Wer die Schule hat, hat das Land

Von Frank-Burkhard Habel
Vor fast genau 80 Jahren, in der Weltbühne Nr. 19/1926, schrieb Ignaz Wrobel: »Die preußische Schule ist ein Hort der Reaktion. Die preußische Schule tut heute noch das, was sie immer getan hat: sie verdummt und verplattet die Gehirne. Und macht aus jungen Leuten, die zu gebildeten Männern erzogen werden sollten, drillfertige Unteroffiziere und aufgeblasene Assessoren, Untertanen und Obertanen.« Das mag damals auch für Minden in Westfalen gegolten haben. Doch heute überzeugten sich die Teilnehmer der Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft in der ehemaligen preußischen Garnisonsstadt davon, dass sich trotz aller Bedenken doch viel geändert hat.

Das Tagungsmotto bezog sich auf einen Text von Kaspar Hauser, der kurz nach dem Ersten Weltkrieg in der Weltbühne geschrieben hatte: »Wer die Schule hat, hat das Land. / Aber wer hat die bei uns in der Hand! / Du hörst schon von weitem die Schüler schnarchen. / Da sitzen noch immer die alten Scholarchen, / die alten Pauker mit blinden Brillen, / sie bändigen und töten den Schülerwillen. / Und lesen noch immer die alte Fibel / und lehren noch immer den alten Stiebel.« Dass sich seither denn doch etwas geändert hat, ist unbestritten. Tucholskys Texte stehen in Lehrbüchern, und ein halbes Dutzend Schulen trägt in der Bundesrepublik seinen Namen. Doch während im Schulalltag oft vergessen wird, an den Namenspatron anzuknüpfen, ist es an der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule in Minden anders. Tucholsky ist in dieser Schule nicht nur in verschiedenen Bildwerken präsent, sondern seine Zitate gehören hier zum Gemeingut. Die Schule bildet die Keimzelle der Tucholsky-Bühne, die weit über Mindens Grenzen hinaus wirkt und in diesem Jahr mit Hebbels »Nibelungen« (vielleicht etwas weit hergeholt) an Tucholskys Heimatbegriff anknüpfte.

An der Tucholsky-Schule ist man stolz darauf, dass hier Schüler aus über 30 Nationen unterrichtet werden. Toleranz im Umgang mit denen, die wie auch immer »anders« sind, wird groß geschrieben. Jeder Jahrgang hat zwei Integrations-Klassen, in denen »normale« Schüler gemeinsam mit solchen, die eine körperliche oder geistige Behinderung aufweisen, das Klassenziel erreichen sollen. Statt 30 werden hier nur 24 Schüler unterrichtet, wobei in jeder Stunde mindestens zwei Lehrer den Unterricht begleiten. Diese Klassen gehören zu den beliebtesten unter Schülern und Eltern.

Die vielfältigen Aktivitäten der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule boten den Anlass dafür, diese Jahrestagung in Minden abzuhalten, und die Mindener Freunde ließen sie mit guter Organisation und großer Gastfreundschaft zu einem Erfolg werden. Ganz unterschiedliche Aspekte aus dem wechselseitigen Verhältnis von Tucholsky und dem Bildungswesen standen im Mittelpunkt.

Mit viel Fingerspitzengefühl erarbeitete Beispiele dafür, wie mit Tucholskys Texten im Deutschunterricht gearbeitet werden kann, gab unser früheres Vorstandsmitglied, der Germanist Uwe Wiemann. Er wies auch darauf hin, dass mit der angestrebten Vereinheitlichung des Unterrichts der Spielraum für Lehrer kleiner wird, Autoren zu behandeln, die wegen ihrer Systemkritik nicht unbedingt das Wohlwollen von Bildungsbeamten genießen.

Einen wichtigen Aspekt der Tagung lieferten Schüler, die sich an Projekte in Tucholskys Geist wagten. Neben den Mindenern, die in Eigenregie eine Anne-Frank-Ausstellung initiiert hatten, waren Schüler aus der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule in Krefeld gekommen. Sie stellten in einem audiovisuellen Vortrag ihre auch architektonisch außergewöhnliche Schule vor und berichteten von ihrem Einsatz für die Anbringung von »Stolpersteinen« in Krefeld, ein Projekt, das hier schon an anderer Stelle gewürdigt wurde.

Ausgerechnet am Tagungswochenende sollte in Minden ein Neonazi-Aufmarsch unter dem demagogischen Motto »Gegen Rentenkürzung und Sozialabbau« stattfinden. Ein breites Bündnis rief zur Gegendemonstration auf, und Schüler wie Tagungsteilnehmer beteiligten sich daran. Die auffälligsten Plakate hatten die Schüler der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule angefertigt. Unser Vorsitzender Wolfgang Helfritsch und die Vorstandsmitglieder Renate Bökenkamp und Frank-Burkhard Habel rezitierten auf der Gegendemo Tucholsky-Texte, aber die ironisch vorgetragene Aufforderung »Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!«, musste nicht in die Tat umgesetzt werden. Die wenigen Nazis brachen schon nach wenigen hundert Metern ihren Marsch ab und lösten ihren Aufzug (vorerst) auf.

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