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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief Dezember 2017 Rundbriefe

In Gedenken an Irmgard Ackermann

Der Tod von Irmgard Ackermann am 10. Juli lässt uns in ehrenvollem Gedenken zurückblicken auf die Anfänge unserer Gesellschaft, in der Irmgard Ackermann, die promovierte Akademische. Direktorin am germanistischen Institut  der Universität München, im Gründungsvorstand die Funktion der Schatzmeisterin innehatte, die sie verlässlich und gewissenhaft erfüllte. Aber dies war nicht ihr vorrangiges Verdienst, das sie sich um das Werk von Tucholsky erworben hat.
Wir waren ein kleiner Kreis von Tucholsky Profis (Publizisten, Wissenschaftler, Künstler und Vertraute), die in Rheinsberg bei einem Ost-West Treffen über die Gründung einer Kurt Tucholsky Gesellschaft  im Vorfeld der Deutschen Vereinigung debattierten, dies bei Harry Pross in Weiler 1988 beschlossen und vereinsrechtlich in Stuttgart/Ludwigsburg vollzogen. Irmgard Ackermann war nicht dabei und uns bis dahin nur als Herausgeberin der 1981 erschienenen edition text und kritik (Kurt Tucholsky. Sieben Beiträge zu Werk und Wirkung) bekannt, die das »Defizit in der Tucholskyforschung« sichtbar machen sollte, wie es in der Einleitung hieß. Ein zum Glück durch die spätere Tucholskyforschung heute überholtes Werk.
Beate Schmeichel-Falckenberg, meine stellvertretende Vorsitzende im Gründungsvorstand, hatte Irmgard ins Gespräch um das Amt der Schatzmeisterin gebracht, die Nähe von Esslingen und München erleichterte die Vorstandstreffen. Doch dies war nicht der eigentliche Beweggrund. Irmgard gehörte mehr zu den stillen Mitdenkern im Tucholsky Freundeskreis, hielt sich lieber bedeckt und suchte nicht die eigene Profilierung, wenn die Tucholskyprofis die Bühne beherrschten und der Gesellschaft in den Anfängen eine belebende und produktive, mitunter auch sehr kreativ streitbare Wirksamkeit verliehen. Aufgrund der von Irmgard Ackermann vorgelegten Forschungsübersicht zeigte sie auch ein Interesse, im Vorfeld des Gedenkjahres zum 100. Geburtstag von Kurt Tucholsky sich in der Gesellschaft zu engagieren. Dies bewies Irmgard Ackermann bei den Gedenkaktivitäten in München und bei der Mitherausgabe der Publikation »Tucholsky heute. Rückblick und Ausblick« (iudicium Verlag München 1991). Darin belegt sie mit den angeregten Beiträgen, dass die von Irmgard Ackermann zurecht beklagte »Abstinenz der Literaturwissenschaft« zeitweise aufgegeben wurde und mit der damals angekündigten kommentierten Edition der Tucholsky Texte und Briefe (GW) ermöglicht und an der Uni Oldenburg mit Antje Bonitz und Michael Hepp vollendet wurde.
In ihrem Aufsatz »Tucholskys Blick auf 1990. Gedanken zu Tucholskys 100. Geburtstag am 9. Januar 1990« (Stimmen der Zeit (208), H.1, Herder Freiburg 1990, S.30ff.) gibt Irmgard Ackermann selbst eine noch heute aktuelle Anregung über die Gültigkeit und Wertigkeit der Tucholsky Texte in ihrer repräsentativen Zeitlosigkeit nachzudenken. Ackermann analysiert die auf die Zukunft gerichteten Zeitgedichte für den »zukünftigen Leser« nach der journalistischen Qualität und ihrem literarischen Rang. Sie geht der Frage nach, wodurch Tucholsky die geschichtskritische Perspektive mit einer an menschlichen Grundsätzen orientierten Gegenwartsanalyse mit einem erstaunlich prognostischen Zukunftsblick und dazu noch prickelnd leserzugewandt zu verbinden wusste.  Dieses ‚Zeitfenster‘ (Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges), das sein Schreiben perspektivisch bestimmte, gibt diesen Texten die journalistische Seriosität von geschichtlicher Recherche, von politischer Wachsamkeit aufgezeigt an konkret inszenierten Gegenwartsereignissen und die literarische Souveränität, Rückschlüsse auf grundsätzlich Gültiges ins kritische Bewusstsein zu heben. Leider ist Irmgard Ackermann ihrem eigenen Impuls nicht längerfristig nachgegangen, u. a. weil sie sich in ihrer akademischen Laufbahn für einen anderen mehr didaktisch orientierten Schwerpunkt („Deutsch als Fremdsprache“) entscheiden musste.
Wir wollen an die Verstorbene und ihre Lektüreinitiative ‚Tucholsky gegenwartskritisch lesen‘ erinnern, nämlich Tucholskys Texte immer wieder neu textkritisch und aktualisierend anzueignen, das heißt aufklärerisch für unsere Gegenwart auszudeuten, indem wir -angeregt von ihr- an einen Tuchotext erinnern, der in der unmittelbaren Jetztzeit ein wachsames Zeitbewusstsein schärfen kann.

 Wie war es-?
So war es-! (1928)
 Sehr geehrter Herr Professor!
Sie sitzen an Ihrem Schreibtisch sowie im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, im Jahre 1991, und halten den Blick rückwärts gewendet, wie Ihr Beruf es befiehlt. Sie lehren Geschichte – Sie schreiben Geschichte – Sie studieren Geschichte. Sie halten gerade bei den Jahren um 1914, und Sie fragen sich und die Geschichtsliteratur: Wie ist  gewesen?
[…] Ob einer die Wahrheit schreibt, Herr Professor, das kann man hören. Allerletzten Endes gibt es keine andere Möglichkeit, die Wahrheit ausfindig zu machen. Zahlen können trügen – Statistiken erst recht – Dokumente können gefälscht sein, geschickt ausgewählt, zusammengestrichen sein … aber der Ton der Wahrheit, die Musik der Wahrheit -: das täuscht nie. Haben Sie Ohren, Herr Professor? Dann hören Sie, was da klingt …
[…] Wir sind tot, wenn Sie das lesen, Herr Professor. Aber unsere Stimmen steigen noch aus der Erde auf, beschwörend, mahnend, anklagend  – –  Wie war es?
So war es.

(Ignaz Wrobel, Wie ich zum Tode verurteilt wurde, 1928, GW10,152)
Nehmen wir Tucholskys Weckruf »die Wahrheit hören«, hinter der politischen Rhetorik aufspüren, als ehrendes Gedenken an Irmgard Ackermann, also als Weckruf an uns und lesen wir wieder Tucholskys Texte und zitieren wir sie nicht nur, nehmen wir sie als Weckruf für einen neuen Diskurs für unser Gegenwartsbewusstsein und schärfen wir unseren »Gruß nach vorn« (1926), »Lieber Leser 1985«!, auch in unserer Gesellschaft.
Das Zeitfenster und die berufliche Provenienz der Textverortung kann aktualisiert bzw. ausgetauscht werden. Die Trump- und AfD- Zeiten – die Namensliste wäre erweiterbar) – stehen bereits in der Tür!

Harald Vogel