Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft
- August 2003-

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1. KTG-Aktivitäten
2. Nachrichten aus der Gesellschaft
3. Aus der Wissenschaft
4. Vermischtes/"Weltbühne"

 

 
  KTG-Aktivitäten

Stellungnahme des Vorstandes

Unter dem Titel "Struck wähnt gar Tucholsky an seiner Seite" erschien am 18. Juni 2003 im "Neuen Deutschland" ein Artikel von Volker Stahl über das erste öffentliche Rekrutengelöbnis seit 26 Jahren in Hamburg. Selbstverständlich blieben Proteste während der von Verteidigungsminister Peter Struck begleiteten Veranstaltung nicht aus. Im ND heißt es:

Demonstranten erklommen ein Gebäude an den Alsterarkaden und entrollten ein Plakat mit der Aufschrift: "Tucholsky hat Recht." Die Aussage spielt auf das berühmte "Soldaten sind Mörder"-Zitat des berühmten Schriftstellers an. Der Bezug auf die Bundeswehr ist verfassungsgerichtlich untersagt. Struck interpretierte Tucholsky zur Freude der anwesenden Uniformträger: "Wenn Tucholsky heute leben würde, hielte er die Auslandseinsätze der Bundeswehr für richtig."

Der Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft hielt es für richtig, einen Leserbrief zu verfassen, der am 21.Juni veröffentlicht wurde und der unseren Mitgliedern nicht vorenthalten werden soll:

Betrifft: Ihren Beitrag "Struck wähnt gar Tucholsky an seiner Seite" im ND vom 18. Juni 2003.

Da sage noch einer, die Deutschen änderten sich nicht. Der leibhaftige Bundesverteidigungsminister ruft Kurt Tucholsky als Kronzeugen für seine - unseres Erachtens irrige - Ansicht über Bundeswehreinsätze im Ausland auf. Vielleicht wird Peter Struck eines Tages sogar noch Mitglied unserer Gesellschaft.

(Eckart Rottka)

gez. Dr. Wolfgang Helfritsch

Gesichter eines Europäers in Trier ein voller Erfolg

Bis zum 9. April fand, wie bereits im letzten Rundbrief berichtet, die Veranstaltungsreihe "Kurt Tucholsky - Gesichter eines Europäers" statt. Gemeinsamer Veranstalter des grenzüberschreitenden Projektes waren das IFB Regionalzentrum Saarburg, das Kulturdezernat der Stadt Trier, die Kurt-Tucholsky-Gedenkstätte Rheinsberg und die KTG. Die Ausstellung wurde ergänzt durch Kabarett- und Liederabende und literarische Fortbildungen. Den Veranstaltern ging es um eine "konsequente Leseförderung auf unterschiedlichsten Ebenen". Mit dem Projekt sollte ein Netzwerk ins Leben gerufen werden, das Schulen, Volkshochschule, Universität, Stadtbibliothek, Kulturbüro und Buchhandlungen miteinander verknüpft und sowohl Jugendliche als auch Erwachsene anspricht. Ziel war es, auf interkultureller Ebene ein Forum für verschiedene Zugänge zu Literatur zu schaffen, das zu "lebenslangem Lernen" anregt.

Das Projekt wurde durchweg gut aufgenommen. Mehr als 2000 Besucher sahen die Ausstellung, auch die übrigen Veranstaltungen wurden zumeist gut besucht. In der Presse wurde das Projekt ausgiebig gewürdigt.

Tucholsky wurde als "Thema" gewählt, weil seine Werke sowohl in der Form vielseitig als auch in der Ausrichtung oft interkulturell sind. Es wäre begrüßenswert, wenn unter diesem Aspekt ähnliche Kultur- und Bildungseinrichtungen das Prinzip übernehmen und den Autor bekannter machen würden.


 
  Nachrichten aus der Gesellschaft

Aus dem Arbeitskreis Schulen

Sind Tucholskys Auffassungen noch "in"?

Über eine Begegnung bundesrepublikanischer Kurt-Tucholsky-Schulen anlässlich eines Meetings zum Tucholsky-Geburtstag in Minden

Zugegeben: Es war nicht gerade eine Massenveranstaltung, dieses 1. Treffen von Schülern und Lehrern bundesrepublikanischer Tucholsky-Schulen am 11. und 12. Januar des gerade angebrochenen Jahres 2003 in Minden. Aber immerhin: Es kam zustande, nachdem vorherige Bemühungen, den Kontakt der Namensträger zueinander und zum Vorstand zu befördern, nicht gerade auf begeisterte und nachhaltige Resonanzen gestoßen waren. Der Pessimist würde konstatieren, dass auch diesmal nur die Hälfte der insgesamt sechs Tucholsky-Schulen dem Ruf folgte - wir wollen optimistisch feststellen, dass es immerhin gelang, 50 Prozent der Einrichtungen für einige Stunden am langen Tisch in der schuleignen Mediathek zusammenzuführen. Und doch: Es blieben etliche Plätze frei...

Initiiert wurde die Begegnung vom Tucholsky-Arbeitskreis der ostwestfälischen Gesamtschule und vom Vorstand der KTG. Beide hatten, in ihrem Vorhaben engagiert unterstützt von der Mindener Schulleitung, in die historische Stadt an der Weser zum gegenseitigen Kennenlernen und zu einem ungeschminkten Erfahrungsaustausch eingeladen. Und ganz im Gegensatz zur jahreszeitgemäß überfrorenen Weser war die Stimmung alles andere als eisig, wozu der sachkundig und locker moderierende Arbeitskreis-Vorsitzende Bernd Brüntrup nicht unwesentlich beitrug.

Da das Treffen sinnvollerweise in die schon traditionelle januar-jährliche Geburtsfete zu Ehren des streitbaren und prinzipienfesten Humanisten eingebettet war, wurde die Exkursion in eine gleichnamige Bildungsstätte für die angereisten Lehrer und Schüler der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule Krefeld und des Hamburger Kurt-Tucholsky-Gymnasiums zugleich zu einem unaufdringlichen Anschauungsunterricht in Sachen Werkpflege. War doch der von Lehrern, Schülern und Eltern dargereichte literarisch-musikalische Geburtstagsstrauß ein Beispiel dafür, wie man mit Engagement, Ideenreichtum auch bei sparsamen Mitteln eine würdige und vor allem aktuelle Gratulation ausbringen kann.

