Kurt Tucholskys 128. Geburtstag stand am 9. Januar 2018 unter einem besonderen Stern. Hatte doch die nach ihm benannte Bibliothek im Berliner „Prenzelberg“, inzwischen integrierter Bestandteil Pankows, ihre Nutzer und Fans ausgerechnet an diesem Tage freudig dazu eingeladen, nach 10 Jahren Selbstverwaltung die Wiedereingliederung des über 130jährigen Buchtempels in die hauptamtliche fachliche Anleitung und Betreuung des Bezirksamtes zu befeiern. Und der dreigeschossige Altbau in der Esmarchstraße platzte aus allen Nähten – nicht nur wegen der gewichtigen Folianten, sondern vor allem wegen der zahlreichen Besucher, deren selbstloses Engagement sich gelohnt hatte oder die einfach ihrem Interesse und ihrer Erfolgsfreude Ausdruck geben wollten.
Aber halten wir ein wenig Rückschau. Als Berlin noch zweigeteilt war, existierten bereits zwei Tucholsky-Bibliotheken in der Stadt: eine in des Autors und Satirikers Geburtsgegend Moabit, die andere am Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte. Letztere hatte den Namen des Schriftstellers anlässlich dessen 70. Geburtstages im Jahre 1960 erhalten. Wie mir Klaus Neumann, im Oktober 2017 wieder zum Vorstandsmitglied der Tucholsky-Gesellschaft gewählt, am 9. Januar 2018 in der Esmarchstr. berichtete, nahm er auf Einladung des Schriftstellers Walter Victor als Leiter eines Schülerkabaretts – er selbst war damals noch Berufsschüler – an der Veranstaltung teil. Er erinnerte sich daran, dass Mary Gerold-Tucholsky ebenfalls zugegen war, eine kleine Festrede hielt und das Zeremoniell der Namensverleihung vornahm. Er kam mit ihr anschließend auch ins Gespräch, wobei sie ihre Freude darüber zum Ausdruck brachte, dass Tucholskys Texte auch von jungen Leuten in der DDR gepflegt und verbreitet werden.
Beide Bibliotheken bildeten einen wichtigen Anlaufpunkt für Tucholsky-Fans und für Mitglieder der 1988 im Allgäu gegründeten Kurt-Tucholsky-Gesellschaft, die ihr Freundesnetz in den späteren „alten“ und „neuen“ Bundesländern dadurch noch enger knüpfen konnte. Ich erinnere mich noch gut daran, dass an den Namen Kurt Tucholsky gebundene literarische Veranstaltungen und thematische Diskussionsrunden in den Räumen am Luxemburgplatz stattfanden, unter anderem mit Roland Links und Wolfgang Hering, und dass wir dort später im Beisein Brigitte Rotherts Ausschnitte aus unseren Tucholsky-Programmen vorstellten.
Dann stellte sich leider heraus, dass die Institution am historischen Platz, der von der Volksbühne, dem Liebknecht-Haus und dem Kino Babylon geradezu symbolisch eingerahmt wurde, aus Sparsamkeits-, Immobilien- und anderen Gründen verschwinden musste. Dagegen setzten sich Tuchos Großcousine Brigitte Rothert und die Tucholsky-Gesellschaft zwar energisch, leider aber vergeblich zur Wehr. Nun wäre Brigitte aber nicht Stammbaumzweig des Tucholsky-Clans gewesen, hätte sie sich damit abgefunden. Sie ging den Kulturpolitikern des Prenzlauer Berges auf den Docht und erreichte die Übertragung des Namens auf eine florierende Stadtteil- und Kinderbibliothek im prosperierenden Bötzow-Viertel. Und in dem Lesetempel in der Esmarchstr. fand der Name Tucholsky eine neue Anziehungs- und Begegnungsstätte, die überdies zu Vorträgen über Literarisches, Verfilmtes und andere Diskussionswürdigkeiten geradezu einlud.
In besonderer Erinnerung sind mir Roland Links` Vorträge über den Berliner Arzt und Autor Alfred Döblin, Jochanan Trilse-Finkelsteins vergleichende Analysen über das Wirken und die Befindlichkeiten Heines und Tucholskys in Paris, Diskussionen mit den Schöpfern der Rheinsberg- und Gripsholm-Filme sowie Meinungsaustausche mit den Redaktionen der „Weltbühnen“-Nachfolger „Ossietzky“ und „Das Blättchen“. Unter ihrer erfahrenen Leiterin Frau Bechtle und der energisch-unermüdlichen Tucholsky-Nachfahrin Brigitte Rothert festigte sich der Standort und machte seinem Namensgeber alle Ehre, und es sei auch nicht vergessen, dass die damaligen Vorstände der Tucholsky-Gesellschaft gern das Gastrecht des Hauses für ihre Beratungen in Anspruch nahmen. Soweit, aber leider nicht so gut.
