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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief Dezember 2017 Rundbriefe

Abschied von Beate Schmeichel-Falkenberg

Die Gründerreihen unserer KTG lichten sich.  Von den 23 Gründungszeichnern am 2. April 1988 in Weiler sind nur noch fünf Mitglieder in unserer Gesellschaft, 10 Todesfälle mussten wir beklagen und 8 Austritte verzeichnen.
Nach Irmgard Ackermanns Todesnachricht erreichte mich kurz danach die traurige Anzeige, dass auch Beate Schmeichel-Falkenberg mit 91 Jahren am 17. September von uns gegangen ist. Ich hatte im letzten Jahr noch zum 20. Juni Beates 90. Geburtstag in unserem Mitteilungsblatt ausführlich gewürdigt und möchte zum ehrenden Gedenken an unsere engagierte, kommunikativste, stets im vordersten Hintergrund präsente Mitgründungsinitiatorin Beate Schmeichel-Falkenberg das Gesagte nicht wiederholen.
Zu ergänzen wäre noch, dass Beate aufgrund Ihres Ferienhauses in Schweden, auch die Kontakte zu den Tucholskyfreunden in Schweden gepflegt hat, allen voran Maren von Bothmer und Olle Hambert, mit denen die unvergessene Gripsholmtagung Pfingsten 1994 ermöglicht wurde. Wir konnten dort auch die besondere Ehrung für und mit Inga Melin, Tucholskys Malwine, und die Auszeichnung für Sonja Thomassen, Lisa Matthias (Lottchens) Tochter, vornehmen. Der Beitrag von Beate Schmeichel-Falkenberg »Lisa Matthias und Gertrude Meyer« in der Tagungsdokumentation (Hepp/Links Hrsg. »Kurt Tucholsky und Schweden«) zeugt von der emsigen Rechercheakribie der umfassend belesenen Tucholskyliebhaberin.
Beates treuer Begleiter Manfred Schmeichel, der wenige Jahre vor ihr gestorben ist, sei in dieser Erinnerung nicht vergessen. Er verstand in aller Stille, verlässlich im Hintergrund agierend, alle Hürden für seine Frau auszuräumen. Es gehörte auch zu Beates Stärken, als überzeugte Frauenkämpferin alle Kräfte für Ihre Ziele zu aktivieren.
So erklärt sich auch, dass Beate Schmeichel-Falkenberg nach ihrer langjährigen Vorstandsarbeit für die KTG als Vorsitzende der Gesellschaft für Exilautorinnen ebenso engagiert tätig war und Tagungsberichte herausgab. Auch deshalb wurde ihre Präsenz in der Gesellschaft zurückhaltender.
Die KTG hat Beate sehr viel zu verdanken, ihre Leidenschaft, Energie, Zielstrebigkeit und Durchsetzungskraft war und ist nicht zu ersetzen. Unsere Erinnerung wird das Geleistete wachhalten und ihre menschliche Nähe weiterhin vermissen. Ein ehrendes Gedenken ist ihr in unserer Gesellschaft sicher.

Harald Vogel

Die Urnenbeisetzung findet am 3. November um 15 Uhr in der Belsener Kirche in Mössingen-Belsen statt.
Statt Blumen wird um eine Spende an Pro Asyl mit dem Stichwort Beate Schmeichel-Falkenberg gebeten:
ProAsyl, IBAN DE70 3702 0500 5050 50, BIC BFSWDE33XXX

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief Dezember 2017 Rundbriefe