Da lasen Lehrer und Schüler Auszüge aus Tucholskys 90 Jahre zuvor veröffentlichter amüsanter Rheinsberg-Novelle, da bot ein aus Eltern und Lehrern gemischter Chor Chansons des Autors, da präsentierte sich wiederholt und erwartungsgemäß die von Eduard Schynol geleitete und bewährte Tucholsky-Bühne, und da wurde mit Bedrückung vernommen, was Kurt Tucholsky einst zu den Ursachen und zur demagogischen Vorbereitung von Völkern auf Kriege artikuliert hatte:

"Der moderne Krieg hat wirtschaftliche Ursachen. Die Möglichkeit, ihn vorzubereiten und auf ein Signal Ackergräben mit Schlachtopfern zu füllen, ist nur gegeben, wenn diese Tätigkeit des Mordens vorher durch beharrliche Bearbeitung der Massen als etwas Sittliches hingestellt wird. Der Krieg ist aber unter allen Umständen tief unsittlich."

Wie sich die Bilder gleichen

Zum wiederholten Male konnte sich der Berichterstatter davon überzeugen, daß die kurzweiligen Abendstunden im Mindener Preußenmuseum - die Würdigung des unbelehrbar pazifistischen Schriftstellers im unverkennbaren Mauerwerk einer altge-dienten preußischen Kaserne wirkte geradezu als ein zusätzliches, eigens für den Anlass provoziertes Symbol - alles andere als nur schulinterne Pflichtübungen waren. Zusätzliche Sitzgelegenheiten mussten herangeschafft werden, da wiederum mehr Eltern als erwartet herangeströmt waren, und die Anwesenheit kommunaler Prominenz, so der stellvertretenden Bürgermeisterin, erhob die Gratulationsfeier zu einem geradezu städtischen Ereignis.

Aber zurück zum Meinungs- und Erfahrungsdisput der Tucholsky-Schulen, an dem sich neben den Gästen, dem Tucholsky-Förderkreis, Elternsprechern und der Leitung der Mindener Gesamtschule Tucholskys Großcousine und rührige Schulpatin Brigitte Rothert und Wolfgang Helfritsch vom Vorstand der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft beteiligten.

Schulleiter Dieter Stuke stellte die Mindener Gesamtschule vor. Sie besteht seit 1986, war die erste Gesamtschule in Minden und Umgebung und betreute anfangs 160 Schüler. Gegenwärtig werden 1200 Schüler unterrichtet. Die Einrichtung versteht sich als Integrationsschule, an der Jugendliche aus 25 Nationalitäten Allgemeinbildung erwerben und den friedlichen und toleranten Umgang miteinander üben. Kurt Tucholsky hätte das diesbezügliche, im Speisesaal öffentlich angebrachte Verhaltens-Regularium gewiss mit Befriedigung quittiert.

Anschließend führten Direktor und Arbeitskreisvorsitzender die Fans mehrerer Generationen an tucholskyträchtige Punkte des Schulhauses. Man verweilte an der Büste im Eingangsbereich, rekapitulierte vor großflächig-anschaulichen illustrierten Tafeln Leben und Werk des Autors und diskutierte kontrovers über ein Tucholsky-Gemälde, das ein Mindener Künstler im Vorjahr im ständigen Kontakt und in Kooperation mit Schülern gestaltet hatte.

Danach demonstrierte Klaus Lindemann die Internet-Präsentation der Schule und der Kurt- Tucholsky-Gesellschaft, was Wolfgang Helfritsch die Gelegenheit gab, die Anliegen, die Arbeitsweisen und die aktuellen Vorhaben des Vereins zu erläutern. Er informierte über den Mitgliederstand, über die Zusammensetzung und die altersmäßige Konstellation der Tucholsky-Gesellschaft, über Themen und Charakter der Jahrestagungen und bekräftigte in diesem Zusammenhang die existentielle Notwendigkeit, die Jugend mit dem Werk, den Auffassungen und der Aktualität des streitbaren Autors zu konfrontieren.

Im lebhaften Gespräch stimmten die Teilnehmer der Runde darin überein, dass Tucholskys Pazifismus wie auch sein Humanismus, seine Prinzipienfestigkeit und seine Toleranz auch knapp sieben Jahrzehnte nach seinem Tode als Herausforderung und Verhaltensvorbild gelten können.

"Für einen anständigen Menschen", so hatte Tucholsky einst betont, "gibt es in bezug auf seine Kriegshaltung überhaupt nur einen Vorwurf: daß er nicht den Mut aufgebracht hat, Nein zu sagen!".

Beim Austausch über Praktiken der Tucholsky-Pflege an den Schulen traten unterschiedliche Auffassungen und Verfahrensweisen zutage. Es bestätigte sich, dass der Name einer Schule - auch nicht, wenn es sich um den eines bekannten und enga-gierten Autor handelt, - noch keine Gewähr für den Geist und das Ambiente einer Einrichtung gibt. Sowohl Pädagogen als auch Schüler treten normalerweise nicht ihrer Bindung zum Namensgeber der Schule wegen in eine Bildungseinrichtung ein, sondern weil ebenda eine Planstelle in der gewünschten Fachkombination ausgeschrieben ist, ein lukrativer Ausbildungsweg lockt, die Schule über einen guten Leumund verfügt oder auch nur die Wegezeiten zumutbar sind. Daraus ergibt sich, dass der Zugang zu Tucholsky im Regelfall nicht vorausgesetzt werden kann, sondern erst hergestellt werden muss.

Überdies stellte sich dar, dass die Namensgebung der Tucholsky-Schulen in den meisten Fällen lange vor der Zeit erfolgt war, in der Lehrer, Schüler und Mitarbeiter ihre Tätigkeit an der Bildungsstätte aufnahmen. Die an der Mindener Gesamtschule vorgefundene Konstellation, dass mehrere auch jetzt noch dort tätige Pädagogen vor zwei Jahrzehnten engagiert am Namensfindungsprozess teilnehmen konnten, ist wohl eher die Ausnahme.