Die fortschreitenden hauptstädtischen Sparzwänge, die Anfang des neuen Jahrtausends über die Spreestadt hereinbrachen und offensichtlich vorwiegend auf kulturellem Gebiet ausgetragen werden mussten, fuhren unter der Equipe des Finanzsenator Sarrazin erneut ihre Krallen aus und führten zum Auflösungsbeschluss der Tucholsky-Bibliothek. Da aber hatten die Behörden die Rechnung ohne den Wirt, in diesem Falle ohne die Leser gemacht.
Die Anwohner verbrüderten sich mit ebenfalls von der Raspel bedrohten Einrichtungen wie dem „Theater unterm Dach“, der „Wabe“ und deren Betreibern, versicherten sich der Solidarität der Tucholsky-Gesellschaft, protestierten auf der Straße, warnten in der Fragestunde der Bezirksverordnetenversammlung vor der kulturellen Kahlrasur und machten der örtlichen Nähe zum fauchenden „Stierbrunnen“ durch ihr Verhalten alle Ehre. Eine besondere Zuspitzung erlebte der Kampf gegen die Schließung durch die zeitweilige Besetzung der Bibliothek durch die bisherigen Nutzer. In diesem Zusammenhang kam es auch zur Gründung des Vereins „Pro Kiez e.V.“, der die Einrichtung notfalls übernehmen wollte. Und das anfangs fast aussichtslose Unterfangen bewirkte, dass das Bezirksamt der kostenlosen Verwendung der Bibliotheksräume durch ehrenamtliche Betreuer zustimmte und so die Beräumung der Bestände verhinderte. Zehn Jahre lang überlebte die Tucholsky-Bibliothek als Muster mit hohem Wert und kleinem Geld und zur Freude der Anwohner und ihrer heranwachsenden Kinder sowie zur Selbstbestätigung der Gesinnungsfreunde des aufmüpfigen „Weltbühnen“-Schreibers Kurt Tucholsky. Sie konnten weiterhin seinen Ratschlägen folgen, ihren belletristischen Interessen nachgehen und seinen Warnungen folgen, die Lektüre nicht durch Zeitungsaugen zu betrachten.
Erwähnenswert ist auch, dass die Tradition der Literaturveranstaltungen, Lesungen und Begegnungen das als „Durststrecke“ befürchtete Dezennium weiterhin begleitete und der Bibliothek neue Interessenten zuführte. Und in den Veranstaltungen kamen sowohl Zeitgenossen des Mannes mit den diversen Decknamen als auch Schriftsteller und Persönlichkeiten aus dem Kiez zu Wort.
So gradlinig, wie sich das hier liest oder anhört, ging das Unterfangen allerdings nicht über die Bühne. Widerstand nämlich erhob sich aus der eigenen Sippe, fürchteten doch die noch festangestellten Mitarbeiter anderer Bibliotheken, das Beispiel der Esmarchstraße könne übertragen werden und zum Verlust ihrer Jobs führen. Solidarität ist zwar eine gute Sache, sie ist aber schwierig zu realisieren, wenn es ums eigene Eingemachte geht. Bereits am Nachmittag hatte Pro-Kiez-Mitglied Christine Kahlau in ihrer Dokumentation „Die kleine Bibliothek“ auch darüber berichtet und engagierte Zuhörer und Fragesteller gefunden.
Dass Danilo Vetter, Fachbereichsleiter der Pankower Bibliotheken, und Klaus Lemmnitz vom Vereinsvorstand in ihren Statements gemeinsam den Erfolg 10-jährigen ehrenamtlichen Engagements, 10-jähriger Solidarität und 10-jähriger Suche nach realisierbaren Lösungen hervorhoben, war eine Genugtuung für alle Beteiligten und stärkte letztlich die Erkenntnis, dass auch in fast aussichtslosen Situationen durch Solidarität und Kontinuität Sinnvolles erreicht werden kann.
Nuancenreiche Ausschnitte aus mehreren Tucholsky-Programmen rundeten den Fest- und Geburtstag nach fünf ereignisreiche Sternstunden ab.
Die Tatsache, dass die Tucholsky-Gesellschaft, repräsentiert durch drei Vorstandsmitglieder, einen Ex-Vorsitzenden und einen Ex-Vizevorsitzenden sowie weitere Vereinsmitglieder an der Veranstaltung teilnahm, soll nicht unerwähnt bleiben – und das nicht nur der Vollständigkeit halber.
Wolfgang Helfritsch
Eine Antwort auf „Ende eines Provisoriums“
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