In Gedenken an Irmgard Ackermann

Der Tod von Irmgard Ackermann am 10. Juli lässt uns in ehrenvollem Gedenken zurückblicken auf die Anfänge unserer Gesellschaft, in der Irmgard Ackermann, die promovierte Akademische. Direktorin am germanistischen Institut  der Universität München, im Gründungsvorstand die Funktion der Schatzmeisterin innehatte, die sie verlässlich und gewissenhaft erfüllte. Aber dies war nicht ihr vorrangiges Verdienst, das sie sich um das Werk von Tucholsky erworben hat.
Wir waren ein kleiner Kreis von Tucholsky Profis (Publizisten, Wissenschaftler, Künstler und Vertraute), die in Rheinsberg bei einem Ost-West Treffen über die Gründung einer Kurt Tucholsky Gesellschaft  im Vorfeld der Deutschen Vereinigung debattierten, dies bei Harry Pross in Weiler 1988 beschlossen und vereinsrechtlich in Stuttgart/Ludwigsburg vollzogen. Irmgard Ackermann war nicht dabei und uns bis dahin nur als Herausgeberin der 1981 erschienenen edition text und kritik (Kurt Tucholsky. Sieben Beiträge zu Werk und Wirkung) bekannt, die das »Defizit in der Tucholskyforschung« sichtbar machen sollte, wie es in der Einleitung hieß. Ein zum Glück durch die spätere Tucholskyforschung heute überholtes Werk.
Beate Schmeichel-Falckenberg, meine stellvertretende Vorsitzende im Gründungsvorstand, hatte Irmgard ins Gespräch um das Amt der Schatzmeisterin gebracht, die Nähe von Esslingen und München erleichterte die Vorstandstreffen. Doch dies war nicht der eigentliche Beweggrund. Irmgard gehörte mehr zu den stillen Mitdenkern im Tucholsky Freundeskreis, hielt sich lieber bedeckt und suchte nicht die eigene Profilierung, wenn die Tucholskyprofis die Bühne beherrschten und der Gesellschaft in den Anfängen eine belebende und produktive, mitunter auch sehr kreativ streitbare Wirksamkeit verliehen. Aufgrund der von Irmgard Ackermann vorgelegten Forschungsübersicht zeigte sie auch ein Interesse, im Vorfeld des Gedenkjahres zum 100. Geburtstag von Kurt Tucholsky sich in der Gesellschaft zu engagieren. Dies bewies Irmgard Ackermann bei den Gedenkaktivitäten in München und bei der Mitherausgabe der Publikation »Tucholsky heute. Rückblick und Ausblick« (iudicium Verlag München 1991). Darin belegt sie mit den angeregten Beiträgen, dass die von Irmgard Ackermann zurecht beklagte »Abstinenz der Literaturwissenschaft« zeitweise aufgegeben wurde und mit der damals angekündigten kommentierten Edition der Tucholsky Texte und Briefe (GW) ermöglicht und an der Uni Oldenburg mit Antje Bonitz und Michael Hepp vollendet wurde.
In ihrem Aufsatz »Tucholskys Blick auf 1990. Gedanken zu Tucholskys 100. Geburtstag am 9. Januar 1990« (Stimmen der Zeit (208), H.1, Herder Freiburg 1990, S.30ff.) gibt Irmgard Ackermann selbst eine noch heute aktuelle Anregung über die Gültigkeit und Wertigkeit der Tucholsky Texte in ihrer repräsentativen Zeitlosigkeit nachzudenken. Ackermann analysiert die auf die Zukunft gerichteten Zeitgedichte für den »zukünftigen Leser« nach der journalistischen Qualität und ihrem literarischen Rang. Sie geht der Frage nach, wodurch Tucholsky die geschichtskritische Perspektive mit einer an menschlichen Grundsätzen orientierten Gegenwartsanalyse mit einem erstaunlich prognostischen Zukunftsblick und dazu noch prickelnd leserzugewandt zu verbinden wusste.  Dieses ‚Zeitfenster‘ (Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges), das sein Schreiben perspektivisch bestimmte, gibt diesen Texten die journalistische Seriosität von geschichtlicher Recherche, von politischer Wachsamkeit aufgezeigt an konkret inszenierten Gegenwartsereignissen und die literarische Souveränität, Rückschlüsse auf grundsätzlich Gültiges ins kritische Bewusstsein zu heben. Leider ist Irmgard Ackermann ihrem eigenen Impuls nicht längerfristig nachgegangen, u. a. weil sie sich in ihrer akademischen Laufbahn für einen anderen mehr didaktisch orientierten Schwerpunkt („Deutsch als Fremdsprache“) entscheiden musste.
Wir wollen an die Verstorbene und ihre Lektüreinitiative ‚Tucholsky gegenwartskritisch lesen‘ erinnern, nämlich Tucholskys Texte immer wieder neu textkritisch und aktualisierend anzueignen, das heißt aufklärerisch für unsere Gegenwart auszudeuten, indem wir -angeregt von ihr- an einen Tuchotext erinnern, der in der unmittelbaren Jetztzeit ein wachsames Zeitbewusstsein schärfen kann.

