Reminiszenzen einer Tagung

Von Ludwig-Wilhelm Müller
Der Begrüßungsvortrag von Peter Ensikat war mir und vielen anderen ganz aus dem Herzen gesprochen. Ich hätte meine eigene über die Jahre gewachsene Beziehung zu Kurt Tucholsky nicht anders und schon gar nicht besser darstellen können. Ein verheißungsvoller Auftakt!

Die Forschungsberichte sind für mich ein unverzichtbarer Teil der Tagungen, dem meine ganze Sympathie und Aufmerksamkeit gehören. Ich finde es immer wieder spannend und bin stets überrascht, unter welch neuen Aspekten man sich dem Leben und Werk Kurt Tucholskys annähern kann.

Bei "Kurt Tucholsky und die Bilder" war ich mit meinen Gedanken vor allem bei John Heartfield und seinen Fotomontagen, mit denen er eindringlich, ja geradezu beschwörend vor den Folgen des Nationalsozialismus gewarnt hat. Dazu hatte Tucholsky 1930 geschrieben: "Es kommt darauf an, die Fotographie – und nur diese – noch ganz anders zu verwenden: als Unterstreichung des Textes, als witzige Gegenüberstellung, als Ornament, als Bekräftigung – das Bild soll nicht mehr Selbstzweck sein. Man lehre den Leser, mit unseren Augen zu sehen, und das Foto wird nicht nur sprechen: es wird schreien."

Meine Frau und ich warteten auf den Beginn des nächsten Vortrags – es war noch etwas Zeit. Neben uns saß Yuko Yamaguchi – ihr Haar glänzte wie Lack. Und ich erzählte diesem seidenen Kind davon, wie groß unsere Dichter sind, zum Beispiel Heinrich Heine, ein Bruder im Geiste Kurt Tucholskys. Sie kannte ihn natürlich aus den Deutsch-Seminaren ihrer Universität in Tokio. Als ich "Sie saßen und tranken am Teetisch ..." rezitierte, wandte sich aus der Sitzreihe vor uns die Begleiterin des Ehepaares Degournay, eine französische Dozentin des Goethe-Instituts in Paris, lächelnd zu uns um und lauschte "ihrem" Henry Heine. Für sie gab es dann noch als Zugabe aus "Atta Troll" in Tucholskys "Ein Pyrenäenbuch":

"Rings umragt von dunklen Bergen,
Die sich trotzig übergipfeln,
Und von wilden Wasserstürzen
Eingelullet wie ein Traumbild,
Liegt im Tal das elegante Cauterets."

Frank-Burkhard Habel parlierte locker vom Hocker über "Tucholsky und der Film". Dass Tucho ein Filmdrehbuch geschrieben hat, war mir bisher nicht bekannt. Und nett und interessant wie immer die Begegnungen und Gespräche mit alten Bekannten am Rande der Tagung. Bernd Brüntrup brachte mir – antiquarisch erworben – ein Bändchen voller Ringelnatz-Gedichte mit. Ich war gerührt und erfreut. Tucholsky hat seine Lieblingsgeschichte von Joachim Ringelnatz, und zwar "Durch das Schlüsselloch eines Lebens", in seinem Artikel "Ein jeder lebts" in der Weltbühne vom 2.11.1922 besprochen. Diese Besprechung schließt wie folgt: "Wer hat so viel Achtung und Liebe vor fremdem Leben, vor der fremden Fülle, der Wichtigkeit der anderen, den Mikrokosmen der andern ...? Wer ist dieser Hans Bötticher? Wer? Unser Joachim Ringelnatz".

Eduard Schynol warb für "Kurt T. – ein Biographical", das am 9. Januar 2006 im Stadttheater Minden Premiere hat. Meine Frau und ich werden dabei sein. Ruth Niemann und Helga Irmler wirkten als gute Geister, die in keinem Programmheft auftauchen, im Hintergrund und trugen auf ihre stille Art zum Gelingen der Tagung bei.

Bei "Fratzen auf dem Nachttisch" faszinierte mich wieder einmal mehr mein Lieblingsfeuilleton mit dem Titel "Gesicht", das Tucholsky zu einer Zeichnung von George Grosz aus dessen Mappe "Das Gesicht der herrschenden Klasse" geschrieben und diesem auch gewidmet hat.

Ein Glanzlicht der Tagung: der Vortrag von Dr. Albrecht Dümling, der anhand von Musikbeispielen eloquent und amüsant über Kurt Tucholskys Schallplatten und Musik plauderte – ein wahrer Ohrenschmaus. Ich mußte danach an den Schluß von "Ein Wirtshaus im Spessart" denken, wo es heißt: "Der Neger singt 'Daddy – o Daddy!', die Musik arbeitet, eine kleine Glocke läutet, jemand sagt ,No more‘, und dann ist alles zu Ende." Übrigens: wie wäre es denn einmal mit einer kleinen Tagung im Spessart, auf den Spuren von Daddy, Jakopp und Karlchen – selbst auf die Gefahr hin, dass es danach bei uns allen heftig nachmöpselt?

Auf dem Wege zum Deutschen Theater fiel mir, als ich an unser Stadttheater in Bremerhaven dachte, eine Karikatur von Eduard Thöng aus dem "Simplicissimus" ein: Drei Herrschaften aus der Großstadt sitzen in der Loge eines Provinztheaters und eine von ihnen sagt: "Man merkt doch gleich die Kleinstadt, alles glotzt nach der Bühne."

Die Matinee bot mit dem von Volker Kühn zusammengestellten Programm "Eisler meets Tucholsky" einen würdigen Rahmen für die postume Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises an den Publizisten Erich Kuby. Der Glanzpunkt war für mich "Die Nachfolgerin" in der Interpretation von Katherina Lange. Na, herzlichen Glückwunsch! Eindrucksvoll die zum Abschluß von Ulrich Matthes exzellent gelesenen Texte von Erich Kuby. Ein noch lange nachwirkendes Erlebnis.

Fazit: Für meine Frau und mich war es eine der gelungensten Tagungen, seitdem wir in den Verein hineingetreten sind.

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