Kurt Tucholsky gilt als einer der meistzitierten deutschen Autoren und viele seiner pointierten Aussagen werden auch heute noch gerne verwendet. Das bestätigt unsere – wenig überraschende – tiefe Überzeugung, dass Tucholsky weiterhin aktuell ist.
Allerdings kursieren auch sehr viele Zitate und Texte, die Tucholsky zugeschrieben werden, jedoch entweder erwiesener Maßen oder aber höchstwahrscheinlich nicht von ihm stammen. Da die höchst verdienstvolle Tucholsky-Gesamtausgabe liegt leider noch nicht digital vor, daher ist es in vielen Fällen nicht ohne weiteres endgültig möglich, den Nachweis zu erbringen, dass ein bestimmtes Zitat eben nicht von Tucholsky stammt.
Bei sudelblog.de gibt es bereits eine Sammlung Zitate, die eher nicht von Kurt Tucholsky stammen, nichtsdestotrotz jedoch unter seinem Namen kursieren. Dies ist zwar einerseits ein sehr schöner Beweis dafür, dass Tucholskys Name auch heute einen guten Klang hat und er offenkundig populär ist, es ist aber andererseits doch die Aufgabe der Kurt Tucholsky-Gesellschaft für die Verbreitung und den Erhalt seines Werkes einzutreten – und dazu gehört dann eben auch, darauf hinzuweisen, wenn sein Name mit Texten in Verbindung gebracht wird, die eben nicht Bestandteil seines Werkes sind.
Aus verständlichen Gründen wird derzeit in den sozialen Medien ein Tucholsky zugeschriebenes Zitat intensiv geteilt. Es lautet:
„Die Juden sind an allem Schuld, meinte einer. Und die Radfahrer… sagte ich. Wieso denn die Radfahrer?, antwortete er verdutzt. Wieso die Juden?, fragte ich zurück.“
Dieses Zitat findet sich auf sehr vielen Seiten und in vielen Beiträgen (z.B. auf der beliebten, jedoch nicht übermäßig zuverlässigen Seite »gutezitate.com«)
In exakt dieser Form lässt es sich nicht mit einem bestimmten Verfasser nachweisen. Jacques Schuster erwähnt es in der Rezension des Buches »An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld« (von Avi Primor und Christiane von Korff) als alten Witz – ohne exakten Verfasser und das könnte durchaus so sein.
In Erich Maria Remarques Roman »Der schwarze Obelisk«, der in der Zwischenkriegszeit spielt und 1956 erschien, findet sich zudem eine Passage, die ganz ähnlich klingt:
»Da sehen sie es«, sagt Heinrich bitter zu Riesenfeld. »Dadurch haben wir den Krieg verloren: Durch die Schlamperei der Intellektuellen und durch die Juden.«
»Und die Radfahrer.« ergänzt Riesenfeld.
»Wieso die Radfahrer?« fragt Heinrich erstaunt.
»Wieso die Juden?« fragt Riesenfeld zurück.
Es gibt viele Forschungsdesiderate und so ist es durchaus nicht auszuschließen, dass hier eine Referenz auf Tucholsky vorliegt, die bisher unbekannt ist. Sehr wahrscheinlich ist dies jedoch nicht. Wenn also nicht Remarque selbst der Urheber ist, so dürfte es wohl eher eines der zahlreichen »Verfasser unbekannt«-Bonmots sein.
Sollte jedoch wider Erwarten jemand einen Nachweis dafür erbringen können, dass es sich tatsächlich um ein Tucholsky-Zitat handelt (und Nachweis meint hier: Mit exakter bibliographischer Angabe der Originalpublikation), so erhält der oder diejenige ein Exemplar unserer Tucholsky-Anthologie »Die Zeit schreit nach Satire« und eine Jahresmitgliedschaft in der Kurt Tucholsky-Gesellschaft.