Als mögliche Varianten für eine mit dem Namen Kurt Tucholskys verbundene pädagogische Arbeit waren Schulfeste, Literatur-Wettbewerbe, Forschungsaufgaben, Schülervorträge, Leistungskurse und Ausstellungen an der Schule sowie Exkursionen in Gedenkstätten und in Städte und Regionen im Gespräch, in denen Tucholsky lebte und wirkte. Darüberhinaus wurden Erfahrungen über die Einbeziehung von Texten des Autors in die Curricula der Klassenstufen sowie die Belebung der Arbeit durch die Behandlung solcher Themen wie "Tucholsky und die Kommunikation", "Tucholsky und die Satire", "Tucholsky und das Soziale", "Tucholsky und die Familie", "Tucholsky und der Krieg" ausgetauscht.

Man war sich einerseits darüber einig, dass Rezepte, Algorithmen und geschlossene Systeme nicht dazu geeignet sind, Schüler emotional und langhaltig an den Publizisten heranzuführen. Obwohl Denkmalpflege, Routine und Aufdringlichkeit keine geeigneten Methoden für eine geführte Begegnung mit dem Autor sein können, sollte die Annäherung an das Leben und Werk des Namensgebers anderseits nicht dem Zufall überlassen bleiben. Gewisse "Laternenpfähle", bestimmte pädagogisch ausgewählte Ansatzpunkte, sollte es schon geben, um die Neugier der Schüler erst einmal zu wecken und sie nachfolgend mit dem Werk und dem Ideengut Tucholskys in Berührung zu bringen.

Wenn auch im Einzelfall nicht mehr nachvollziehbar sein sollte, warum und seit wann sich eine Schule mit dem Namen Tucholskys schmückt, sollte man sich der damit verbundenen Verantwortung nicht entziehen und den Schülern dabei helfen, den Autor in seiner Bedeutung für seine Zeit und für die Entwicklungen und die Geschehnisse der Gegenwart und damit für die Lebensumstände und für die Lebensperspektiven der heute Lebenden zu erschließen.

Die Gesprächsteilnehmer begrüßten die Fortsetzung des Disputs in Minden und an anderen Ortern und nahmen im Umfeld der Gespräche und der Geburtstagsfeierlichkeiten institutionellle und individuelle Kontakte zueinander auf.

Am 25. Juli fand an der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule Minden das nächste traditionelle Sommerfest statt, zu dem auch andere Kurt-Tucholsky-Schulen eingeladen waren.

Wolfgang Helfritsch
Weitere Mitteilungen aus dem AK Schulen:

Der 10. Jahrestag der (Wieder-)Vergabe des Namens Kurt Tucholsky an die Gesamtschule in Berlin-Pankow wurde in Anwesenheit ehemaliger Schüler am 11. März diesen Jahres feierlich begangen. Eckart Rottka war zugegen und überbrachte die Grüße und guten Wünsche unserer Gesellschaft.

Am 18. Juli fand, verbunden mit einer Sommerparty, die diesjährige Mitgliederversammlung der "Tucholsky Bühne" an der Mindener Gesamtschule statt.

Literarisches

Liebe Herzensnuuna - liebes Hasenfritzli

Als Begleitveranstaltung zur Zürcher Ausstellung "Liebesbriefe: Amors Pfeil trifft Dichterherz" lasen Gustav Huonker und Rosmarie von Meiss am 23. Januar 2003 ihre Collage aus den Briefen Kurt Tucholskys und Hedwig Müllers. Einige dieser Originale und Fotos lagen auch in den Ausstellungsvitrinen neben vielen weiteren einschlägigen Dokumenten wie Goethe und Frau von Stein, Schnitzler und Adele Sandrock oder Gottfried Keller und Luise Rieter.

Die gut besuchte Lesung geschah an historischer Stätte: in der Museumsgesellschaft am Limmatquai. Tucholsky trug sich dort am 24. Juni 1932 erstmals ins "Fremdenbuch" ein. Später hatte er dies nicht mehr nötig, weil ihm Nuuna ein Gästeabonnement besorgte. Während seines Zürcher Jahres konnte Tucholsky in den Lesesälen der Museumsgesellschaft Emigranten wie Rudolf Breitscheid, Theodor Wolff, Alfred Kerr oder Ernst Toller nicht immer ausweichen; er hielt wenig von Begegnungen mit "Kompatrijoten"; lehnte aber auch eine Lesung in Zürich ab, weil er "mit Rücksicht auf deutsche oder Schweizer Faschisten" kein "zahmes Programm" vorlegen wollte.

Auch mit der ersten ihrer in verschiedenen Varianten vorliegenden Lesung hatten sich Gustav Huonker und Rosmarie von Meiss an historischem Ort befunden: 1991 im Schloss Rheinsberg bei Detlev Fuchs.

Gustav Huonker

Kulturelles

Im Februar gastierten Marlis und Wolfgang Helfritsch mit ihrem Pianisten Manfred Rosenberg (der übrigens vom 18.-20.Juli wieder die jährliche Opern- und Operettengala vor der malerisch an der Elbe gelegenen Wittenberger Ölmühle dirigierte) mit ihrem Tucholsky-Programm "Das Leben ist gar nicht so, es ist ganz anders" und der Friedrich-Hollaender-Hommage "Wenn ich mir was wünschen dürfte..." u.a. in Detmold, Lemgo und Hannover und trafen auf ein sehr sensibles Publikum. Im "Kanapee" in Hannover gab es standing ovations, als in der Nachmittagsveranstaltung am 15. Februar auf die zeitgleich statt findende Berliner Friedensdemo hingewiesen wurde.

Das Tucholsky-Programm "Das Leben ist gar nicht so - es ist ganz anders..." steht am 11.10. um 20.00 Uhr im Zimmertheater Karlshorst wieder auf dem Spielplan. Tagungsteilnehmer sind herzlich eingeladen!

