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Originaltexte Tucholsky: Zum Werk

Kurt Tucholsky: Wir Negativen

Wie ist er hier so sanft und zärtlich! Wohlseyn will er, und ruhigen Genuß und sanfte Freuden, für sich, für andere. Es ist das Thema des Anakreon. So lockt und schmeichelt er sich selbst ins Leben hinein. Ist er aber darin, dann zieht die Qual das Verbrechen und das Verbrechen die Qual herbei: Greuel und Verwüstung füllen den Schauplatz. Es ist das Thema des Aischylos.

Schopenhauer

Es wird uns Mitarbeitern der ›Weltbühne‹ der Vorwurf gemacht, wir sagten zu allem Nein und seien nicht positiv genug. Wir lehnten ab und kritisierten nur und beschmutzten gar das eigene deutsche Nest. Und bekämpften – und das sei das Schlimmste – Haß mit Haß, Gewalt mit Gewalt, Faust mit Faust.
Es sind eigentlich immer dieselben Leute, die in diesem Blatt zu Worte kommen, und es mag einmal gesagt werden, wie sehr wir alle innerlich zusammenstimmen, obwohl wir uns kaum kennen. Es existieren Nummern dieser Zeitschrift, die in einer langen Redaktionssitzung entstanden zu sein scheinen, und doch hat der Herausgeber mutterseelenallein gewaltet. Es scheint mir also der Vorwurf, wir seien negativ, geistig unabhängige und von einander nicht beeinflußte Männer zu treffen. Aber sind wirs? Sind wirs denn wirklich?
Ich will einmal die Schubladen unsres deutschen Schrankes aufmachen und sehen, was darinnen liegt.
Die Revolution. Wenn Revolution nur Zusammenbruch bedeutet, dann war es eine; aber man darf nicht erwarten, daß die Trümmer anders aussehen als das alte Gebäude. Wir haben Mißerfolg gehabt und Hunger, und die Verantwortlichen sind davongelaufen. Und da stand das Volk: die alten Fahnen hatten sie ihm heruntergerissen, aber es hatte keine neue.
Der Bürger. Das ist – wie oft wurde das mißverstanden! – eine geistige Klassifizierung, man ist Bürger durch Anlage, nicht durch Geburt und am allerwenigsten durch Beruf. Dieses deutsche Bürgertum ist ganz und gar antidemokratisch, dergleichen gibt es wohl kaum in einem andern Lande, und das ist der Kernpunkt alles Elends. Es ist ja nicht wahr, daß sie in der Zeit vor dem Kriege unterdrückt worden sind, es war ihnen tiefstes Bedürfnis, emporzublicken, mit treuen Hundeaugen, sich zurechtstoßen zu lassen und die starke Hand des göttlichen Vormunds zu fühlen! Heute ist er nicht mehr da, und fröstelnd vermissen sie etwas. Die Zensur ist in Fortfall gekommen, brav beten sie die alten Sprüchlein weiter, ängstlich plappernd, als ob nichts geschehen sei. Sie kennen zwischen patriarchalischer Herrschaft und einem ins Räuberhafte entarteten Bolschewismus keine Mitte, denn sie sind unfrei. Sie nehmen alles hin, wenn man sie nur verdienen läßt. Und dazu sollen wir Ja sagen?
Der Offizier. Wir haben hier nachgewiesen, warum und inwiefern der deutsche Offizier im Kriege versagt hat, und was er an seinen Leuten gesündigt. Es geht ja nicht um den Stand – Angriffe gegen eine Kollektivität sind immer ungerecht –: es geht um den schlechten Geist, der den Stand beseelte und der sich tief in das Bürgertum hineingefressen hatte. Der Leutnant und seine – sagen wir immerhin: Geistigkeit war ein deutsches Ideal, und der Reserve-Offizier brauchte keine lange Zeit, in die Uniform hineinzuwachsen. Es war die infernalische Lust, den Nebenmenschen ungestraft zu treten, es war die deutsche Lust, im Dienst mehr zu scheinen, als man im Privatleben ist, das Vergnügen, sich vor seiner Frau, vor seiner Geliebten aufzuspielen, und unten krümmte sich ein Mensch. Eine gewisse Pflichterfüllung des Offiziers (und sein Geist saß auch in vielen untern Chargen) soll nicht geleugnet werden, aber sie geschah oft nur auf der Basis der Übersättigung und der übelsten Raffgier. Die jungen Herren, denen ich im Kriege hinter die Karten gucken konnte, machten keinen hervorragenden Eindruck. Aber es geht ja nicht um die einzelnen, und wie soll je eine Besserung kommen, wenn wir es jetzt nicht sagen! Jetzt, denn später hat es keinen Sinn mehr; jetzt, denn später, wenn das neue Heer aufgebaut ist, wäre es überflüssig, noch einmal die Sünden des alten Regimes aufzublättern. Und es muß den Deutschen eingehämmert werden, daß das niemals wiederkommen darf, und es muß allen gesagt werden, denn es waren ja nicht die Sünden gewisser reaktionärer Kreise, sondern alle, alle taten mit! Das Soldatenelend – und mit ihm das Elend aller ›Untergebenen‹ in Deutschland – war keine Angelegenheit der politischen Überzeugung: es war eine der mangelnden Kultur. Die übelsten Instinkte wurden in entfesselten Bürgern wachgerufen, gab ihnen der Staat die Machtfülle eines ›Vorgesetzten‹ in die Hand. Sie hat ihnen nicht gebührt. Und dazu sollen wir Ja sagen?
