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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Das pausenlose Programm

1950 beginnt meine kontinuierliche Mitarbeit an den von Eugen Kogon und Walter Dirks herausgegebenen Frankfurter Heften, die bereits im fünften Jahr erscheinen und es zu hohem Ansehen gebracht hatten. Soweit ich im folgenden aus diesen Beiträgen zitiere, sah ich mich zu extremen Kürzungen veranlaßt; unnötig zu sagen, daß damit in keinem Fall Veränderung der Aussage verbunden ist. Gespräche, die ich in Hamburg beim NWDR geführt hatte, wo einem Kreis von Journalisten Informationen über das in Vorbereitung befindliche Fernsehen vermittelt worden waren, wirkten in mir nach. Spät, aber nun eben doch, machte ich mir Gedanken darüber, daß wir mehr und mehr in einer künstlich hergestellten Schein-Wirklichkeit zu leben verdammt seien. Sie schlugen sich in einem langen, für die Frankfurter Hefte geschriebenen Beitrag nieder, aus dem die folgenden Passagen stammen.
Das Individuum will sich nicht begegnen, und es hat wirksame Mittel gefunden, sich vor sich selbst zu verstecken. Die Furcht vor der Pause ist zum Motor unseres gesamten Lebens geworden. Im Vergleich dazu ist die Furcht vor der Atombombe so gering, daß man sie leicht mit Sehnsucht nach der Atombombe verwechseln könnte. Schließlich ist ja auch die Atombombe für die von ihr Betroffenen ein absolut sicherer Schutz vor Selbsterkenntnis. Die Furcht vor der Pause ist so groß, daß sich eine moderne Verwaltung viel leichter entschließt, die Butterration zu kürzen, als die Unterhaltung einzuschränken. Der Anspruch auf Unterhaltung ist der einzige, der der Masse selbst im Finale der Diktatur nie abgesprochen wurde. Nicht der Rüstung, nicht der Kriegsführung hat die höchste Aufmerksamkeit der Führung, ihre letzte Energie, gegolten, sondern der Aufrechterhaltung der pausenlosen Unterhaltung. Niemand sollte heute glauben, daß sich daran etwas .geändert habe, nur weil die allgemeinen Umstände vorübergehend weniger dramatisch sind. Es ist neuerdings vorgekommen, daß der Radioapparat nicht mehr abgestellt wird, wenn ein Mitglied der Familie stirbt. Die liebevollen Angehörigen beabsichtigen, dem Sterbenden die letzten Stunden leicht zu machen. Mit Unterhaltung meine ich die Summe der Eindrücke und Erlebnisse, deren ein Mensch heutzutage fortwährend – ohne Unterlaß – teilhaftig wird, ohne daß bei ihm individuelles oder spezifisches Bedürfnis danach vorliegt. Seitdem wir eine bestimmte Abart der Unterhaltung, die Propaganda, so gründlich kennengelernt haben und fortwährend neu kennenlernen, sind wir nur zu leicht geneigt, die Wirkungen der unpolitischen, der scheinbar richtungslosen Unterhaltung zu unterschätzen. Sie ist nicht richtungslos, sie ist mit der Unbeirrbarkeit einer Kompaßnadel auf ein Ziel gerichtet: sie zerstört die Kultur.
Es gibt, alles in allem, zwei Methoden, das Verlangen nach Unterhaltung zu befriedigen, und man sollte sich davor hüten, zu meinen, der Unterschied zwischen ihnen sei nur ein äußerlicher: man kann den Konsumenten an den Ort der Unterhaltung verfrachten, oder man kann ihm die Unterhaltung in den Bezirk liefern, darin sich sein alltägliches Leben abspielt.
Die erste Methode ist minder gefährlich als die zweite. Erstens sind selbst einem Volk wie dem unsern, das fortwährend neue Wunder der Organisation vollbringt, dem Zusammentreiben der Massen gewisse technische Grenzen gesetzt. (Was sich hier abspielt, sind moderne Wallfahrten; genau wie die Wallfahrten alten Stils unternimmt man sie, um Kraft zu tanken.) Zweitens ist bei dieser Methode der Kulturverschleiß durch Mißbrauch gering. Drittens aber soll zugestanden sein, daß diese Methode sogar Ansatzpunkte für die Befriedigung echter Bedürfnisse und damit für eine neue Ordnung bietet. Passionsspiele, Bachwochen, selbst Fußballmeisterschaften können gelegentlich die Antwort auf echte Bedürfnisse sein.
Die Verheerungen großen Stils ergeben sich erst bei Anwendung der zweiten Methode, bei der die Unterhaltung frei Haus, frei Lebensbezirk des Individuums geliefert wird. Es handelt sich um nichts Geringeres als um die Aufhebung der Perspektive im Weltbild des Individuums. Es verliert damit seinen sicheren Standort in der Wirklichkeit, es verliert das Unterscheidungsvermögen für das subjektive Wichtige und Unwichtige auf allen Gebieten, auf denen der primitive Selbsterhaltungstrieb nicht mehr wirksam ist. Die Welt ist zum Lieferanten des pausenlosen Programms geworden. Zu seiner Durchführung sind die Bedienungsmannschaften des Apparates gezwungen, immer neue Teilausschnitte der Wirklichkeit so herzurichten, daß sie reproduzierbar werden. Die durch Überdeutlichkeit abgestumpfte Empfindlichkeit des Konsumenten reicht in vielen Fällen in der Tat nicht mehr aus, die Wirklichkeit im Original wahrzunehmen. Es vollzieht sich ganz allgemein eine Verschiebung des Interesses von den Zuständen auf die Vorgänge, denn Zustände sind kaum oder doch nur mit einem viel größeren Aufwand an Scharfsinn zu reproduzieren als Vorgänge.