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass das Zimmertheater Karlshorst, dessen Gründungsmitglied Wolfgang Helfritsch ist, auf sein zehnjähriges erfolgreiches Bestehen zurückblickt. In diesem Zeitraum wurden 39 Programme zur Aufführung gebracht, darunter als besondere "Highlights" das Tucholsky-Programm "Das Leben ist gar nicht so - es ist ganz anders....", die Albert-Lortzing-Hommage "Zar oder Zimmermann" und - kurz vor der Sommerpause - die gemeinsam mit dem Ernst-Busch-Chor Berlin gestaltete Aufführung "wie KRIEG ich FRIEDEN" - Chorlieder, Texte und Chansons über Krieg, Frieden und andere menschliche Befindlichkeiten.


 
  Aus der Wissenschaft

Rezensionen

Irmgard Ackermann über Susanna Böhme-Kuby: Non più, non ancora. Kurt Tucholsky e la Repubblica di Weimar. Il melangolo, Genova 2002, 223 S.

Tucholsky und Italien? Fehlmeldung?
Wie die Verfasserin in ihrem Vorwort eindeutig herausstellt, sind von Seiten Tucholskys keine Beziehungen zu Italien bekannt wie sie etwa zu Frankreich, Schweden und der Schweiz evident sind. Italien war für den reisefreudigen Tucholsky weder Reiseziel noch Gegenstand seiner scharfen Feder. Auch von italienischer Seite gibt es so gut wie keine Rezeption seines Werkes oder gar eine Affinität zu dem ganz einfach bisher kaum wahrgenommenen deutschen Autor einer fernen Epoche. Nur einzelne, heute meist nicht mehr greifbare Übersetzungen zu seinen Texten sind zu verzeichnen. Welchen Stellenwert soll also eine Tucholsky-Monographie in italienischer Sprache haben?

Erstes Anliegen der Verfasserin ist es nicht, einfach nur eine Bildungs- oder Rezeptionslücke zu schließen, gleichsam "landeskundlichen Nachholbedarf" aufzufüllen, denn allein der Grad der Bekanntheit und Verbreitung seiner Werke in Deutschland wie die Tucholsky-Rezeption in Zitatenflut und Kabarettdarbietungen dürfte nicht ausreichen, italienische Leser (und Käufer!) dazu zu bewegen, sich mit einem deutschen Autor und Journalisten "aus anderen Zeiten" zu beschäftigen. So wirft Alfonso Berardinelli in seiner Besprechung des italienischen Tucholsky-Buches ("Il Sole" vom 18.5.03) zum Vergleich die Frage auf, wer denn außerhalb von Italien Piero Gobetti, Giacomo Noventa oder Franco Fortini kennt und liest. Das Anliegen der Verfasserin und die Motivation für ihre Tucholsky-Darstellung für italienische Leser sind dringender, nämlich die Aktualität Tucholskys gerade auch im Hinblick auf die heutige politische Situation in Italien, für die es Parallelen zur Weimarer Republik gibt. Das Werk Tucholskys verdient es also nach Böhme-Kuby besonders, gerade in Italien besser bekannt zu werden, insofern es Themen und Tendenzen aufgreift, die noch immer und gerade wieder aktuell sind:

Der immer größere "Rechtsruck" eines immer weniger bestimmbaren politischen "Zentrums" und der Gesellschaft insgesamt, die Aufsplitterung der Linken und der verschiedenen pazifistischen Strömungen angesichts der weltweit wachsenden Militarisierung, die für die Opposition lähmende Verdrängung bedeutet, vor allem aber die wachsende Notwendigkeit der Verteidigung fundamentaler Menschenrechte - all diese Aspekte verleihen dem Zeugnis des politischen Publizisten Tucholsky eine erstaunliche Aktualität, die keineswegs beschränkt ist auf einen Corpus von Texten, die strikt an die historische Situation der ersten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts gebunden sind. (Vorwort, S.21, Übersetzung I.A.)

Der "Gruß nach vorn" steht programmatisch auf italienisch und auf deutsch neben einer Reihe von Rezeptionsaussagen dem Buch als Motto voran.

Wie kommt die Verfasserin ihrem Anliegen nach?
Sie wählt den chronologischen Zugang zu Autor und Werk in vier Kapiteln:

  1. Vom Reich zur Weimarer Republik (1890-1918)
    "Nicht mehr, noch nicht" (was auch der Titel des ganzen Buches ist)
  2. Berlin (1919-1923)
    "Der Feind steht rechts"
  3. Paris (1924-1929)
    "Hier bin ich Mensch - und nicht nur Zivilist"
  4. Schweden (1930-1935)
    "Ich habe Erfolg, aber keine Wirkung"
In diesen Kapiteln geht es nicht in erster Linie um biographische Fakten, sondern um die Schwerpunkte von Tucholskys literarischer und publizistischer Tätigkeit in diesen Lebensabschnitten, um fundierte Darstellung sowie politische und literarische Auseinandersetzung mit seinem Werk, das in seiner ganzen Breite sichtbar gemacht werden soll. Böhme-Kuby bringt eine Fülle von Zitaten, nicht nur die dem Tucholsky-Kenner altvertrauten, sondern auch viele erst aus neuesten Tucholsky-Forschungen und -Editionen zutage geförderten, was intensive Beschäftigung mit neuesten Veröffentlichungen zeigt. Die zahlreichen Tucholsky-Zitate werden jeweils in italienischer Übersetzung (dem Übersetzer Palma Severi muß man für Präzision und Angemessenheit Respekt zollen) und als Anmerkungen auch (höchst erfreulich) im deutschen Original gebracht. Die biographischen Fakten, die Aufarbeitung der journalistischen und literarischen Schwerpunkte sowie die bibliographischen Hinweise geben Zeugnis von intensiver Auseinandersetzung mit dem Werk des Autors und der Forschung. Gemäß dem Anliegen der Verfasserin nach Sichtbarmachen der aktuellen Aspekte und Bezüge seines Werkes nehmen die politischen Themen den breitesten Raum ein, wobei auch brisante Themen wie Tucholskys politische Radikalisierung, seine Tätigkeit für die kommunistische Presse und die Auseinandersetzung mit seiner Stellung als deutscher Jude zur Sprache kommen.