Der Beamte. Was haltet ihr von einer Verwaltung, bei der der Angestellte wichtiger ist als die Maßnahmen, und die Maßnahme wichtiger als die Sache? Wie knarrte der Apparat und machte sich imponierend breit! Was war das für ein Gespreize mit den Ämtern und den Ämtchen! Welche Wonne, wenn einer verfügen konnte! Von allen andern Dienststellen – und es gab ja so viele – wurde er unterdrückt: jetzt durfte er auch einmal! Und die Sache selbst ersoff in Verordnungen und Erlassen, die kleinen Kabalen und Reibereien in den Ämtern füllten Menschenleben aus, und der Steuerzahler war wehrlos gegen sein eigenes Werk. Und dazu sollen wir Ja sagen?
Der Politiker. Politik kann man in diesem Lande definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung. Die Politik war bei uns eine Sache des Sitzfleisches, nicht des Geistes. Sie wurde in Bezirksvereinen abgehaspelt und durchgehechelt, und gegen den Arbeiter standen alle andern zusammen. Vergessen war der Geist, auf dessen Grundlage man zu Vorschlägen und Gesetzen kam, vergessen die Gesinnung, die, Antrieb und Motiv in einem, erst verständlich und erklärbar machte, was man wollte. Der Diplomat alter Schule hatte abgewirtschaftet, „er besitzt keinen modernen Geist“, sagten die Leute; nun sollte der Kaufmann an seine Stelle treten. Aber der besitzt ihn auch nicht. Eine wilde Überschätzung des Wirtschaftlichen hob an. Feudale und Händler raufen sich um den Einfluß im Staat, der in Wirklichkeit ihnen beiden unter der Führung der Geistigen zukommen sollte. Und dazu sollen wir Ja sagen?
Daß der Bürger zetert, dem anständige Politik nichts ist als Geschäftsstörung, nimmt uns nicht wunder. Daß Geistige gegen uns eifern, schon mehr. Wozu führen denn letzten Endes die Erkenntnisse des Geistes, wenn man nicht ein Mal von den Höhen der Weisheit herunterklettert, ihre Ergebnisse auf das tägliche Leben anwendet und das zu formen versucht nach ihrem Ebenbilde? Nichts ist bei uns peinlicher und verhaßter als konkret gewordene Geistigkeit. Alles darfst du: die gefährlichsten Forderungen aufstellen, in abstracto, Bücherrevolutionen machen, den lieben Gott absetzen – aber die Steuergesetzgebung, die machen sie doch lieber allein. Sie haben eine unendlich feine Witterung und den zuverlässigsten Instinkt gegen alles, was ihre trübe Geschäftigkeit stören kann, ihr Mißtrauen ist unsäglich, ihre Abneigung unüberwindbar. Sie riechen förmlich, ob sich deine Liebe und dein Haß mit ihrem Kolonialwarenladen verträgt, und tun sies nicht: dann gnade dir Gott!
Hier steht Wille gegen Willen. Kein Resultat, kein Ziel auf dieser Erde wird nach dem logisch geführten Beweis ex argumentis gewonnen. Überall steht das Ziel, gefühlsmäßig geliebt, vorher fest, die Argumente folgen, als Entschuldigung für den Geist, als Gesellschaftsspiel für den Intellekt. Noch niemals hat einer den andern mit Gründen überzeugt. Hier steht Wille gegen Willen: wir sind uns über die Ziele mit allen anständig Gesinnten einig – ich glaube, was an uns bekämpft wird, ist nicht der Kampf: es ist die Taktik.