 Wie war es-?
So war es-! (1928)
 Sehr geehrter Herr Professor!
Sie sitzen an Ihrem Schreibtisch sowie im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, im Jahre 1991, und halten den Blick rückwärts gewendet, wie Ihr Beruf es befiehlt. Sie lehren Geschichte – Sie schreiben Geschichte – Sie studieren Geschichte. Sie halten gerade bei den Jahren um 1914, und Sie fragen sich und die Geschichtsliteratur: Wie ist  gewesen?
[…] Ob einer die Wahrheit schreibt, Herr Professor, das kann man hören. Allerletzten Endes gibt es keine andere Möglichkeit, die Wahrheit ausfindig zu machen. Zahlen können trügen – Statistiken erst recht – Dokumente können gefälscht sein, geschickt ausgewählt, zusammengestrichen sein … aber der Ton der Wahrheit, die Musik der Wahrheit -: das täuscht nie. Haben Sie Ohren, Herr Professor? Dann hören Sie, was da klingt …
[…] Wir sind tot, wenn Sie das lesen, Herr Professor. Aber unsere Stimmen steigen noch aus der Erde auf, beschwörend, mahnend, anklagend  – –  Wie war es?
So war es.

(Ignaz Wrobel, Wie ich zum Tode verurteilt wurde, 1928, GW10,152)
Nehmen wir Tucholskys Weckruf »die Wahrheit hören«, hinter der politischen Rhetorik aufspüren, als ehrendes Gedenken an Irmgard Ackermann, also als Weckruf an uns und lesen wir wieder Tucholskys Texte und zitieren wir sie nicht nur, nehmen wir sie als Weckruf für einen neuen Diskurs für unser Gegenwartsbewusstsein und schärfen wir unseren »Gruß nach vorn« (1926), »Lieber Leser 1985«!, auch in unserer Gesellschaft.
Das Zeitfenster und die berufliche Provenienz der Textverortung kann aktualisiert bzw. ausgetauscht werden. Die Trump- und AfD- Zeiten – die Namensliste wäre erweiterbar) – stehen bereits in der Tür!

Harald Vogel

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Zum Tod von Jochanan Trilse-Finkelstein

Der Tucholsky-Preisträger Jochanan Trilse-Finkelstein ist mit 84 Jahren gestorben.

Jochanan bin ich viermal begegnet: bei den Tagungen in Schweden 1994, Paris 2008 und Berlin 2015, sowie in seiner Wohnung nahe der Schönhauser Allee, wo er seinen guten Freund Wolfgang Helfritsch und mich am Schabbat-Abend zum Essen eingeladen hatte. Er hat ein kompliziertes, zum Teil schweres Leben gehabt: in der Jugend als Jude und als Linker doppelt gefährdet, dann auch als respektierter Professor in der DDR und nach der Vereinigung 1990 manchmal gemeinen Diskriminierungen ausgesetzt. Seinen Lieblingsautoren  – Heine, Tucholsky, Peter Hacks – hielt er die Treue, war auf dem Gebiet des Theaters anerkannter Experte, der sich regelmäßig auch in dem Weltbühne-Nachfolgeorgan Ossietzky regelmäßig zu Wort meldete.

Ich habe Jochanans Kenntnisse bewundert, sein konsequent geführtes Leben ebenfalls. Sein ausführlicher Vortrag über die beiden Paris-Liebhaber Heine und Tucholsky wird keiner der anwesenden Tagungsteilnehmer vergessen. Gleiches gilt für die Rührung, mit der er 2015 seine Lebensgeschichte kurz und prägnant erzählte: ein würdiger Preisträger. Ich denke jedoch auch an den Privatmann: sicher war er manchmal ein Unbequemer, aber einer mit Zivilcourage und ein freundlicher, hilfsbereiter Gastgeber. Seine Lebensgefährtin Barbara, seine Freunde, seine Leserinnen und Leser – und unsere Gesellschaft- werden Jochanan vermissen.