Den Kapiteln über die Lebensabschnitte Tucholskys folgt ein letztes Kapitel:

  1. Die Deutschen und Tucholsky: Posthumes Glück (1945-2001)
    "Der Autor kommt falsch auf die Nachwelt"

Es geht hier um die kontroverse Rezeption Tucholskys, besonders im Hinblick auf seine politischen Positionen in verschiedenen Etappen und in den beiden deutschen Staaten: die Nachkriegszeit, die sechziger Jahre und den "wiedervereinigten Tucholsky" nach 1989. Die Verdienste, Lücken und Fehler der Tucholsky-Editionen, die Fehlinterpretationen von Tucholskys politischen Stellungnahmen, das zögerliche Einbeziehen oder auch das Ausklammern Tucholskys aus der germanistischen Forschung, die unterschiedlichen Tucholsky-Rezeptionen in der Bundesrepublik und in der DDR, die ihn beide als Zeugen für sich beanspruchen, auch gerade für die unterschiedlichen politischen Systeme, all das wird überzeugend aufgearbeitet und dargestellt.

Jedem der Einzelkapitel folgen zahlreiche Anmerkungen mit sehr exakten und zuverlässigen bibliographischen Hinweisen und deutschem Originaltext aller italienischen Zitate sowie eine ausführliche Bibliographie zu Werkausgaben, Tucholsky-Biographien und Sekundärliteratur. Eine sehr nützliche Charakterisierung der Zeitschriften, an denen Tucholsky mitgearbeitet hat, und ein Verzeichnis der vorkommenden Namen schließen das Buch ab.

So bleibt nur zu wünschen, dass das Buch in Italien hellhörige Leser findet, auch über Germanistenkreise hinaus. Erste Weichen dafür sind gestellt in zwei italienischen Besprechungen, durch Lesungen und Vorträge von Susanna Böhme-Kuby in verschiedenen italienischen Städten und eine Podiumsdiskussion im Goethe Institut in Rom.

Giannantonio Paladini: Weimars kämpferischer Zeitkritiker

Susanna Böhme-Kuby, in Venedig lebende deutsche Literaturwissenschaftlerin, untersucht das Werk Kurt Tucholskys - Widersprüche und Intuitionen des in Deutschland äußerst beliebten satirischen Dichters und Erzählers


Unter den großen Ereignissen des 20. Jahrhunderts bleiben einige in der Schwebe zwischen Gut und Böse: schwer klassifizierbare historische Momente, Episoden außergewöhnlicher kultureller, politischer und gesellschaftlicher Vitalität mit dem Kontrapunkt ihrer Negation. Mit einem Wort: Umgestülpte Perspektiven, ein ganzer Demokratieentwurf voller Versprechungen, der sich in sein Gegenteil auflöste; so geschehen im Herzen Europas, in Deutschland zwischen 1918 und 1933, in der "Weimarer Republik", der ersten deutschen Demokratie.

Weimar steht für den Versuch des Aufbaus eines politisch verfassten Staates, in nur halb vollendeter Form; aber es war auch, nach Heinrich August Winkler, "das große Laboratorium der klassischen Moderne", ein Moment des Kulturbruches, der Befreiung von leeren Konventionen, der Realisierung einer großen weltoffenen künstlerischen und intellektuellen Avantgarde. Dieses "Laboratorium" wurde von der Reaktion und den antidemokratischen Kräften mit eiserner Faust geschlossen und dem Nationalsozialismus das Tor geöffnet. Diese Tatsache beschäftigt heute die Historiker noch immer und nicht nur sie. Weimar hat uns eine historische Lektion hinterlassen, die der schwierigen Balance zwischen Politik und Ökonomie, eine Lektion, die auch für die Zukunft unserer politischen Demokratie, in Europa und in der Welt noch Gültigkeit hat. Dabei geht es natürlich nicht um eine mechanische Aktualisierung von Vergangenheit und Gegenwart. Dennoch bleibt Tatsache, dass in der Weimarer Republik all jene gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Prozesse reiften, mit denen die heutigen Demokratien zu schaffen haben.

All das verleiht der Rekonstruktion des Werkes von Kurt Tucholsky (1890-1935), die die Germanistin Susanna Böhme-Kuby vorlegt, ein erhebliches Interesse; es handelt sich um das Werk eines der meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts, eines satirischen Erzählers, Dichters, Kabarettisten und zugleich scharfzüngigen und kämpferischen Journalisten. Dieses Lebenswerk wird von der venezianisch gewordenen Autorin, in ihrem jüngsten Buch "Nicht mehr, noch nicht" ("Non piu, non ancora", il melangolo, Genova 2002) aus einer Perspektive untersucht, die bei einem Ende des 19. Jahrhunderts geborenen Autor eine Sensibilität aufzeigt, die auf der Höhe unserer heutigen Zeit erscheint, in der zum wiederholten Male die Funktion der Kritik ihre vorwärtstreibende Kraft augenscheinlich eingebüßt hat und das Risiko der Wirkungslosigkeit eingeht: "Wirkungslos einer immer stärker ökonomisch globalisierten Welt gegenüber, die dabei nicht demokratischer geworden, sondern zunehmend stärker der massmedialen Hegemonie des gleichgeschalteten eindimensionolalen Denkens unterworfen ist."

So wird das Werk Tucholskys (ca. 3.000 Texte, die in einer Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften in einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren erschienen, neben einem bedeutenden Briefwechsel, dessen Veröffentlichung noch nicht abgeschlossen ist), nicht nur in informativer Absicht zwecks Kenntisnahme eines Schriftstellers vorgestellt, sondern auch um den symbolischen Vertreter eines "anderen Deutschland" zu zeigen, das bereits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die warnenden Vorzeichen des autoritären Niedergangs in der deutschen Gesellschaft erkannt hatte. Aus dieser Perspektive stellen auch seine scheinbaren Widersprüche für uns "zukünftige Leser", an die Tucholsky sich auch explizit gewandt hat, einen Prüfstein dar, der sich als äußerst aktuell und fruchtbar erweist. Seine Themen, die ihn nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin, dann in Paris (1924-1929) und Schweden (1930-1935) beschäftigten und viele seiner Polemiken, sind noch heute aktuell: die Funktion des Krieges im Kapitalismus, die Beziehung zwischen Intellektuellen und Medien, die zwischen den Massenmedien und der Wirtschaftsmacht, und schließlich Themen wie Militarismus und Pazifismus. Aus dieser Sicht hat Susanna Böhme-Kuby in ihrem Buch auch die wichtigsten Aspekte der posthumen Rezeption Tucholskys nachgezeichnet, eines Autors, der in beiden deutschen Nachkriegsstaaten ausgiebig gelesen und 1990, im Jahre seines hundertsten Geburtstages für äußerst lebendig erklärt wurde.