Aber wie sollen wir gegen kurzstirnige Tölpel und eisenharte Bauernknechte anders aufkommen als mit Knüppeln? Das ist seit Jahrhunderten das große Elend und der Jammer dieses Landes gewesen: daß man vermeint hat, der eindeutigen Kraft mit der bohrenden Geistigkeit beikommen zu können. Wenn wir andern – die wir hinter die Dinge gesehen haben, die wir glauben, daß die Welt, so wie sie ist, nicht das letzte Ziel für Menschen sein kann – keinen Exekutor unsrer geistigen Gesinnung haben, so sind wir verdammt, ewig und auch fürderhin unter Fleischergesellen zu leben, und uns bleiben die Bücher und die Tinte und das Papier, worauf wir uns ergehen dürfen. Das ist so unendlich unfruchtbar, zu glauben, man könne die negative Tätigkeit des Niederreißens entbehren, wenn man aufbauen will. Seien wir konkret. Eine Naumannsche Rede in Weimar verpflichtet zu gar nichts: der Beschluß irgendeines Gemeindekollegiums zeigt uns den Bürger in seiner Nacktheit.
Der unbedingten Solidarität aller Geldverdiener muß die ebenso unbedingte Solidarität der Geistigen gegenüberstehen. Es geht nicht an, daß man feixenden Bürgern das Schauspiel eines Kampfes liefert, aus dem sie nur und ausschließlich heraushören: dürfen wir weiter schachern, oder dürfen wir es nicht? Dürfen wir weiter in Cliquen und Klüngeln schieben, oder dürfen wir es nicht? Nur das wird gehört, und keine metaphysische Wahrheit und kein kritizistischer Irrtum.
Ist schon alles vergessen? Gleiten wir schon wieder in den behaglichen Trott hinüber, in dem Ruhe die erste und letzte Pflicht ist? Schon regt sich allerorten der fade Spruch: „Es wird nicht so schlimm gewesen sein.“ – „Ihr Herr Gemahl ist an Lungenentzündung gestorben?“ sagte jener Mann, „na, es wird nicht so schlimm gewesen sein!“
Es ist so schlimm gewesen. Und man mache ja nicht wieder den Versuch, zu behaupten, die ›Pionierarbeit des deutschen Kaufmanns‹ werde uns ›schon herausreißen‹! Wir sind in der ganzen Welt blamiert, weil wir unsre besten Kräfte tief im Land versteckt und unsre minderwertigen hinausgeschickt haben. Aber schon regen sich die Stimmen, die dem Deutschen einzureden versuchen, es werde, wenn er nur billige Ware liefere, sich alles einrenken lassen. Das wollen wir nicht! Wir wollen nicht mehr benutzt sein, weil unsre jungen Leute im Ausland alle andern unterboten haben, und weil man bei uns schuftete, aber nicht arbeitete. Wir wollen geachtet werden um unsrer selbst willen.
Und damit wir in der Welt geachtet werden, müssen wir zunächst zu Haus gründlich rein machen. Beschmutzen wir unser eigenes Nest? Aber einen Augiasstall kann man nicht beschmutzen, und es ist widersinnig, sich auf das zerfallene Dach einer alten Scheune zu stellen und da oben die Nationalhymne ertönen zu lassen.
Wir sollen positive Vorschläge machen. Aber alle positiven Vorschläge nützen nichts, wenn nicht die rechte Redlichkeit das Land durchzieht. Die Reformen, die wir meinen, sind nicht mit Vorschriften zu erfüllen, und auch nicht mit neuen Reichsämtern, von denen sich heute jeder für sein Fach das Heil erhofft. Wir glauben nicht, daß es genügt, eine große Kartothek und ein vielköpfiges Personal aufzubauen und damit sein Gebiet zu bearbeiten. Wir glauben, daß das Wesentliche auf der Welt hinter den Dingen sitzt, und daß eine anständige Gesinnung mit jeder, auch mit der schlechtesten, Vorschrift fertig wird und sie gut handhabt. Ohne sie aber ist nichts getan.
Was wir brauchen, ist diese anständige Gesinnung.
Wir können noch nicht Ja sagen. Wir können nicht einen Sinn stärken, der über den Menschen die Menschlichkeit vergißt. Wir können nicht ein Volk darin bestärken, seine Pflicht nur dann zu tun, wenn jedem Arbeitenden ein Popanz von Ehre aufgebaut wird, der sachlicher Arbeit nur im Wege ist. Wir können nicht zu einem Volk Ja sagen, das, noch heute, in einer Verfassung ist, die, wäre der Krieg zufälligerweise glücklich ausgegangen, das Schlimmste hätte befürchten lassen. Wir können nicht zu einem Land Ja sagen, das von Kollektivitäten besessen ist, und dem die Korporation weit über dem Individuum steht. Kollektivitäten sind nur ein Hilfsmittel für die einzelnen. Wir können nicht Ja zu denen sagen, deren Früchte die junge Generation darstellt: ein laues und flaues Geschlecht, angesteckt von dem kindischen Machthunger nach innen und der Gleichgültigkeit nach außen, den Bars mehr zugetan als der Bravour, von unsäglicher Verachtung für allen Sturm und Drang, den man zur Zeit nicht mehr trägt, ohne Flamme und ohne Schwung, ohne Haß und ohne Liebe. Wir sollen laufen, aber unsre Schenkel sind mit Schnüren gefesselt. Wir können noch nicht Ja sagen.
