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[Rezension] Tucholskys Spiegel: Oper-Premiere in Rheinsberg

Diese Rezension beginnt mit einem Geständnis. Ich schätze eher das klassische Opern-Repertoire, von Siegfried Jacobsohns geliebtem Mozart bis zu SJs Feind Wagner. Bin also Opern-Fan, aber kein Experte. Wie es Tucho selbst formulierte, kommt es im Künstlerischen nur auf ein Kriterium an: die Gänsehaut. Bei moderner E-Musik fehlt sie sehr häufig bei mir.
Ausnahme: James Reynolds‘ Partitur. Von Jazz-Einlagen mit Flair der zwanziger Jahre bis zur latenten Bedrohung (man tanzte auf einem Vulkan) steckt atmosphärisch alles drin. Tucho und die NS-Gegenspieler, die ihn die Worte »Giftspeiender Jude!« an den Kopf werfen — wunderbar herausgearbeitet. Das ist nicht in erster Linie MODERNE Musik, sondern vor allem zum Thema PASSENDE Musik, die von einem aufgeweckten Publikum begeistert aufgenommen wurde.
Zweites Lob: dem ideenreichen, innovativen Organisator und gutem Geist des Ganzen, Frank Matthus sowie seinem Regisseur Robert Nemack. Ich hatte mit Vorstandskollegin Jane Zahn schon bei einem Expertensymposium im Mai Gelegenheit, Frank kennenzulernen: Auf diesen Charismatiker müsste Rheinsberg, ja ganz Brandenburg stolz sein. Und Nemack! Die Bühne als Boxring für Tucholskys Kampf um ein demokratisches Deutschland: eine gelungene Idee! Die Beweglichkeit des Ensembles, unter Benutzung der Gänge und des Zuschauerraums: bewusst verunsichernd, hier wollte niemand einschlafen. Jeder wartete gespannt auf den nächsten Regieeinfall.
Die Sänger und Sängerinnen; Wenn ich hier alle, darunter den bekannten Countertenor Jochen Kowalski, und ihre Meriten loben sollte, müsste dieser Rundbrief um vier Seiten verlängert werden. Also soll hier eine für alle stehen: die energische, humorvolle, bei Gelegenheit angsteinflößende Mezzosopranistin Felicitas Brunke. Sicher zum Teil auch als Darstellerin von Mary Tucholsky, aber nicht nur deswegen, hat sie bei mir einen Stein im Brett. Singen kann sie, können sie alle. Ein tolles, aufeinander eingestimmtes Ensemble.
Also eine völlig positive Kritik? Leider nicht. Am Libretto war die Idee mit Pseudonymen, Freundinnen und Gegnern , die Tucholskys Charakter von vielen Seiten beleuchteten, bewundernswert. Aber durch Zerhacken der Figur in die einzelnen Pseudonyme ging m.E. die Tatsache verloren, dass sie fünf Finger an einer Hand sind. Der innere Kompass, der allen PS eigen war, fehlte. Weiter: Christoph Klimke war wohl ein verdienstvoller Rheinsberger Stadtschreiber, wir sind dankbar, dass er mit diesem Libretto Tucholsky ein Denkmal gesetzt hat. Aber er hat meiner Ansicht nach die Größe seiner Hauptfigur nicht verstanden. Ist das Gedichtchen Der Pfau wirklich Tucholskys entscheidendes Werk und nicht etwa Der Graben? Mein Lieblingspseudonym, der politische Kämpfer und Friedensfreund Ignaz Wrobel, war nur als Gegner von Rosa Luxemburg und Zielscheibe einer Kritik von Karl Kraus präsent, eine Verniedlichung, die an die misslungene Anthologie von Hermann Kesten in den 1950er Jahren erinnert.
Die kleine Hosenrolle des Melancholikers Kaspar Hauser ging fast ganz unter: schwere Versäumnisse. Dass Tucholskys Alter Ego am Schluss Tucholskys Spiegel anzünden sollte, wie ursprünglich im Libretto vorgesehen, war ein schwerer Fehle: das hätte Tucholsky-Freunde an die öffentliche Verbrennung von Tucholskys Büchern erinnert, vielleicht auch ans tragische Schicksal seiner ersten Ehefrau Else in Birkenau. Zum Glück wurde diese Idee fallengelassen. Aber es blieb am Schluss ein Antiklimax zurück. Bei Wagners Tannhäuser muss der Stab des Papstes Knospen bekommen; bei Faust I darf die Stimme von oben »ist gerettet« auch nicht fehlen. Hier blieb bei vielen Zuschauern ein Fragezeichen.
Trotz alledem: Dass 82 Jahre nach dem einsamen Tod in Schweden eine Oper über unseren Namenspatron gespielt wird, ist eine tolle Sache. »Ich bekomme recht, wenn’s mich nicht mehr gibt«, resümiert die Tucholsky-Gestalt. Matthus, Reynolds, die Sängerinnen und Sänger haben dafür gesorgt, dass Tucho recht bekommt. Es liegt an uns, das gleiche Ziel anzustreben.

Ian King

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