Obwohl Tucholsky in Italien bisher nur wenig bekannt ist, verdienen es seine Romane und vor allem seine Publizistik, ausführlicher gelesen zu werden, auch um die Qualität einer kritischen Militanz hervorzuheben, die keine konformistischen Anpassungen kannte, in Weimar, einer Epoche, die auch heute noch als emblematisch gilt für die Risiken, denen die Demokratie ausgesetzt ist.

Übersetzung aus: IL GAZZETTINO, 1. Dezember 2002, S. 18 (Feuilleton: Kultur und Gesellschaft


 
  Vermischtes

Der Name der "Weltbühne"

Vor zehn Jahren erschien die Zeitschrift "Weltbühne" zum letzten Mal. In der Zwischenzeit gab es reichlich Gerangel hinter den Kulissen um den Namen. Nicht auszuschließen, dass er bald wiederbelebt wird.

Im Februar 2003 erschien im "Börsenblatt", Pflichtlektüre im Verlagswesen, eine unscheinbare Anzeige: Versteckt hinter einer Fax-Nummer in den USA inserierte dort "Die Weltbühne - Historische Zeitschrift veröffentlicht während des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik" und suchte eine "Zusammenarbeit mit einem Verlag für publizistische Projekte". Neugierige Verleger konnten sich an eine Person mit einem sonderbaren Titel wenden: "Manager, Weltbühne Unternehmen".

Ein "publizistisches Projekt" könnte auch die Neuauflage der "Weltbühne" sein, denn seit zehn Jahren gibt es die von Siegfried Jacobsohn begründete Zeitschrift nicht mehr. Warum ist das Blatt damals eigentlich eingestellt worden? Warum sind alle Wiederbelebungsversuche gescheitert? Wer hat die Rechte an dem Namen? Diese Fragen tauchen bei Diskussionen über die "Weltbühne" regelmäßig auf. Die Anzeige gibt zum Teil Antwort darauf. Nicht alle, die sie interessiert haben dürfte, haben sie gelesen. So zum Beispiel Bernd Lunkewitz nicht, der das Blatt im Juli 1993 eingestellt hatte. Der vermögende Immobilienhändler hatte nach der Wende den Ost-Berliner Aufbau-Verlag erworben und griff auch zu, als die ebenfalls in Ost-Berlin ansässige "Weltbühne" händeringend einen Käufer suchte. Das Blatt, 1946 als Nachfolgerin der alten "Weltbühne" begründet, war ohne staatliche Hilfe nach der Wende nicht mehr finanzierbar. Lunkewitz war fasziniert von der Idee, mit der Zeitschrift wieder an das Erbe von Siegfried Jacobsohn, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky anzuknüpfen. Auf der Zeitschrift lastete jedoch die deutsche Vergangenheit: Peter Jacobsohn, der im amerikanischen Exil lebende Sohn des Zeitschriftengründers, wollte dem "Verlag der Weltbühne" die Herausgabe der Zeitschrift untersagen.

Rechtsstreit mit Jacobsohn

Als Lunkewitz im Januar 1992 den Verlag kaufte, war Jacobsohns Klage schon in der ersten Instanz gescheitert. Helmut Reinhardt, seit 1989 Herausgeber des Blattes, wollte nicht einsehen, warum er die seit Jahrzehnten bestehende Tradition der Ost-"Weltbühne" nicht fortsetzen sollte. Das Landgericht Frankfurt hatte Reinhardt im November 1991 Recht gegeben.

Mit diesem Urteil im Rücken sah dieser gute Chancen, auch die Berufung vor dem Oberlandesgericht durchzustehen. Lunkewitz vertrat jedoch im weiteren Verfahren den Standpunkt, sich mit Jacobsohn einigen zu müssen. Er wollte kein zweiter Hitler sein. "Ich hätte jeglichen moralischen Anspruch verloren, ein solches Blatt gegen den erklärten Willen des jüdischen Erben herauszugeben", sagt Lunkewitz rückblickend.

Showdown im Gerichtssaal

Über das, was dann im Prozess passierte, kursierten bislang nur merkwürdige Gerüchte. Tatsächlich kam es zum Showdown in Abwesenheit der Kontrahenten. Obwohl Reinhardt als Herausgeber und Geschäftsführer alleiniger Beklagter war, fehlte er bei dem entscheidenden Gerichtstermin am 18. Juni 1993 in Frankfurt. Er sei nicht eingeladen worden, beschwert sich Reinhardt. Er ist einfach in Urlaub gefahren, behauptet Lunkewitz. Der Verleger nutzte die Gelegenheit und machte Tabula rasa: Seine Anwältin erklärte, dass der von ihr vertretene Reinhardt die Ansprüche aus den USA anerkennen würde. Ohne sein Wissen und seine Zustimmung, wie Reinhardt beteuert. Damit war der Prozess für Jacobsohn, der ebenfalls nicht da war, gewonnen.

Lunkwitz setzte darauf, dass Jacobsohn einen zwischen den Anwälten ausgehandelten Vergleich akzeptieren würde, mit dem er die so eben zugestandenen Titelrechte "unwiderruflich" auf den Verlag übertrüge und mit seinen fast 80 Jahren "auf Lebenszeit" den Vorsitz in einem Verlagsbeirat erhielte. In dem zweiseitigen Schriftstück wurde Reinhardt von Lunkewitz fallen gelassen. Auf Drängen der Gegenseite habe er eingewilligt, sagt Lunkewitz, dass Reinhardt als Herausgeber und Geschäftsführer abgelöst werde.