Leute, bar jedes Verständnisses für den Willen, der über die Tagesinteressen hinausheben will – man nennt das hierzulande: Realpolitiker – bekämpfen uns, weil wir im Kompromiß kein Heil sehen, weil wir in neuen Abzeichen und neuen Aktenstücken kein Heil sehen. Wir wissen wohl, daß man Ideale nicht verwirklichen kann, aber wir wissen auch, daß nichts auf der Welt ohne die Flamme des Ideals geschehen ist, geändert ist, gewirkt wurde. Und – das eben scheint unsern Gegnern eine Gefahr und ist auch eine – wir glauben nicht, daß die Flamme des Ideals nur dekorativ am Sternenhimmel zu leuchten hat, sondern sie muß hienieden brennen: brennen in den Kellerwinkeln, wo die Asseln hausen, und brennen auf den Palastdächern der Reichen, brennen in den Kirchen, wo man die alten Wunder rationalistisch verrät, und brennen bei den Wechslern, die aus ihrer Bude einen Tempel gemacht haben.
Wir können noch nicht Ja sagen. Wir wissen nur das eine: es soll mit eisernem Besen jetzt, grade jetzt und heute ausgekehrt werden, was in Deutschland faul und vom Übel war und ist. Wir kommen nicht damit weiter, daß wir den Kopf in ein schwarz-weiß-rotes Tuch stecken und ängstlich flüstern: Später, mein Bester, später! nur jetzt kein Aufsehen!
Jetzt.
Es ist lächerlich, einer jungen Bewegung von vier Monaten vorzuwerfen, sie habe nicht dasselbe Positive geleistet wie eine Tradition von dreihundert Jahren. Das wissen wir.
Wir stehen vor einem Deutschland voll unerhörter Korruption, voll Schiebern und Schleichern, voll dreimalhunderttausend Teufeln, von denen jeder das Recht in Anspruch nimmt, für seine schwarze Person von der Revolution unangetastet zu bleiben. Wir meinen aber ihn und grade ihn und nur ihn.
Und wir haben die Möglichkeit, zu wählen: bekämpfen wir ihn mit der Liebe, bekämpfen wir ihn mit Haß? Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. Mit Haß gegen jeden Burschen, der sich erkühnt hat, das Blut seiner Landsleute zu trinken, wie man Wein trinkt, um damit auf seine Gesundheit und die seiner Freunde anzustoßen. Mit Haß gegen einen Klüngel, dem übermäßig erraffter Besitz und das Elend der Heimarbeiter gottgewollt erscheint, der von erkauften Professoren beweisen läßt, daß dem so sein muß, und der auf gebeugten Rücken vegetierender Menschen freundliche Idyllen feiert. Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit.
Negativ? Viereinhalb Jahre haben wir das fürchterliche Ja gehört, das alles gut hieß, was frecher Dünkel auszuführen befahl. Wie war die Welt so lieblich! Wie klappte alles, wie waren alle d’accord, ein Herz und keine Seele, wie bewegte sich die künstlich hergerichtete Landschaft mit den uniformierten Puppen darin zum Preise unsrer Herren! Es war das Thema des Anakreon. Und mit donnerndem Krachen ist das zusammengebrochen, was man früher für eisern gehalten hatte, und was nicht einmal Gußeisen war, die Generale fangen an, sich zu rechtfertigen, obgleich sie es gar nicht nötig hätten, keiner will es gewesen sein, und die Revolutionäre, die zu spät kamen und zu früh gebremst wurden, werden beschuldigt, das Elend herbeigeführt zu haben, an dem doch Generationen gewirkt hatten. Negativ? Blut und Elend und Wunden und zertretenes Menschentum – es soll wenigstens nicht umsonst gewesen sein. Laßt uns auch weiterhin Nein sagen, wenn es not tut! Es ist das Thema des Aischylos.


Autorenangabe: Kurt Tucholsky
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 13.03.1919, Nr. 12, S. 279.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 3. Texte 1919, S. 110 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 2, S. 54 ff.

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Ignaz Wrobel: Was darf die Satire?

Frau Vockerat: »Aber man muß doch seine Freude haben können an der Kunst.«
Johannes: „Man kann viel mehr haben an der Kunst als seine Freude.«

Gerhart Hauptmann

Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.
Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: »Nein!« Eine Satire, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist.
Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den.
Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.
Die Satire eines charaktervollen Künstlers, der um des Guten willen kämpft, verdient also nicht diese bürgerliche Nichtachtung und das empörte Fauchen, mit dem hierzulande diese Kunst abgetan wird.
Vor allem macht der Deutsche einen Fehler: er verwechselt das Dargestellte mit dem Darstellenden. Wenn ich die Folgen der Trunksucht aufzeigen will, also dieses Laster bekämpfe, so kann ich das nicht mit frommen Bibelsprüchen, sondern ich werde es am wirksamsten durch die packende Darstellung eines Mannes tun, der hoffnungslos betrunken ist. Ich hebe den Vorhang auf, der schonend über die Fäulnis gebreitet war, und sage: »Seht!« – In Deutschland nennt man dergleichen ›Kraßheit‹. Aber Trunksucht ist ein böses Ding, sie schädigt das Volk, und nur schonungslose Wahrheit kann da helfen. Und so ist das damals mit dem Weberelend gewesen, und mit der Prostitution ist es noch heute so.
Der Einfluß Krähwinkels hat die deutsche Satire in ihren so dürftigen Grenzen gehalten. Große Themen scheiden nahezu völlig aus. Der einzige ›Simplicissimus‹ hat damals, als er noch die große, rote Bulldogge rechtens im Wappen führte, an all die deutschen Heiligtümer zu rühren gewagt: an den prügelnden Unteroffizier, an den stockfleckigen Bürokraten, an den Rohrstockpauker und an das Straßenmädchen, an den fettherzigen Unternehmer und an den näselnden Offizier. Nun kann man gewiß über all diese Themen denken wie man mag, und es ist jedem unbenommen, einen Angriff für ungerechtfertigt und einen anderen für übertrieben zu halten, aber die Berechtigung eines ehrlichen Mannes, die Zeit zu peitschen, darf nicht mit dicken Worten zunichte gemacht werden.
Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.
Aber nun sitzt zutiefst im Deutschen die leidige Angewohnheit, nicht in Individuen, sondern in Ständen, in Korporationen zu denken und aufzutreten, und wehe, wenn du einer dieser zu nahe trittst. Warum sind unsere Witzblätter, unsere Lustspiele, unsere Komödien und unsere Filme so mager? Weil keiner wagt, dem dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend.
Nicht einmal dem Landesfeind gegenüber hat sich die deutsche Satire herausgetraut. Wir sollten gewiß nicht den scheußlichen unter den französischen Kriegskarikaturen nacheifern, aber welche Kraft lag in denen, welch elementare Wut, welcher Wurf und welche Wirkung! Freilich: sie scheuten vor gar nichts zurück. Daneben hingen unsere bescheidenen Rechentafeln über U-Boot-Zahlen, taten niemandem etwas zuleide und wurden von keinem Menschen gelesen.
Wir sollten nicht so kleinlich sein. Wir alle – Volksschullehrer und Kaufleute und Professoren und Redakteure und Musiker und Ärzte und Beamte und Frauen und Volksbeauftragte – wir alle haben Fehler und komische Seiten und kleine und große Schwächen. Und wir müssen nun nicht immer gleich aufbegehren (›Schlächtermeister, wahret eure heiligsten Güter!‹), wenn einer wirklich einmal einen guten Witz über uns reißt. Boshaft kann er sein, aber ehrlich soll er sein. Das ist kein rechter Mann und kein rechter Stand, der nicht einen ordentlichen Puff vertragen kann. Er mag sich mit denselben Mitteln dagegen wehren, er mag widerschlagen – aber er wende nicht verletzt, empört, gekränkt das Haupt. Es wehte bei uns im öffentlichen Leben ein reinerer Wind, wenn nicht alle übel nähmen.
So aber schwillt ständischer Dünkel zum Größenwahn an. Der deutsche Satiriker tanzt zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen Eiertanz. Das ist gewiß recht graziös, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint.
Was darf die Satire?
Alles.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Berliner Tageblatt, 27.01.1919, Nr. 36.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 3. Texte 1919, S. 82 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 2, S. 42 ff.