Ian King, 1. Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

Jury-Begründung zur Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises 2015 an Jochanan Trilse-Finkelstein

Laudatio für Jochanan Trilse-Finkelstein 2015

Dankesrede von Jochanan Trilse-Finkelstein 2015

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Presseschau

Presseschau zum Tod von Gisela May

Gisela May, viele Jahre Ehrenmitglied der Kurt Tucholsky-Gesellschaft, war eine der bedeutendsten Schauspielerinnen des 20. Jahrhunderts. Als Diseuse von Weltrang ist ihr Schaffen eng mit dem Werk Kurt Tucholskys verbunden.
Sehr vielfältig fielen die Würdigungen anlässlich ihres Todes am 2. Dezember 2016 aus. Wir versuchen hier einen Überblick zu geben, der selbstredend keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann.
»Die May – wirklich einmalig« überschreibt Wolfgang Helfritsch, selbst Ehrenmitglied der Kurt Tucholsky-Gesellschaft, seinen Nachruf im KTG-Rundbrief Dezember 2016.
Für Deutschlandradio Kultur sprach Britta Bürger mit der Schauspielerin Carmen-Maja Antoni über Gisela May, zusammengefasst unter dem Fazit »Ich habe immer ihre Haltung bewundert«.
Ebenfalls für Deutschlandradio Kultur verfasste Dirk Fuhrig einen umfangreichen Nachruf unter dem Titel »Von Mutter Courage zu „Muddi“«, auf den auch von der Internationalen Hanns-Eisler-Gesellschaft verwiesen wird.
Für die junge Welt zeichnete Frank-Burkhard Habel (seines Zeichens langjähriges Vorstandsmitglied der Kurt Tucholsky-Gesellschft) für den umfassenden Nachruf »Parteilichkeit, glaubwürdig« auf »eine der letzten großen Diseusen des literarischen Kabaretts« verantwortlich.
Für die ARD-tagesschau erstellte Tina Löhneysen vom rbb einen Beitrag, dessen Begleittext sich nachlesen lässt.

Der knapp 15minütige Film von Anne Kohlick »Keine sang Brecht wie sie – Abschied von Gisela May« für den rbb kann weiterhin auf der Website des Senders angesehen werden.
Er findet sich übrigens ebenso als eingebettes Video im Nachruf »Mutter Courage ist tot« von Oliver Kranz ebenfalls vom rbb.
Die dpa-Meldung findet sich in der Süddeutschen Zeitung, deren nichtsdestotrotz lesenswerten Beitrag man in derselben oder ähnlichen Form naturgmäß auch andernorts findet.
Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb Simon Strauss eine Würdigung unter dem Titel »Brechts First Lady«.
Reinhard Wengierek hat seinen Nachruf für Die Welt mit »Der sozialistische Weltstar mit der Krawatte« betitelt.

Zwei Pole ihres Werkes erfasst die Überschrift »Muddi Courage«, die Lothar Heinke für seine Würdigung Gisela Mays im Tagesspiegel gefunden hat.
Etwas nüchterner formuliert dies Birgit Walter für die Berliner Zeitung, ihr Nachruf ist mit »Gegensätze gehörten zum Wesen dieser Diva« überschrieben.
Ihr Leben schlaglichtartig Revue passieren lässt Daland Segler für die Frankfurter Rundschau in seinem Nachruf »Die Stimme des Dichters«.
Kurz gehalten ist der Nachruf bei Theater der Zeit.
Für die Akademie der Künste, deren Mitglied Gisela May seit 1972 war, veröffentlichte deren Präsidentin Jeanine Meerapfel einen Nachruf.
In Der Freitag würdigte Magdalene Geisler unter dem Titel »Treuer Typus mit Pagenkopf« Leben und Werk Gisela Mays.
Den vermutlich ersten Nachruf veröffentlichte nachtkritik.de unter dem Titel »Die Stimme Brechts«.

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief Dezember 2016 Rundbriefe