Doch Peter Jacobsohn blieb misstrauisch und widerrief drei Tage später den Vergleich. Lunkewitz stellte das Blatt sofort ein. "Zu diesem bösen Spiel fällt uns nichts mehr ein!", kommentierte Reinhardt in der letzten Ausgabe vom 6. Juli 1993 das Handeln des Verlegers. Der Zorn richtete sich vor allem deswegen auf Lunkewitz, weil dieser nicht wieder aus dem Verlag ausgestiegen war, als sich abzeichnete, dass es keine Einigung mit Jacobsohn geben würde. Reinhardt zog sich, tief enttäuscht vom Ende des Blattes, aus dem Journalismus zurück. Für Lunkewitz war alles, was danach kam, "Explotationsversuche für den Namen".

Lunkewitz verkauft Verlag

Dazu trug er selbst bei. Einen Monat nach dem Aus verkaufte er den Verlag, in den er seit 1992 immerhin 850.000 Mark gesteckt hatte, an Peter Großhaus. Dieser verlegte damals auch die frühere FDJ-Postille "Junge Welt" und war laut Reinhardt ein Strohmann von "Titanic"-Verleger Eric Weihönig. Letzterer habe schon zuvor angefragt, ob er die Abonnentenkartei der "Weltbühne" haben könne. Neue Leser für die Wochenzeitung "Freitag" winkten. In seiner letzten Amtshandlung setzte Lunkewitz den heutigen Geschäftsführer der Titanic GmbH, Patric Feest, als Geschäftsführer des Weltbühne-Verlages ein. Für Lunkewitz selbst war das Kapitel "Weltbühne" erledigt. "Damit habe ich abgeschlossen", sagt er heute.

Das gilt nicht für Feest. Ihm war im Februar das Inserat im "Börsenblatt" aufgefallen. "Ich habe mir überlegt, mich zu melden", sagt Feest. Schon vor zehn Jahren habe er ernsthaft an der Neuauflage der "Weltbühne" gearbeitet. Er habe versucht, gute Schreiber zu gewinnen. Vergebens. Der Markt sei damals leergekauft gewesen, Verlage hätten sich namhafte Autoren mit viel Geld gesichert. Wahrscheinlich habe er sich damals nicht genügend um das Projekt gekümmert, räumt Feest ein.

Urteil ohne Begründung

Dass er ohne die Zustimmung Jacobsohns die "Weltbühne" nicht hätte auf den Markt bringen können, war Feest damals selbst nicht ganz klar. Von einem Urteil des Oberlandesgerichtes Frankfurt, das Ende 1993 erging, will er erst Jahre später erfahren haben. Darin wurde seinem Verlag explizit verboten, die "Weltbühne" herauszugeben. Ohne Begründung, denn Lunkewitz' Anwälte hatten die Klage Jacobsohns schließlich voll anerkannt. Die Frage nach den Rechten blieb jedoch ungeklärt, denn das Verbot betraf nur den "Verlag der Weltbühne".

Dennoch ergab sich aus dem Urteil eine Folge, die später für viel Verwirrung sorgen sollte. Der Verlag wechselte den Besitzer und wurde in Webe Verlag und Beteiligungsgesellschaft umbenannt. Drei Jahre später, im November 1996, kaufte Erik Weihönig schließlich selbst den Verlag. Der Kaufpreis von einer Mark ist in den Unterlagen geschwärzt, aber viel mehr war die Firma zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr wert.

Neuanlauf in Ost und West

Mitte der neunziger Jahre wurde von mehreren Seiten eine Neuauflage des Blattes versucht. Journalisten um den ehemaligen Korrespondenten der "Frankfurter Rundschau", Eckart Spoo, vermissten ein kritisches Blatt mit pazifistischen und sozialistischen Themen. Sie setzten sich mit Reinhardt in Verbindung und erhielten von ihm die Zusage, die Titelrechte verwenden zu können. Absurd, denn Reinhardt hatte mit dem früheren Verlag der Weltbühne nichts mehr zu tun. Spoo verließ sich jedoch darauf und verkündete im September 1997 den Neustart der kleinen roten Hefte. Es hagelte Einsprüche. Natürlich von Jacobsohn, von der Webe, deren früheren Namen Spoo nicht gekannt haben will, aber auch von anderen Firmen aus Weihönigs Imperium am Berliner Treptower Park.

Derart eingeschüchtert änderte die Gruppe um Spoo schnell den Namen ihrer Zeitschrift in "Ossietzky" um, unter dem sie seit Dezember 1997 mit einer momentanen Auflage von 2.000 Stück auch erscheint. Auch das gleichzeitig erschienene Ost-Pendant zum "Ossietzky", das "Blättchen", ließ sich von der unklaren Rechtelage abschrecken. "Alles Amateure", lautet der Kommentar von Lunkewitz, "wenn jemand die 'Weltbühne' verlegen wollte, könnte das nicht blockiert werden."

Adlon-Streit als Präzedenzfall

Das sieht Andreas Lubberger ganz anders. Der Anwalt vertritt seit 1993 die Nachfahren von Siegfried Jacobsohn. Lubberger war 1993 in das Verfahren vor dem Oberlandesgericht eingestiegen und hatte gute Chancen gesehen, die Berufung zu gewinnen. Lubberger setzte auf eine ähnliche Argumentation, mit der er im Februar 2002 den Prozess um das Berliner Nobelhotel Adlon gewann. In diesem Fall entschied der Bundesgerichtshof, dass die lang andauernde und erzwungene Unterbrechung einer Titelnutzung nicht zum Verlust der Rechte führe, wenn "der Name des Unternehmens aufgrund seiner Geltung oder Berühmtheit dem Verkehr in Erinnerung geblieben ist und dem neu eröffneten Unternehmen wieder zugeordnet wird."

Ob dies auch bei der "Weltbühne" zum Erfolg führen würde, hat bislang noch kein Gericht geklärt. Von den Plänen Spoos aufgeschreckt, ließ sich Peter Jacobsohn jedoch den Markennamen formal sichern. Kurz vor seinem Tod im Jahre 1998 meldete er beim Patentamt die Titelrechte an, die er auch ohne Widerspruch zugesprochen bekam.