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Kurt Tucholsky: Rosa Bertens

Eine Dame geht hinter die Kulissen, in ihre Garderobe, schminkt sich ein wenig und kommt heraus, auf die Bühne. Ihre bürgerliche Person tritt in den Hintergrund und geht uns nichts mehr an – die Künstlerin ist imstande, uns alles und alle vorzutäuschen: die Schwatzende und die Weinende und die Hassende und die Leidende. Sie ist, wie Julius Bab vor Jahren hier sagte: der Gipfel einer distanzierenden Schauspielkunst. Sie identifiziert sich nicht mit ihren Gestalten: »Sie gibt statt eines lebendigen Menschen den Sinn eines Menschenlebens – seinen letzten Gehalt.«
Sie spielte bunte Papageien in Konversationsstücken, trauen, die sie lächerlich zu machen hatte, und das Publikum lachte denn auch, weil sie zu hastig oder durch die Nase sprach – aber sie ließ doch tiefer sehen. Durch eine Schicht von Kosmetika, die Jugend vortäuschen sollte, grinste das Alter, diese schrecklichen dreißig Jahre, die nach den ersten dreißig Jahren kommen. Sie stand da, mit einem schiefen Federhut, sie plapperte, sie lorgnettierte, sie neigte schelmisch den wohltoupierten Kopf – und konnte mit einer kleinen Senkung der Stimme zu verstehen geben, daß sie sehr wohl wußte: es half alles nichts. Tick-tack, ticktack – da war nichts zu machen.
Letzten Endes war es ja gleichgültig, ob das bewußtes Können war: ihre Kraft der Suggestion – und was andres ist Schauspielkunst? – zwang uns, zu glauben, was sie wollte. Als in ›Gabriel Schillings Flucht‹ die Weiber aufeinanderplatzten, stand die Bertens ganz allein und hatte wenig zu sprechen. Und als alle durcheinanderschrieen und riefen und tobten, da sah sie leer in die Luft. Und dann weinte sie. Man hörte keinen Laut, aber ein Strom von Schmerz ging von ihr aus, wie sie so grau und unansehnlich dastand; sie bildete in diesem Augenblick das Symbol der Trauer. Sie verhüllte eigentlich nur das Gesicht, und doch war das mehr als alle Tränen und alles Geschrei.
Und in eine Untersuchung über den distanzierenden Stil in der Schauspielkunst drängt sich ein grandioses Bild, eine Rolle, in der diese Frau noch einmal alles, alles zusammenfassen konnte: den Schmerz und den Geifer und die Tränen und – wer weiß? – vielleicht auch die Liebe. Das ist die Mutter in ›Scheiterhaufen‹.
Wind und Musik, Wind und Musik! Der Wind streicht durch das hohe Zimmer, wellt die lange Gardine vom Fenster, er klagt draußen um die Ecken mit menschlichen Tönen, und im Wind spielt jemand Klavier. Und dann ihre unvergeßliche Stimme: »Schließ die Tür, bitte!« Was war das? Sie fürchtete sich, sie erschauerte vor Furcht und Grauen. Sie saß auf einem gepolsterten Sessel und hielt sich an den Armlehnen fest. Herrschte sie noch? Sie hatte geherrscht, fünfzehn Jahre, zwanzig, vielleicht länger, und es waren bittere Jahre gewesen. Sie hatte die ganze Zeit hindurch ihre Augen offen gehabt, sie, die ungekrönte Königin einer Fünfzimmerwohnung. Da war kein Scheit Holz, kein Stück Zucker, keine Scheibe Wurst, die nicht durch ihre Hände gegangen wären. Und so gehört es sich ja wohl. »Schließ die Tür, bitte!« Wimmerte sie jetzt? Sollte sie zetern, würdevoll gebieten, flehen? Sie wußte es nicht – die Lage war zweifelhaft. Sie zitterte vor Herrschsucht, bebte vor Angst, gestürzt zu werden. Noch war sie Gebieterin. »Schließ die Tür, bitte!« Die Eysoldt hätte sich eine gefährliche Schlange zurechtgezischt und damit einen Fehler gemacht. Die Bertens ignorierte den unendlich seltenen Sonderfall und dozierte uns kühl und scharf das Paradigma der Mutter. Dies war durchaus kein Monstrum. Dies existierte zwar nicht, aber es war ein entsetzliches Mosaikbild aller Mütter. Keine hatte Milch unterschlagen, Kinder hungern lassen, Holz gestohlen. Keine hatte kriminell Strafbares begangen. Aber die Wahrheiten müssen sich aufplustern, damit wir sie recht erkennen. Hier war die ›Humbugmutter Medea‹, von der jede im Parkett ein Stückchen hatte. Das war kein Einzelwesen mehr – das war etwas viel Schrecklicheres: das war die Hölle, aber eine sehr menschliche Hölle.
Und da gab es einen toten Mann, der nicht auf dem Personenzettel stand – aber sie machte ihn leben. Ihre Augen weiteten sich vor Grauen, er könne wieder auferstehen, also war er da, spielte stumm und unsichtbar mit, schaukelte auf dem leeren Schaukelstuhl und geisterte im Zimmer umher. Sie ließ sein Bild von der Wand reißen, sie wirbelte mit dem Zugwind herum, klapperte und wühlte in allen Schubladen zugleich – er war da! er war da!