Abschied von Gisela May

Die May – wirklich einmalig

„Bin ich einmalig, wirklich einmalig?“, sang die umwerfende Gisela May, als sie als Dolly die Freitreppe auf der Metropol-Bühne hinaufschwebte. Sie war einmalig, und sie wird es bleiben.
Die Nachricht vom Tode Gisela Mays hat uns erschüttert. Überrascht hat sie uns nicht. Hatten wir – Marlis und Wolfgang Helfritsch –  ihr doch an ihrem 92. Geburtstag herzliche Grüße und gute Wünsche ihrer Kurt-Tucholsky-Gesellschaft überbracht und sie im Pflegeheim in Berlin-Baumschulen-weg in einem sehr bescheidenen Kreis von Freunden und Verehrern angetroffen. Man konnte ihre Gäste an zwei Händen aufzählen: ein alter Freund und Kollege vom BE, ihre ehemalige Chansonschülerin Johanna Arndt, ihr Pianist und musikalischer Begleiter der Workshops in der Akademie der Künste Klaus Schäfer, ihre Pflegerin und wir als ihre Bewunderer und selbsternannten Abgesandten des Vereins, dem sie lange Jahre angehörte. Sie freute sich über den Besuch, obwohl es ihr schwerfiel, allen Gesprächen zu folgen. Als wir angeregt hatten, mit ihr gemeinsam die Lieder zu singen, die der Welt vielleicht erst durch ihre Interpretation bekannt geworden waren, blitzte es in ihren Augen auf – sie erinnerte sich offensichtlich und summte mit. Die diesjährige Situation unterschied sich wesentlich von ihrem 80. Geburtstag im vollbesetzten BE, in dem sie ihren Gästen  ein zweistündiges Kurt-Weill-Konzert präsentiert hatte, und vom 10 Jahre später nicht weniger frequentierten Meeting im Filmtheater Babylon,wo Dr. Schebera die Veranstaltung moderierte, Künstler unterschiedlicher Genres auf spezifische Art gratulierten und die Jubilarin blitzgescheit und manchmal nicht unkritisch auf gute Wünsche reagiert hatte.
Gisela May war eine begnadete Schauspielerin, die das tragische Fach ebenso beherrschte wie das komische. Von Hanns Eisler einst persönlich zum Chanson-Gesang ermutigt, wurde sie zur wohl weltweit authentischsten Brecht- und Tucholsky-Interpretin, widmete sie sich als Diseuse Hollaender, Kästner und Brel, bereicherte in „Cabaret“ und „Hallo, Dolly“ das Musical, moderierte mit der „Pfundgrube“ zu DDR-Zeiten eine eigene TV-Sendereihe , verkörperte Brechts „Mutter Courage“ und Hauptmanns „Mutter Wolffen“ , tändelte als leichte Dame in Heinar Kipphardts  „Shakespeare dringend gesucht“ über die Bühne, gastspielte nach ihrer unglücklichen Verabschiedung aus dem BE noch im Renaissance-Theater, im „Theater des Westens“ und in der „Bar jeder Vernunft“, gab in ihren folgenden freischaffenden Zeiten noch jahrelang Kurt-Weill-Abende, brillierte als „Muddi“ an der Seite Evelyn Hamanns in einer komödiantischen Kriminalserie undundund. Das alles und noch viel mehr wird in den Nachrufen der Presse und in den televisionären Nachklängen gebührend hervorgehoben. „Die May“ reiste nach New York und Paris, gastierte in Mailand und Venedig und schreckte vor weniger attraktiven Auftrittsorten in Deutschland und Europa nicht zurück, wenn dort nur die Chance bestand, Menschen mit ihrem humanistischen Anliegen zu erreichen.
Kaum Erwähnung fand in den Nachrufen, dass Gisela May vor der UNO-Vollversammlung Brecht/ Eislers „Friedenslied“ gesungen und als „Botschafterin des Chansons“ gewirkt hatte. Es sei deshalb hier nachgetragen.
Gisela May verstand sich als DDR-Künstlerin und war „sozialistischer Weltstar mit Krawatte“ („Die Welt“). Sie biederte sich ihrem Staat jedoch nicht an, scheute sich weder vor noch nach 1989 vor Fragestellungen und hielt auch zu ihrem systemkritischen Lebenspartner Wolfgang Harich, als er wegen „philosophischer Abweichungen“ zeitweise von der Öffentlichkeit ausgesperrt worden war. Sich zu verbiegen oder sich verbiegen zu lassen, blieb ihr das ganze Leben lang fremd.
Allein die Liste der Auszeichnungen, die der May verliehen wurden, würde den Umfang des Beitrags sprengen. Sie reichen in vom DDR-Nationalpreis, dem Vaterländischen Verdienstorden der DDR und dem „Stern der Völkerfreundschaft“ über das Bundesverdienstkreuz und den Verdienstorden des Landes Berlin bis zum „Deutschen Schallplattenpreis“, dem „Stern der Satire“ und dem „Kleinkunstpreis des Chansons“. Diese und weitere Ehrungen dürfen nicht vergessen machen, dass Gisela May auch als Ehrenmitglied unserer Gesellschaft geehrt wurde. Wie hoch sie diese Auszeichnung schätzte, beweist ihr als Danksagung dargebrachtes Tucholsky-Programm im Berlin-Saal der Zentral- und Landesbibliothek, dem damaligen Konferenzraum der Tagung „Tucholsky und das Kabarett“.
Es sei mir gestattet, unsere persönlichen Eindrücke von und die Begegnungen mit Gisela May unserer Trauer und unserem Beileid hinzuzufügen.
