Kategorien
Allgemein

Zum Tod von Brigitte Rothert

Es gibt Menschen, denen man auch in sehr hohem Alter wünscht, sie könnten ewig leben, weil wir nicht auf sie verzichten wollen. Der Gedanke ist verständlich, aber egoistisch: Brigitte litt nach einem Sturz unter Demenz, lebte zuletzt im Heim, war Corona-krank. Trotzdem sage ich, der Tod ist zumindest für die Überlebenden keine Erlösung, sondern nur ein etwas brutaler Schlussstrich.

Brigitte war Kurt Tucholskys Großkusine und war darauf mit Recht stolz. Nach einer Veranstaltung, in der das Ehepaar Helfritsch das Lied “Fang nie was mit Verwandschaft an!” zum besten gegeben hatte, stürmte eine ältere Frau auf die beiden zu mit den Worten “Ich bin die Verwandschaft!” Bei einem Fernsehquiz des Typus “Wer bin ich?” trat sie als unser Namenspatron auf, ließ keine Gelegenheit aus, um die Bedeutung des illustren Verwandten herauszustreichen. Darüber schrieb sie gar das Buch ihres Lebens. Gut so.

Unser Ehrenmitglied Brigitte war, wie wohl die Meisten von uns, eine zwiespältige Natur. Auf der einen Seite eine liebenswürdige ältere Dame, die eine besondere, generationationenübergreifende Beziehung zur KT-Gesamtschule Minden pflegte und Schüler, Schülerinnen und Lehrkräfte regelmässig besuchte, solange es ihr gesundheitlich möglich war. Hier passt vielleicht die Anekdote, dass ich vor Jahren bei Brigitte gefrühstückt habe – nein, nicht übernachtet, wo denkt ihr denn hin, sie hat mich fürsorglich bei einer Nachbarin mit einer größeren Wohnung in der Sültstrasse untergebracht. Eine liebe Gastgeberin.

Aber ihr politisches Interesse sowie ihre Überzeugungen hielten sich bis ins hohe Alter ungebrochen. Ihren Spruch “Ich bin aus der PDS ausgetreten, die entschuldigen sich nur die ganze Zeit!” werde ich niemals vergessen. Konsequent, kein Wendehals – auch wenn ich als Sozialdemokrat anderer Meinung war, musste das respektiert werden. Wir haben sie respektiert.

Der Kreis schließt sich. Mir und Anderen hat Brigitte erzählt, wie die alliierte Bombardierung von Dresden, die ich noch immer als ein Kriegsverbrechen meiner Landsleute betrachte, ihr und ihrer Mutter das Leben gerettet hat.

Denn die verhängnisvollen Akten, durch die die beiden nach dem Osten geschickt werden sollten, gingen mit den Schuldigen und auch den vielen Unschuldigen in den Flammen auf. Vor einigen Jahren zog sie wieder in die alte Heimatstadt ein und freute sich darüber riesig. Jetzt ist sie im anderen Sinne heimgegangen.

Wir trauern um Brigitte. Und gleichzeitig feiern wir ihr Leben.

von Dr. Ian King, 1. Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

Einen weiteren Nachruf hat unser 2. Vorsitzender Frank-Burkhard Habel für seine Kolumne im „Blättchen“ verfasst. Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion folgt hier der Text:

Die Großkusine

Von F.-B. Habel

„Fang´ nie was mit Verwandtschaft an, dann bist du wirklich besser dran!“ Die heiteren Titelzeilen aus einem Chanson, das Kurt Tucholsky für eine Revue von Rudolf Nelson schrieb, nahm der Autor sehr ernst. Nur wenn es unumgänglich war, hielt er engen Kontakt zu seiner „Mischpoke“. Seiner Großkusine Brigitte Jährig hätte er noch im Bauch ihrer Mutter begegnen können, als er im Frühjahr 1928 ein letztes Mal zu einem Kuraufenthalt in Dresden auf dem Weißen Hirsch weilte. Aber er sah von einem Besuch ab. Die im Sommer geborene Brigitte lernte immerhin noch ihre Großtante Doris, Kurts Mutter, kennen und erst Jahrzehnte später ihre in die USA emigrierte Großkusine Ellen, Kurts Schwester.  

