natürlich darf bei so einer Betrachtung ein Hinweis auf den »größten Schnipsler aller Zeiten« (diese Bewertung stammt von dem Unterzeichner) – unseren Namensgeber – nicht fehlen.
Biskupek kriegt die entsprechende Kurve wie folgt:
Wir könnten an dieser Stelle den Text bis auf höchste Zinnen, also über alle Sinne Treiben, wollen aber doch nun endlich die Produktionsmethode von Aphorismen verraten. Man suche einen Text wie diesen und entnehme daraus folgendeAphorismen:
1. Auch Schnipsel können eine Seite füllen.
2. Langweilig ist noch nicht ernsthaft.
3. Auch geistreiche Sprüche benötigen ein Portal.
4. Wenn einer nichts gelernt hat, dann organisiert er. Wenn einer aber gar nichts gelernt und nichts zu tun hat, dann macht er Propaganda.
5. »Twittern« ist nur für Menschen mit abnehmendem Verstand
6. Wer lobt, wird selten nach seiner Aktivlegitimation gefragt.
7. Wer nicht gern nimmt, kann uns gern haben.
8. Erwarte nichts. Heute: das ist dein Leben.
9. Humor ruht oft in der Veranlagung von Menschen, die kalt bleiben, wo die Masse tobt, und die dort erregt sind, wo die meisten nichts dabei finden.
10. Er war eitel darauf, nicht eitel zu sein.
11. Er trug sein Herz in der Hand und ruhte nicht eher, bis sie ihm aus der Hand fraß.
12. Wann macht man aus der Gleichberechtigung endlich eine Gleichberichtigung?
Sie Sehen, wir haben im Nu ein Dutzend Aphorismen bei der Hand. Gewiss, die Nummern (…)* stammen von Kurt Tucholsky und wurden als Schnipsel in der Weltbühne 1931 und 1932 gedruckt.
*Nun das Preisrätsel.
Zuerst das Rätsel: Welche der obigen Aphorismen stammen von unserem Namensgeber?
Jetzt der Preis: Eine Essenseinladung mit Getränken bei dem Unterzeichner in Minden ohne Übernahme der Fahrt- und eventuellen Übernachtungskosten. Werden zusätzlich noch die Fundstellen richtig angegeben, gilt die Einladung zu den gleichen Konditionen auch für eine Begleitperson. Einsendeschluss ist der 6. Januar 2018, 24:00 Uhr.
Entscheidend ist im Zweifelsfalle der Poststempel, aber nur falls eine #FreeDeniz-Briefmarke benutzt wird.
Bei mehreren richtigen Einsendungen hat allein der Unterzeichner ein Wahlrecht, mit wem er am liebsten dinieren möchte.
In der taz vom 4. November 2017 bespricht der Autor Helmut Höge ein Buch von Cat Warren, erschienen im Kynos-Verlag 2017: Der Geruch des Todes. Einsätze eines Leichenspürhundes unter der Überschrift: Drogen, Bomben, Leichen. Weil unser Geruchssinn verkümmert ist, trainieren wir Leichenspürhunde. Aber auch Bienen und Schimpansen haben eine feine Nase.
Und wie nicht anders zu erwarten, muss bei einem Buch über Hunde auch der spezielle »Hundefreund« Kurt Tucholsky zu Wort kommen.
Der englische Soldat Hugh Loftin verfasste 1917 – umgeben von toten Tieren und Menschen auf dem Schlachtfeld – ein Kinderbuch, das berühmt wurde: »Dr. Dolittle und seine Tiere«. Kurt Tucholsky schrieb: »Es kommt darin Jip, der Hund von Dr. Dolittle, vor, der sehr gut riechen kann. Einmal lag er auf dem Deck eines Schiffes und witterte, wo der verlorene Onkel wohl sein könnte (es war da ein Onkel verloren gegangen). Er stellte sich hin, zog die Luft ein und analysierte. Dabei murmelte er: ›Teer, spanische Zwiebeln, Petroleum, nasse Regenmäntel, zerquetschte Lorbeerblätter, brennender Gummi, Spitzengardinen, die gewaschen – nein, ich irre mich, Spitzengardinen, die zum Trocknen aufgehängt worden sind, und Füchse – zu Hunderten – junge Füchse – und Ziegelsteine‹, flüsterte er ganz leise, ›alte gelbe Ziegel, die vor Alter in einer Gartenmauer zerbröckeln; der süße Geruch von jungen Kühen, die in einem Gebirgsbach stehen; das Bleidach eines Taubenschlags – oder vielleicht eines Kornbodens – mit daraufliegender Mittagssonne, schwarze Glacéhandschuhe in einer Schreibtischschublade aus Walnussholz; eine staubige Straße mit Trögen unter Platanen zum Pferdetränken; kleine Pilze, die durch verfaultes Laub hindurchbrechen‹, und – und – und. Das ist nicht gemacht – das ist gefühlt«2, freute sich Tucholsky.
Bernd Brüntrup, mit Dank an Philipp Müller. Wie immer können alle vollständigen Texte bei der Geschäftsstelle abgerufen werden.
1 Theobald Tiger, AIZ (1930), Nr. 11; GA, Bd. 13, S. 97f.
2Peter Panter, Voss 10.12.1925; GA, Bd. 7, S. 540ff, 543
Großstadt – Weihnachten
Nun senkt sich wieder auf die heim’schen Fluren
die Weihenacht! die Weihenacht!
Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,
wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.
Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?
Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.
Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,
den Aschenbecher aus Emalch glasé.
Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen
auf einen stillen heiligen Grammophon.
Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen
den Schlips, die Puppe und das Lexikohn,
Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
»Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!«
Und frohgelaunt spricht er vom ›Weihnachtswetter‹,
mag es nun regnen oder mag es schnein,
Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,
die trächtig sind von süßen Plauderein.
So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden
in dieser Residenz Christkindleins Flug?
Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden …
»Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.«
Theobald Tiger in: Die Schaubühne, 25.12.1913, Nr. 52, S. 1293.