Als jungem Lehrer ausgangs der 50er/anfangs der 60er Jahre war sie für mich eine unerreichbare Ikone. Ich bewunderte die Schauspielerin, die auf damaligen Plakaten neuerdings auch als Brecht- und Tucholsky-Diseuse angekündigt wurde, verwendete ihre Platten im Unterricht und verehrte sie später als die Courage und die Kelch-Wirtin Kopecka in „Schwejk im II. Weltkrieg“. Dass sie sich mit „Es wechseln die Zeiten“ aus dem Chanson „Am Grunde der Moldau wandern die Steine“ so identifizierte, dass sie den Liedtext auch als Titel ihrer Biographie wählte, hing nicht nur mit ihrem musikalischen Gespür für Smetana zusammen. Es hatte wohl eher mit jener Wertschätzung zu tun, die Paul Dessau so formulierte: „Die May singt nicht schön, sie singt richtig“.
Als späterer Vorständler und Vorsitzender der Tucholsky-Gesellschaft hatte ich nicht nur die Pflicht, sondern auch die Freude der arbeitsbedingten Zusammenarbeit mit Gisela May als Vereinsmitglied. Sie teilte gern ihre Erfahrungen mit und machte Vorschläge. Soweit das ihre Gesundheit und ihr Terminplan zuließen, nahm sie an unseren Konferenzen teil, quälte sich die hohen Treppenstufen im Tagungsgebäude in der Breiten Straße hinauf und ergriff auch mal innerhalb eines Vortrages das Wort, wenn sie mit einer Position des Referenten nicht einverstanden war. Als Laudatorin für den Tucholsky-Preisträger Lothar Kusche verlängerte sie das Verfahren, weil ihr nach ihrer Lobesrede immer noch etwas Bemerkenswertes einfiel, und das musste sie vom Bühnenpodest aus loswerden. Nun hatte das DT jedoch eine für den „Sommernachtstraum“ kaum nachvollziehbare, aber sehr steile Dekoration geschaffen, die wegen unseres ehrenwerten Zeremoniells nicht ab- und aufgebaut werden konnte und den Zugang zur Bühne nur mit tatkräftiger Hilfestellung ermöglichte. Solche nahm sie im Interesse des Preisträgers gern in Anspruch, nachdem sie die Dekoration nochmals lautstark kritisiert hatte.
Bei anderen Preisübergaben wirkte Gisela May in den von Volker Kühn zusammengestellten und in Regie genommenen kulturellen Rahmenveranstaltungen künstlerisch mit. Wir erinnern uns gern daran.
Gisela May war eine Frau, die von jedem angesprochen werden konnte und gern half.  Das können Tagungsteilnehmer bezeugen, die nach der Konferenz „Tucholsky und die Justiz“ einen schnellen Ortswechsel von Potsdam nach Berlin vollziehen mussten und – mit der Diseuse am Steuer – mit ihrem Auto flugs in die Hauptstadt befördert wurden. Eine solche Fahrgemeinschaft wurde auch einem meiner Ex-Schwiegersöhne zuteil, der in seiner Dresdener Studienzeit am Wochenende möglichst  ohne Fahrtkosten nach Berlin wechseln wollte. Auf seine bittenden Handzeichen in der Großenhainer Straße reagierte keine Geringere als unser Ehrenmitglied. Meinem ehemaligen Verwandten ging erst während der Fahrt auf, wer ihn da aufgelesen hatte.
Gisela May war eine starke Frau. Als ihr Augenlicht nachließ und sie nicht mehr aus ihren Büchern vorlesen konnte, half sie sich bei ihren biographischen Vorträgen wie folgt: Nachdem sie vom Gastgeber – im dargelegten Falle handelte es sich um den Sänger Thomas Quasthoff im Berliner Konzerthaus  – begrüßt worden war (die Vorstellung konnte er sich bei ihrem Popularitätsgrad ersparen), begann Gisela May mit der Lesung. Sie las aber nicht, sondern zitierte auswendig aus einem ihrer Bücher, blickte dann auf und fragte ins Publikum: „Aber was mach` ich denn da! Soll ich weiter vorlesen? Fragen Sie mich doch lieber!“ Das Publikum fragte, und der Abend war gelaufen.
Manchmal garnierte sie die Veranstaltung noch mit einem oder zwei Chansons – das kam auf ihren Gesundheitszustand und ihre Tagesform an. Falls die Zeichen günstig standen, eilte der in Bereitschaft sitzende Pianist zum Klavier, und die Diseuse war in ihrem Element.
Gisela May hatte ein gutes Gedächtnis. Ihr angetane Ungerechtigkeiten konnte sie nur schwer verwinden. Als im Jahre 2011 im BE eine Hanns-Eisler-Revue mit über 30 Mitwirkenden inszeniert wurde, stellte sich die 10 Jahre zuvor aus dem Ensemble gekündigte und in die Revue nicht eimbezogene Schauspielerin nach der Pause vor die Bühne und gab zur Verärgerung des Intendanten eine couragierte Stellungnahme ab.
Nachdem wir uns durch die Tucholsky-Gesellschaft auch persönlich etwas nähergekommen waren, erkundigte sie sich gelegentlich auch nach unserem Befinden. Einige Male trafen wir uns in der ehemaligen Tucholsky-Restauration in der Torstraße. Gisela May hatte dort ihren Stammplatz zwischen der Theke und dem Tucholsky-Stammtisch, und in jüngeren Jahren wagte sie sich noch mit dem Fahrrad in die damals noch Tucholsky-freundliche Stätte, die leider ihr ehemaliges Flair völlig verloren hat. Dort und anderswo befragte sie uns nach unseren Theatervorhaben und den Plänen des Zimmertheaters Karlshorst.
Eine besondere Freude machte mir Gisela May zu meinem nun auch schon wieder einige Jahre zurückliegenden 70. Geburtstag. Da fand ich ein Fax mit folgendem Text vor: „Habe selbst am Urlaubsort Bad Gastein ihren runden Geburtstag nicht vergessen, zudem ich von hier aus herzlich gratuliere.  Gisela May“.
Wir sind traurig, dass uns mit unserem Mitglied Gisela May eine prägende Künstlerpersönlichkeit mit Weltgeltung verlassen hat. Wir sind froh darüber, dass sie so lange unser Vereinsmitglied war und wollen ihre Kunst und ihre Lebenshaltung bewahren.
Sie wird für uns einmalig bleiben.