Kein Glück für Restaurant

Einen Nutzen von dem Namen wollte zunächst wieder Weihönig haben. Im August 1999 eröffnete in Berlin-Mitte das Restaurant Weltbühne, das mit dem Namen "an die alte Weltbühne der zwanziger Jahre, an Weltoffenheit in jeder Beziehung" anknüpfen wollte, wie zur Eröffnung hieß. Hinter dem Lokal steckte eine Gastronomiefirma, die im Dezember 1997 mit der Beteiligung Weihönigs gegründet worden war. Dem Lokal war von Beginn an kein Erfolg beschieden und folgerichtig machte es im Sommer 2001 wieder dicht. Die Webe, die inzwischen alle Rechte an dem Titel "Weltbühne" an die Jacobsohns verloren hatte, wurde im November 2001 endgültig aufgelöst. Mit den Erben hatten sich die Restaurant-Betreiber zwischenzeitlich auf eine unentgeltliche Nutzung des Namens geeinigt.

Solche Konzessionen gefallen einem "Weltbühne"-Verehrer wie Eckart Spoo überhaupt nicht. Um einen derartigen Missbrauch, wie er ihn nennt, in Zukunft zu verhindern, hat die Ossietzky GmbH im Dezember 2002 überraschend selbst die Titelrechte an der "Weltbühne" beantragt. Und natürlich hat Spoo auch die Anzeige im "Börsenblatt" zur Kenntnis genommen. Inzwischen steht er in regem Kontakt mit deren Auftraggebern: Peter Jacobsohns Witwe Annette und dessen Sohn Nick, ein 36 Jahre alter Immobilienmakler.

Neue Aktivitäten

Die Aktivitäten der Jacobsohns sind vielfältig. Mit der Anzeige suchte Nick Jacobsohn unter anderem einen Verlag, der die bereits 1978 nachgedruckten alten "Weltbühne"-Jahrgänge von 1905 bis 1933 noch einmal auflegt. Im Internet hat er unter www.dieweltbuehne.de eine kleine Webpräsenz aufgebaut, die sich der Pflege des Erbes widmet. Auch über eine Neuauflage der "Weltbühne" hat er sich schon Gedanken gemacht. "Wir wollen ein Herausgebergremium einberufen und einen Chefredakteur bestimmen", sagt Jacobsohn. Er spricht von einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren zur Vorbereitung. Eine neue "Weltbühne" müsse sich daran messen lassen, dass ihre Vorgängerin die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts habe aufhalten wollen. Auf die Anzeige im "Börsenblatt" hätten sich fünf bis zehn Verlage gemeldet. Interesse an einer Neuauflage zeigten sie nicht.

Spoo räumt ebenfalls ein ernsthaftes Interesse an dem Titel ein. Wobei er nichts überstürzen und nur im Einvernehmen mit den Jacobsohns handeln wolle. Lubberger sieht es dagegen als "wenig einladend" für eine Geschäftsbeziehung an, wenn Spoo sich selbst die Titelrechte sichern will.

Forschungen über Exil-Weltbühne

Dass die Jacobsohns überhaupt die legitimen Erben der Zeitschrift sind, ist in den vergangenen Jahrzehnten schon häufig angezweifelt worden. So soll Siegfried Jacobsohns Frau Edith, von der Emigration seelisch und körperlich zerrüttet, den Verlag 1935 verkauft haben: An den Journalisten Hermann Budzislawski, der im Exil die "Neue Weltbühne" und später die DDR-"Weltbühne" führte. Anhand von Dokumenten, die er in einem Berliner Privatarchiv und im Moskauer Militärarchiv fand, will der Berliner Exilforscher und Historiker Toralf Teuber dies nun endgültig beweisen. Mit seiner Dissertation wolle er die "Legende widerlegen, dass die Jacobsohns die Eigentümer der 'Neuen Weltbühne' sind", sagt Teuber. Noch darf er die Dokumente nicht präsentieren. Seine Doktorarbeit, Anfang Juni abgegeben, erscheint vermutlich im Herbst. Nicht ausgeschlossen, dass Budzislawskis einziger Nachfahre, sein Urenkel, irgendwann eine kleine Anzeige aufgibt.

Friedhelm Greis

Tucho-Texte zum Thema "Innere Sicherheit" gesucht

Im Kultur- und Kommunikationszentrum "Pavillon" in Hannover findet im Winterhalbjahr eine Veranstaltungsreihe zum Thema "Innere Sicherheit" statt. Unter dem Titel "Auf Nummer Sicher gehen - Kultur und Kontroversen zur 'Inneren Sicherheit'" soll zwischen November 2003 und März 2003 das Spannungsverhältnis zwischen der Sicherheitspolitik einerseits und den Bürgerrechten andererseits untersucht werden. Speziell geht es um die Frage, inwieweit die Akteure der Inneren Sicherheit - Polizei, Justiz, Geheimdienst und Armee - Ansprüchen und Zielen von Demokratie in Theorie und Praxis widersprechen.

Projektleiterin Sibylle Weingart möchte in die Anmoderationstexte zu einzelnen Veranstaltungen am liebsten Zitate Kurt Tucholskys einbauen. Sie bittet um Hinweise auf Texte, Gedichte und Lieder, in denen Tucho Themen wie Bürgerrechte und Menschenrechte in Deutschland (auch Bürgerrechte von Ausländern), Recht und Ordnung, Obrigkeitsstaat, Sicherheitspolitik, Innere Sicherheit behandelt werden.

Außerdem fragt sie: "Kennen Sie gute Tucholsky-Interpreten - Kabarettisten, Schauspieler, Sänger -, die Sie uns empfehlen können?"

Wir bitten alle Mitglieder, uns bei der Ideensuche für Texte, aber auch Kontaktpersonen zu unterstützen. Teilen Sie Ihre vorschläge doch baldmöglichst Sybille Weingart mit:
Kontakt: Tel.: (0511) 23 5555-69
E-Mail: sibylle.weingart@pavillon-hannover.de


Redaktion: Anne Schneller + Maren Düsberg