Als Brigitte anfangs unbeschwert aufwuchs, lernte sie bald, dass sie es schwerer haben würde als andere. Nach den Rassegesetzen der Nazis war sie ein „Mischling ersten Grades“, fiel unter die Einschränkungen für Juden. Der Vater hatte eine neue Familie gegründet, so dass von ihm kein Schutz ausging, im Gegenteil. Er war in NSDAP und SA, machte gegenüber Ämtern geltend, dass er für den „Judenstämmling“, also Brigitte, keinen hohen Unterhalt zahlen könne, weil das zum Nachteil seiner arischen Kinder aus zweiter Ehe wäre. Nur mit Freundeshilfe und falschen Angaben konnte sie eine Büroarbeit aufnehmen, war aber gezwungen, in den vierziger Jahren mit ihrer Mutter in einen „Judenhaus“ zu leben, in dem jüdische Dresdner Bürger beengt und drangsaliert beieinander wohnten. Nachbarn waren in diesem Haus u.a. das Ehepaar Klemperer, und mit Victor Klemperer, der Brigitte sehr schätzte, bestand die freundschaftliche Verbindung bis an dessen Lebensende.

Von Tucholsky wurde bei Jährigs nicht viel gesprochen, aber Brigitte bemerkte, dass ihre Mutter, wohin sie auch getrieben wurden, immer einige Tucholsky-Bände mit sich nahm. Sie verbrannten in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 beim großen Angriff der alliierten Bomber, der Dresden fast auslöschte. Für Anne-Marie Jährig, geb. Tucholski, war es ein großes Glück. Zwei Tage später sollte sie abtransportiert werden, aber die Unterlagen verschwanden im Chaos, so dass ihr das Bombardement das Leben rettete.

Nach dem Krieg konnte Brigitte eine Ausbildung zur Russischlehrerin machen, lehrte erst in Dresden, später als Brigitte Rothert in Berlin. Nach und nach machte sie sich mit dem Werk ihres berühmten Verwandten vertraut, schätzte nicht nur seinen Witz sondern auch seine antimilitärische und antifaschistische Haltung. Brigittes Mutter Anne-Marie hielt Briefkontakt mit Kurts Schwester Ellen, und Brigitte lernte sie dann bei einem Berlin-Besuch in den siebziger Jahren kennen. Nach Ellens Tod 1982 fand ein großer Koffer mit Büchern und anderen Devotionalien den Weg zu Brigitte Rothert. Wie sie sich monatelang bei den DDR-Behörden darum bemühen musste, dass ihr der Nachlass ausgehändigt wurde, schilderte sie in ihrem 2007 erschienenen Buch „Tucholskys Großkusine erinnert sich“, das sie unter dem Namen Brigitte Rothert-Tucholsky veröffentlichte. 

Da Kurt Tucholsky und seine Geschwister kinderlos geblieben waren, und viele Verwandte – darunter auch Tante Doris, Tucholskys Mutter – im Holocaust umkamen, war Brigitte Rothert jetzt die letzte Verwandte der Familie. Für sie war es nun zur Lebensaufgabe geworden, das Werk ihres Vorfahren weiter zu verbreiten. Sie trat in die Kurt Tucholsky-Gesellschaft ein (die sie zum Ehrenmitglied ernannte), sprach im Fernsehen über ihren berühmten Verwandten, besuchte sein Grab in Schweden, hielt Kontakt mit Tucholsky-Bibliotheken und trat in Tucholsky-Schulen auf. Besonders eng wurde die Zusammenarbeit mit der Tucholsky-Gesamtschule in Minden/Westf. seit den neunziger Jahren. Sie arbeitete mit den Schülern und führte sie an Tucholskys Werk heran. Auf der Homepage der Schule ist Brigitte Rothert mit Rezitationen zu hören.

In den neunziger Jahren wandelte sich die Russisch- zur Deutschlehrerin, erteilte in der Oranienburger Straße russischen Auswanderern Deutschunterricht. Doch es zog sie in die Heimat. Mit über 80 zog sie wieder in Dresden in eine schöne Hochhauswohnung mit Blick über die Stadt bis zu den angrenzenden Gebirgen. Am Ende ihres Lebens blieb ihr die Covid-19-Infektion nicht erspart. Mit 92 Jahren starb Tucholskys letzte Verwandte im November in einem Pflegeheim in Radeburg. Ihre Erinnerungen werden weitergetragen.

Der Text entstand für die Ausgabe 25/2020 auf der Plattform das-blaettchen.de

Weitere Nachrufe: Kurt Tucholsky-Gesamtschule Minden