Wolfgang Helfritsch

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Allgemein Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kusche für immer – Zum Tod von Lothar Kusche

Lothar Kusches Glossen und Schnappschüsse erschienen häufig als Taschenbücher, und das war gut so. Sein erstes bb-Taschenbuch wurde 1960 unter dem Titel »Nanu, wer schießt denn da?« herausgegeben.
Es lohnte sich, seine lockeren Weisheiten in der Akten- oder Westentasche mit sich zu führen und im Tagesverlauf ab und zu einen verstohlenen Blick hineinzuwerfen. Darüber hinaus bürgten seine nüchternen Ideenspritzer und Schnapsideen auch im Eulenspiegel und in der Weltbühne für Originalität, egal, ob der Autor sich mit seinem eingetragenen Namen outete oder sich in seinen Mantel vornamens Felix  verzog. Nun ist der ehemalige dienstälteste DDR- und spätere bundesdeutsche Satiriker dahingegangen, und das tut weh, obgleich wir schon lange von seinem angeschlagenen Gesundheitszustand wussten. Er litt wohl selbst am meisten darunter, dass ihm das Schreiben nicht mehr wie gewollt von der Hand ging.
Lothar Kusche diente schon beim Eulenspiegel-Vorgänger Frischer Wind, schrieb für die Weltbühne und brachte nachfolgend die Ossietzky-Leser mit seinen  Beobachtungen und Texten zum Schmunzeln und Abnicken. Als Distel-Autor glossierte er Erscheinungen, die jeder kannte, für deren Dramatisierug aber manchem der Mut fehlte.
Ich erinnere mich an eine Szene, die ich in den 60er Jahren gesehen habe, als die Sowjetunion in ihrer Vorbild-und Beispielwirkung noch unantastbar war: Eine Delegation aus dem Brudervolk wird auf dem Flughafen Schönefeld (das werden Sie nicht mehr wissen, den gab es damals schon)  überschwenglich empfangen und ob ihrer Beispielleistungen auf allen Gebieten über den grünen Klee gelobhudelt. Im Hintergrund flattert die Losung »Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!« über das Flughafen-Areal. Die Gastgeber überbieten sich mit Bewunderung, bis es dem Delegationsleiter zu viel wird.  »Wissen Sie, werter Genosse,« fragt er den Chef des Empfangskomiteés, »was Sie vor allem lernen sollten? Aufrichtigkeit!« Das war ein Tabu-Bruch.
Lothar Kusches Zugehörigkeit zur Tucholsky-Gesellschaft war logisch, und seine Ehrung mit dem Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2007 war mehr als verdient. Das traf für den Heinrich-Heine-Preis im Jahre 1960 auch schon zu, und vielleicht ist es fast symbolisch, dass sein Lebenswerk von Heine und Tucholsky als Namensgebern seiner Ehrungen geradezu eingerahmt wurde.
Er war ein verschmitzter, guter Beobachter. »Kollege P. hat seit gestern einen Pickel,« bemerkte er in einer Groteske. »Aber er ist sich noch nicht ganz sicher, ob dieser als Stoff für eine neue literarische Arbeit ausreichen wird.«
Wenn er im Cabinett oder anderswo um die Jahrtausendwende las, zuckte sein Spitzbart voller Mitfreude. Wenn er seine Glosse über die Herstellung der originalen märkischen Reiblinge vortrug, blieb kein Auge trocken.
Nun hat er sich selber in die Phalanx der unvergesslichen märkischen Reiblinge eingebracht.
Seine Ideen und unsere jährlichen Begegnungen zu Ossietzkys Geburtstag in der Ossietzky-Redaktion werden uns fehlen.
Lebend wäre er uns lieber, aber richtig totzukriegen ist Felix Kusche nicht.