Der nächste Schritt ist, die Vorgänge so ablaufen zu lassen, daß, was der Reproduktion an Vollständigkeit fehlt durch »Spannung« aufgewogen wird. Der Konsument soll dazu verleitet werden, nicht so genau hinzuschauen oder hinzuhören. Die Vorgänge finden also nicht mehr aus ihrer eigenen Gesetzlichkeit statt, sondern mit einer Tendenz. Die Verlockung ist viel zu groß, sich des »Apparates« mit einer bestimmten politischen und geistigen Tendenz zu bedienen, als daß es bei ästhetischen Fälschungsversuchen bliebe.
Der erste, der mit erstaunlicher Folgerichtigkeit erkannt hat, daß die Reproduktion überhaupt auf Originalereignisse verzichten und die »Wirklichkeit« erfinden kann, ist Goebbels gewesen. Im letzten Kriegsjahr hat das deutsche Volk im wesentlichen in einer Welt gelebt, die aus dem Nichts reproduziert, also produziert war ausschließlich zum Zwecke der Reproduktion. (Nur die Luftangriffe der Alliierten waren original.)
In dieser Richtung wird die Entwicklung weitergehen. Als in diesem Jahre im Oberammergauer Passionsspielhaus die Matthäuspassion aufgeführt wurde, war der erste Teil der ersten Aufführung für die an Ort und Stelle anwesenden Zuhörer so gut wie verloren, weil die Jagdkommandos der Reproduzenten mit ihren Apparaten, Kameras, Tonaufnahmegeräten, Mikrophonen, Scheinwerfern, Blitzlichtanlagen und so fort ständig tätig waren. Irgendwo werden später andere Zuhörer in ihren Zimmern gesessen und dort die Reproduktion der Matthäuspassion mit fein abgestimmten akustischen Valeurs gehört haben. In diesem Falle war das dem Originalereignis beiwohnende Publikum eine Störung für die Reproduktion. Häufiger sind vorläufig noch die Fälle, in denen ein Ausschnitt »Masse« zu Reproduktionsvorgängen eingeladen wird, um durch Lachen und Beifall die Akteure und die Konsumenten in Stimmung zu bringen – diesen dergestalt die Illusion vermittelnd, sie befänden sich in einer Masse, während sie tatsächlich zu Hause sitzen und Gelbe Rüben schaben. Es hat sich aber herausgestellt, daß Lachen und Beifall eines lebendigen Publikums schwerer richtig zu dosieren sind als reproduzierte Beifalls- und Lachstürme, die deshalb im Archiv in allen Schattierungen auf Lager gehalten werden.
Die Reproduktionsapparaturen, Zeitungsfirmen, Filmgesellschaften, Radiosender, Reklamefirmen haben längst eine Größe erreicht, welche die individuelle Initiative lähmt, wenn nicht aufhebt. So wie der Mensch ohne Gewohnheiten nicht zu leben vermöchte, so würden diese Apparaturen ohne Routine zum Stillstand kommen. Man sollte ihnen also nicht ohne weiteres unterstellen, daß sie lügen wollen, – sie müssen lügen. Es gibt nicht so viel Wahrheit in der Welt, um damit ein pausenloses Unterhaltungsprogramm bestreiten zu können.
Eine kluge Beobachterin, die ihre Erfahrungen in Amerika gesammelt hat, wo man alles, was hier angedeutet ist, in viel vollkommenerer Weise bereits erfüllt findet als bei uns, hat die Geschichte vom Weltuntergang geschrieben, der von der Menschheit nicht bemerkt wird, weil sie auf Grund des reproduzierten Weltbildes glaubt, es handle sich nur um einen besonders bösartigen Krieg. Die Apparaturen machen aus dem Weltuntergang die verwerflichen Handlungen des bösen Feindes. Und nur ein Negerstamm im Inneren Afrikas, zu dem die Kunde vom Krieg nicht gedrungen ist, fällt auf die Knie und betet zu Gott, weil er glaubt, die Welt gehe unter.
In dieser Geschichte ist in summa alles enthalten, wovon hier in Andeutungen die Rede war, Das eigentliche Sinnbild unserer Zeit ist nicht der mit hunderttausend brüllenden, gestikulierenden, sich fühlenden Menschen angefüllte Zementtrichter, sondern es ist das Individuum in einer fensterlosen Kammer, vor sich hinstierend auf ein reproduziertes Scheinbild der Welt. Es ist wichtig, zu wissen, daß die Reproduzenten bereits dazu übergegangen sind, spezifische Scheinbilder zu liefern. Man schafft verschiedene »Programme« in Übereinstimmung mit der verschiedenen Aufnahmefähigkeit und dem verschiedenen Geschmack der Konsumenten. Es bedarf nur einer entschlossenen Regierung, um den Spieß umzukehren und Empfangsgeräte zu schaffen, die auf ein bestimmtes Programm geeicht sind. Es werden Gesetze erlassen werden, welche den Kauf dieser Geräte von bestimmten Voraussetzungen abhängig machen. Das ist die Stufe der Entwicklung, auf der die Gefahr völlig ausgeschaltet ist, das Individuum könnte sich selbst begegnen; denn es hat keinen Anlaß mehr, über irgend etwas zu staunen.
Quellenangabe:
Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Hanser, München 1989 (Lizenzausgabe Volk und Welt, Berlin 1990), S. 83-86