Sie sprach nicht sehr ausführlich von ihm, und doch hatten wir da die ganze Ehe. »Es gibt höllische Ehen in der Welt zwischen Ehegatten, welche inwendig die bittersten Feinde, äußerlich aber die herzlichsten Freunde sind«, sagt Swedenborg und zählt die Gründe für diese »ehelichen Verstellungen auf«, die ihm lobenswert scheinen: die Erhaltung der Ordnung im Hauswesen, einmütige Sorge für die Kinder, der häusliche Frieden, der gute Ruf, allerhand pekuniäre Vorteile. So mochte es anfangs um sie gestanden haben. Aber dann kam doch der Krieg, der niederträchtige Kleinkrieg.
»Der eigentliche Grund, weshalb die Frauen zur Herrschaft gelangen, liegt darin, daß der Mann aus dem Verstande handelt und das Weib aus dem Willen, und daß der Wille sich verhärten kann, nicht aber der Verstand.« Oh, er verhärtete sich! »Es wurde mir gesagt«, fährt Swedenborg fort, »daß die schlimmsten dieser Sorte, welche vom Streben nach Herrschaft ganz durchdrungen sind, an ihren eigensinnigen Forderungen bis zum letzten Atemzuge festhalten können.« Bis zum letzten Atemzuge. (Der Germane scherzte hierüber wohl noch gutmütig in seinen Volksschwänken; der Jude hatte einen schmachvollen Frieden geschlossen, denn sein Autoritätsgefühl der Frau gegenüber ist größer, groß bis zur Furcht.)
War das die Notwehr der Frauen? Die Angst vor dem Mann, dessen Überlegenheit sie erkannten, und dem sie sich doch nicht unterordnen mochten? Die Bertens legte mit grausamen Fingern dar, daß es ganz etwas andres war. Sie hockte auf ihren geretteten Scheiten Holz, die sie, vor Herrschsucht keuchend, aus dem Kamin gezogen hatte; sie stopfte sie unter das Sofa und saß knurrend da, wie ein Hund über dem Knochen. Es handelte sich gar nicht um das Holz: sie hatte ihren Willen, ihren verfluchten Willen.
Und es war nicht das Mogeln, die Nachlässigkeit in der Erziehung und der Geiz – es war nicht das. Es war die unbändige Herrschsucht der Familienglucke, die auf Küken und Hahn gleichmäßig hackte. Früher hatte die Geliebte dem Mann die Augen zugeküßt, sodaß er nichts mehr zu sehen vermochte – nun errichtete sie die heiligen Schranken der heimatlichen Hütte, worin sie regierte. Hier war ihr Reich; und der weite Horizont war verbaut. Hier herrschte sie, herrschte mit allen Mitteln. Mit Gewalt, mit Schlägen, mit der Lüge, »wenn man das Wort Lügen von jemand benutzen kann, der nicht weiß, was Wahrheit ist«. Der Familienversorger war da – Rechte hatte er nicht. (Weil er nicht die Kraft hatte, sie sich zu nehmen.) »Da waren schreibende Damen, kranke Damen, faule Damen, junge Damen, schöne Damen«, schrieb Strindberg 1886 von der Schweiz. Die Bertens spielte alle auf einmal. Sie gab einen Extrakt. »Wenn er deren Müßiggang sah, der keine Sorgen, keine Arbeit zu kennen schien, so fragte er sich: wovon leben diese Parasiten?« Und: wovon leben sie? fragen wir uns, wenn wir zänkische Weiber das Portemonnaie ziehen sehen. Seht dahinter den Mann! Den Mann auf dem Kontorbock, auf dem Kasernenhof, im muffigen Laden; und denkt an ihn!
Das Phantom, das die Bertens für ein paar Stunden leben ließ, dachte an ihn. Wie sie ihn haßte! Sie hatte ihn nötig, und es gab kein besseres Mittel, diese Abhängigkeit zu verstecken als dadurch, daß man sie negierte. Der Tölpel, die Tölpel merkten nichts.
Da war der Familientisch mit der gemütlichen Lampe. Ein Flug in die Sonne? Flieg du, wenn die Bleiklumpen der Frauen dich zur Erde ziehen. Nieder! nieder! nieder! Du sollst nicht zu den Wolken, du sollst nicht höher steigen, als wir sehen können, und wir sind kurzsichtig, das ist wahr, aber bleibe bei uns! Lache, schluchze, murre, aber unter unsrer Kontrolle; wir wollen im Nebenzimmer sitzen, wenn du lachst, schluchzt, murrst, damit wir immer wissen, was du grade treibst. Du sollst nicht allein sein, nie! Du könntest auf schlimme Gedanken kommen, am Ende gar auf die Freiheit! Wir sind die Hennen – schlupf unter!
