Zwei Linke schlagen zurück:

Tucholsky- und Eisler-Gesellschaft
tagten in Berlin

Von Ian King
Was braucht Deutschland nach einer angeblichen Schicksalswahl mit anschließendem politischen Chaos? Vielleicht einen Linken? Nein, gleich zwei, denn die Kurt Tucholsky- und die Hanns Eisler-Gesellschaften traten vom 3. bis zum 6. November in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin in der Breiten Straße mit vereinten Kräften vors Publikum. Zum scharfen Zeitkritiker gesellte sich also der politisch engagierte Komponist, der zwischen 1929 und 1961 vierzig Tucholsky-Gedichte meisterhaft vertonte. Packende Referate, musikalische Prachteinlagen, darunter eine Weltpremiere – den Organisatoren ein dickes Lob!

Schon als Ouvertüre bewiesen drei Forschungsberichte, dass Tucholsky, die Kassandra der Weimarer Republik, noch heute von Frankreich über die Ukraine bis Japan alle Altersklassen zu begeistern vermag. (Besonders beeindruckend: Yuko Yamaguchi aus Tokio.) Ähnliche Identifizierung mit dem Schriftsteller beim Festredner Peter Ensikat. Ihm wie anderen Anwesenden geben die Texte des 1935 im schwedischen Exil durch eigene Hand Gestorbenen noch heute Orientierung und Lebenshilfe.

Ebensowenig zweifelten die Sonntagsgäste im Deutschen Theater an Tucholskys Aktualität. Vor allem, als Holger Daemgen ein im Hinblick auf die Weimarer Koalitionsregierung geschriebene Gedicht in der an dieser Stelle geradezu tänzelnden Eisler-Vertonung zum Besten gab:

...Freundlich schaun die Schwarzen und die Roten,
die sich früher feindlich oft bedrohten.
Jeder wartet, wer zuerst es wagt,
bis der eine zu dem Andern sagt:
"Schließen wir 'nen kleinen Kompromiss!..."

Im März 1919 – oder im November 2005? Die Zuhörer verstanden: Beides.

Am Freitag befasste sich Professor Dieter Mayer aus Mainz mit Tucholskys Verhältnis zu Bildern und Fotos: Seine 38 Gedichte für Münzenbergs Arbeiter Illustrierte Zeitung wurden wieder lebendig. Das ironisch betitelte Deutschland, Deutschland über alles, mit Tucholsky-Texten und Fotomontagen von John Heartfield erzeugte wieder seine aufrüttelnde Wirkung. Endlich bekannte sich ein deutscher Germanist zu Tucholskys schärfstem politischen Werk.

Dann Christine Hellwegs Analyse der Tucholsky/Eisler-Beziehung, vielleicht das Schlüsselreferat der Tagung. Keine persönliche Begegnung ist bekannt; als Vermittler diente Ernst Busch. Der "Tauber der Barrikaden" brauchte neue Chansons, legte dem Komponisten Tucholsky-Gedichte – und 50 Reichsmark! – vor. So entstanden Meisterstücke wie "Wenn die Igel in der Abendstunde..", diese Parodie auf den deutschen Männergesangverein, und das bewegende Antikriegslied "Der Graben".

Die meisten musikalischen Höhepunkte kamen gegen Mitte der Tagung. Peter Siche und Klaus Schäfer führten ihr Tucholsky-Kabarettprogramm vor. (Besondere Leckerbissen: "Einigkeit und Recht und Freiheit", wo Text und Melodie vor Ironie gleichermaßen triefen, sowie Tucholskys Würdigungen von Heinrich Zille und Toulouse-Lautrec.) Als Kontrast einen Tag später die Uraufführung von Tucholsky-Liedern, von Paul Prenen vertont, und die deutsche Erstaufführung anderer Chansons des Niederländers Kees Arntzen. E- statt U-Musik, von Henriette Schenk mit Hingabe und Bravour gesungen. Nur kamen dabei manchmal Tucholskys Worte zu kurz.

Albrecht Dümling, Vorsitzender der Eisler-Gesellschaft, hatte vorher allen Anwesenden erklärt, dass Tucholskys Vorliebe eher Alt- als Sopranstimmen galt, deren Besitzerinnen auch noch burschikos auftreten sollten. Im informativsten Referat der Tagung spielte er klassische Platten von Tucholskys Lieblingen vor. Claire Waldoff und Fritzi Massary, aber auch Sophie Tucker und Whispering Jack Smith traten aus den gedruckten Seiten der Gesamtausgabe hervor, führten ein musikalisches Eigenleben, wie vor 80 Jahren auf Tucholskys Grammophon.

Das letzte Referat, vom ehemaligen Tucholsky-Herausgeber und Feuilleton-Chef der Zeit, Fritz J. Raddatz, brachte trotz erwartungsvollem Publikum wohl das Wenigste. Lob für Mary Tucholsky, die geschiedene Witwe, Alleinerbin und Raddatz-Förderin. Das hat Mary redlich verdient, ich habe sie auch gekannt und geschätzt. Nur: So viel Raddatz war nie. Auch einer, der in den 50er und 60er Jahren in beiden deutschen Staaten große editorische Leistungen gebracht hat, kann zu lange an der Sache bleiben und ihr dadurch schaden. Dass Raddatz für seinen Kollegen beim Verlag Volk und Welt, Roland Links, kein Wort der Anerkennung, für die Nachfolger bei der Oldenburger Gesamtausgabe nur Häme fand, zeugt nicht von Großmut.

Zum Glück war der diesjährige Gewinner des Tucholsky-Preises nicht nur ein Bruder im Geist, sondern einer, der den Satiriker bestens verstand. Der im September mit 95 verstorbene Erich Kuby wurde für sein kritisches Engagement und seinen geschliffenen Stil postum geehrt. Eine gute Wahl, wie aus der Laudatio von Heinrich Senfft und den vorgelesenen Kuby-Texten hervorging. Seine Witwe Susanna, Germanistin und ebenfalls Tucholsky-Kennerin, empfing den Preis für das Lebenswerk ihres Mannes.

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