Wolfgang Helfritsch

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2016 Rundbriefe

Gerhard Kraiker (1937-2015)

Prof. Dr. Gerhard Kraiker, Historiker von Rang, packender Redner, langjähriges KTG-Mitglied und letzter verbliebener Herausgeber der Tucholsky-Gesamtaus­gabe, ist am 22. November vorigen Jahres gestorben. Er ist vorher längere Zeit krank gewesen und hatte gerade eine schwere Operation hinter sich. Nicht nur seine Frau Gisela, auch die gesamte KTG wird Gerhard Kraiker schmerzlich ver­missen.

Man muss sich nur in die chaotische Verlagspolitik der späten Raddatz-Jahre zu­rückdenken, um die Verdienste von Dirk Grathoff, Antje Bonitz, Michael Hepp and eben Gerhard Kraiker angemessen zu würdigen. Mehr als 50 Jahre nach Tucholskys Tod erschienen Gesammelte Werke, bei denen ein Viertel des Ge­samtwerks, darunter manche sehr wichtige Artikel, einfach fehlten. Raddatz hatte diese Unterlassungssünde wohl eingesehen, ließ häppchenweise Ergän­zungsbände nachdrucken, zog sich dann aus der Arbeit zurück und ließ bessere Nachwuchskräfte heran. Endlich entstand eine kommentierte Ausgabe, die wis­senschaftlichen Ansprüchen genügte.

Als Mitglied des Herausgeberteams konnte er auch streng kritisieren, wenn es not tat, das weiß ich aus Erfahrung. Aber er zeigte deutlich, wie man es besser machen konnte und sollte. Darauf kam es an, man lernte etwas dabei.

Auch als Vortragender ein Experte, der nicht trocken und besserwisserisch do­zierte, sondern gut über die Rampe kam. Ich erinnere mich an einen packenden Vortrag 1998 im Kornhaus in Weiler, es ging um Tucholskys Verständnis von politischer Führung. Er kannte sich eben aus.

Die Gesamtausgabe war der entscheidende Schritt nach vorn für die Tucholsky-Forschung. Gerhard Kraiker und seine KollegInnen machten es möglich, suchten Band-Herausgeber aus, ermutigten und tadelten sie, freuten sich über Gelunge­nes. In der St Pauls-Kathedrale von London steht ein lateinischer Satz über ih­ren Erbauer Sir Christopher Wren: Si monumentum requieris, circumspice. Wenn Du sein Denkmal suchst, schaue um Dich. Die Gesamtausgabe war für alle vier Herausgeber das passende Denkmal. Wir sind traurig, dass sie von uns gegangen sind. Wir sind aber stolz, sie gekannt zu haben. Wir sprechen Gisela diese Trauer und diesen Stolz aus.

Ian King

Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.