Offener Brief zum Deserteurdenkmal in Ulm

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
Sehr geehrte Ratsfrauen, sehr geehrte Ratsherren:

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft mit Sitz in Berlin hat durch die Presse erfahren, dass die Bildhauerin Hannah Stütz-Mentzel in den achtziger Jahren eine Stahlskulptur zum Gedenken an die Deserteure des Zweiten Weltkriegs gefertigt hat, deren Aufstellung in Ulm zur Zeit von Bürgerinnen und Bürgern gefordert wird.

Gestatten Sie uns, deshalb zu diesem Vorhaben unterstützend Stellung zu nehmen, weil es sich bei der Inschrift auf dem als "Stein des Anstoßes" bezeichneten Kunstwerk um ein bekanntes Zitat des Namensgebers unserer Gesellschaft handelt. Das Bestreben der Kurt Tucholsky-Gesellschaft ist seit ihrer Gründung im Jahr 1988, nicht nur die Erinnerung an das schriftstelleri-sche Werk Tucholskys wach zu halten, sondern stets auch auf die Aktualität des überzeugten Pazifisten und engagierten Antimilitaristen für die heutige Zeit hinzuweisen.

Das Zitat entstammt dem Artikel "Die Tafeln", den Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Ignaz Wrobel in der Weltbühne vom 21. April 1925 auf Seite 601 veröffentlicht hatte. Mit diesem Beitrag nahm Tucholsky schon damals Anstoß an den fehlenden Erinnerungstafeln für Menschen, die sich aus Überzeugung geweigert hatten, auf ihre Mitmenschen zu schießen.

Dieses fehlende Gedenken ist nach wie vor offenkundig. Wir würden es daher sehr begrüßen, wenn die Stadt Ulm sich dazu entschließen könnte, diesem Mangel abzuhelfen. Auch wenn es in Ulm - wie in den meisten anderen deutschen Städten und Gemeinden - ein Denkmal für die Toten des Zweiten Weltkriegs gibt, macht dies ein Denkmal für die Deserteure nicht überflüssig. Denn, wenn auch seit Kriegsende sechzig Jahre vergangen sind, ist endlich - auch zur Erinnerung und Mahnung nachfolgender Generationen - der Deserteure zu gedenken:

"Sie sind Menschen geblieben, haben sich ihr Gewissen bewahrt, ihren natürlichen Lebenserhaltungstrieb und ihre natürliche Abwehr davor, andere, oft wehrlose, Menschen zu töten.
(Wolfgang Kaleck, Zum Gedenken an den Widerstand der Deserteure, in: Informationsbrief des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, 93.2004, Seite 42)

Diese Erinnerungsarbeit ist um so mehr zu leisten, als auch der Deutsche Bundestag im Jahr 2002 endlich die deutschen Deserteure rehabilitiert und ihnen damit den Ruch der "Verräter und Feiglinge" genommen hat.

Wir bitten Sie eindringlich, das Gedenken an die "anderen Soldaten", die Befehle und den Dienst verweigerten, hochzuhalten und der "Skulptur des Anstoßes" einen dauerhaften Standort in Ihrer Stadt zu geben. Ihre positive Entscheidung würden wir selbstverständlich mit großer Freude und mit Dank in unseren Publikationen bekannt machen.

Mit den besten Grüßen

Eckart Rottka

Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

P.S. Wegen der öffentlichen Debatte in Ihrer Stadt und des breiten Inter-esses an dieser Frage haben wir unser Schreiben als "Offenen Brief" verfasst, den wir u.a. auch der Ulmer Presse zuleiten.

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