Die Kinder? Wir lieben unsre Kinder. Wie wir sie lieben! Die Bertens hatte diesen empfindlichsten Punkt ihrer Rolle begriffen. Sie haßte ihre Kinder nicht. Sie würde sie wahrscheinlich gegen Fremde verteidigt haben. Das Muttertier liebt seine Jungen; und wenns ein Wechselbalg wird, auch den. Doch Liebe, steht geschrieben, ist nur möglich von Individualität zu Individualität. Dies aber ist eine reflexartige Verbindung, ein geistiges Verhältnis, das auf dem körperlichen basiert – alles, alles, nur keine Liebe.
Und die Resultate? Die Kinder wurden nicht für den Staat und für die Gemeinschaft, sondern immer nur für eine neue Familie erzogen, und die meisten Utopisten, wie auch Cabet, den Strindberg bejahte, bemühten sich, in ihren Mondund Sonnenreichen den engen Kreis der Familie auszudehnen. Doch das stand auf dem Papier. Die Bertens war greifbarste Wirklichkeit. Und in all dem Brodem, in all den heißen Schlachten mochte vor dem gequälten Mann wie eine Lufterscheinung das friedliche Bild jener andern so seltenen Frau auftauchen, die nicht brauchte, was seiner so bitter nötig tat: eine harte Faust und einen eisernen Willen. Diese andre gab sich so zufrieden, sie strich mit ihren schlanken Fingern dir durch das Haar, verachtete es, sich einen Sklaven zu halten, und liebte den Starken auch ohne die schimmernde Rüstung. Vielleicht war das gar keine Frau mehr? Umso besser: dann war es der beste Lebenskamerad. Und wohl dem, der eine solche Hand halten darf! Er halte sie ganz fest, denn sie ist ein Schatz, den nicht jeder findet.
Hatte er so geträumt? Vielleicht. Aber nun war er tot. Was würde geschehen? Bis dahin waren die Fenster sorgfältig verriegelt gewesen: jetzt wehte scharfe Luft von draußen herein. Es zog; aber es war immerhin keine Stubenluft. Sie hatte ihre Zeit geherrscht – sollte jetzt alles zusammenstürzen? Denn das war das Schlimmste: Magd sein, dienen müssen, einem fremden Willen gehorchen. Niemals. Und sie duckt sich und sucht durch alle Löcher zu entwischen. Noch einmal: Gewalt. Aber der Schwiegersohn ist ein Fleischhacker an Brutalität. Nun denn: Mitleid. Und wie hier die Bertens ein Leierkastenlied auf ihre Jugend, auf ihre bösen Eltern sang: das war hinreißend. Die Sympathie kippte auf ihre Seite. Der Sohn schluchzt. Sie stellt sorgfältig fest: »Hast du Mitleid mit mir?« Ja, er hats. Dann ist es gut. Und als dann die Vorwürfe der Tochter kommen, trommelt sie vergnügt, ruhig, heiter mit den Fingern auf der Stuhllehne. »Ich kann nichts dafür! Ich kann nichts dafür!« Sie hat gebeichtet, Schwächen zugegeben, Entschuldigungen gefunden – sie ist gesichert, ihr kann nichts geschehen. Und da vergißt sie sich, nunmehr ein Stück Natur im Urzustand, vergißt sich und wie alt sie ist, und wird wieder jung und singt. »Der Walzer: ›Er sagte mir‹ wird gespielt.« Und aus ihrem alten Gesicht springt das junge heraus, sie wiegt einen schwerfälligen, fetten Körper im Takt und girrt in hohen Kopftönen. Der Ekel packt einen vor dem alternden Weibchen – es ist derselbe Ekel, den man empfindet, wenn die Natur eine Achtjährige verdorben sein läßt.
Und dann zieht sich die Spirale enger und enger; sie sieht, daß es kein Entrinnen mehr gibt, und sie brüllt vor Wut wie ein gefangenes Tier. Lieber sterben als nachgeben! Sie rast ans Fenster, kauert sich zum Sprung und stürzt hinaus. Wind und Musik! Wind und Musik! Und ihr letzter Gedanke ist: »Macht! Macht!« und: »Ich! Ich!«
Ein Spiel? Gewiß. Wenn aber der Vorhang gefallen ist, blinzeln wir ins Licht, taumeln, sammeln uns und küssen der großen Spielerin ehrfurchtsvoll die Hände.

Autorenangabe: Kurt Tucholsky
Ersterscheinung: Die Schaubühne, 07.05.1914, Nr. 19, S. 520.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 2. Texte 1914-1918, S. 182 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 1, S. 219 ff.

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