Zum Abschluss noch ein paar Hinweise, wie Sie mit aufgefundenen Zitaten umgehen können:
Sollten Sie auf ein Zitat ohne exakte Quellenangabe stoßen (und exakt meint: Entweder aus einer der Werkausgaben oder mit Angabe der Originalpublikation (also beispielsweise eine Nummer der Weltbühne oder der Vossischen Zeitung o.ä.)), so prüfen Sie nach, ob sie die Phrase beim Projekt Gutenberg oder bei textlog.de finden. Diese beruhen beide wesentlich auf den bereits erfolgten Editionen. Sollten Sie auch dort nicht fündig werden: Lassen Sie die Finger davon. Die Wahrscheinlichkeit, auf ein pointiertes Zitat zu stoßen, dass bisher noch nicht aufgefunden und publiziert wurde, ist gering – wenn auch durchaus vorhanden: Tucholsky war ein geradezu besessener Vielschreiber, es ist durchaus möglich, dass es dort Schätze zu heben gibt. Aber, mal unter uns: Wenn jemand einen solchen Schatz hebt: Würde der oder diejenige dann nicht die Quelle angeben? Wenn Sie jedoch ganz sicher gehen wollen, dann konsultieren Sie die Gesamtausgabe, gegebenenfalls in der nächstgelegenen Bibliothek, die sie im Bestand hat.
NACHTRAG (16.3.2016):
Ergänzend zu den oben genannten Punkten seien hier noch weitere Befunde von Friedhelm Greis angefügt:
Im Werk Tucholskys findet der »Dialog« nicht, aber der Vergleich Juden/Radfahrer in der Frage der Kriegsschuld etc. ist ein häufiger Topos in seinen Texten.
Beispielsweise in folgendem Gedicht:
Ludendorff oder Der Verfolgungswahn
Hast du Angst, Erich? Bist du bange, Erich?
Klopft dein Herz, Erich? Läufst du weg?
Wolln die Maurer, Erich – und die Jesuiten, Erich,
dich erdolchen, Erich – welch ein Schreck!
Diese Juden werden immer rüder.
Alles Unheil ist das Werk der … … Brüder.
Denn die Jesuiten, Erich – und die Maurer, Erich –
und die Radfahrer – die sind schuld
an der Marne, Erich – und am Dolchstoß, Erich –
ohne die gäbs keinen Welttumult.
(…)
Theobald Tiger, WB 6.11.1928
oder in:
‹Kulissen›
Es ist ein Jammer, daß es keinen rechtschaffenen Teufel mehr gibt. Jetzt behilft man sich da mit den Welschen, mit den Juden, mit den Radfahrern, mit dem Vertrag von Versailles … aber das Richtige ist das alles nicht. Immerhin muß einer da sein, der schuld ist. Gehts gut, dann haben wir es herrlich weit gebracht – gehts aber schief, dann wirft der Fachmann wilde Blicke um sich und sucht den Teufel. (…)
Peter Panter, WB 14.6.1932
und auch in:
Sigilla Veri
Nun aber ist, um diesen Wissenslücken abzuhelfen, gegen die Radfahrer [=Juden F.G.] endlich das große und schöne Werk erschienen, dessen wir so lange entraten haben:
Ignaz Wrobel, WB 29.9.1931
„Radfahrer“ ist bei Tucholsky zudem eine Art Synonym für den typischen deutschen Untertan: „Allerdings: nicht zu diesem Deutschen da. Nicht zu dem Burschen, der untertänig und respektvoll nach oben himmelt und niederträchtig und geschwollen nach unten tritt, der Radfahrer des lieben Gottes, eine entartete species der gens humana.“
aus der „Der Untertan“, Ignaz Wrobel, WB 20.3.1919
Allerdings war dieser Vergleich in der Weimarer Republik auch bei anderen Weltbühne-Autoren üblich:
So findet man bei Hanns-Erich Kaminski:
„Alle Frankfurter sind also goldige Krätscher. Im übrigen zerfallen sie in Juden und Radfahrer.“
bei Willy Küsters:
„Dass die Franzosen am deutschen Geburtenrückgang schuld sind, ist selbstverständlich — woran sind sie nicht schuld, sie, die Juden und die Radfahrer!“
in einer Ludendorff-Satire:
„Unterstellen wir einfach als gegeben: die Juden oder die Radfahrer haben Deutschland erst auf das Kriegsvehikel gesetzt und dann Glasscherben auf die Strasse gestreut, damit seinem Pneumatik die Luft ausgehe und Champion Ludendorff als letzter Sieger ans Ziel komme. Gut also: die Juden sind daran schuld, oder die Radfahrer. „