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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kein Tucholsky heute

1965 war Kurt Tucholsky seit dreißig Jahren tot; er wäre, hätte er sich nicht aus politischem Kummer in Schweden umgebracht, 75 Jahre alt geworden. Er gehörte nicht zu meinen Hausheiligen, aber daß wir, des erheblichen Rangunterschiedes ungeachtet, Wahlverwandte im Geiste waren und sind, will ich nicht bestreiten. Es mag sein, daß es auch von anderen in etwa so gesehen wurde. Jedenfalls konnte ich in den Münchner Kammerspielen an drei aufeinanderfolgenden Tagen über Tucholsky reden; im Februar im Auditorium maximum der Universität Hamburg:
Er konnte gut schreiben. Er konnte sehr gut schreiben. Was heißt das? Was könnte es heißen? Die Sprache ein Stück weiterbringen. Nach Goethe konnte man deutsch nicht mehr so schreiben wie vor Goethe. Nach Nietzsche nicht mehr so wie vor ihm. Nach Thomas Mann nicht mehr so wie nach Nietzsche. Mit diesen Namen sind Quantensprünge unserer Sprachentwicklung in moderner Zeit etwa bezeichnet. Hat Tucholsky in dieser Reihe seinen Platz? Ich glaube: nein. Er hat keine durchaus neue Dimensionen des Sagbaren geschaffen. Wohl aber hat er wie Heine der Sprache Goethens, dem Deutsch des 20. Jahrhunderts einen Dienst geleistet: er hat den lesenden Teil des Volkes auf neuesten Stand gebracht. Unter Verwendung des gerade geschaffenen Instrumentariums der Sprache haben er und Heine so getan, als sei es selbstverständlich, als sei gar nichts dabei, es zu verwenden. Bei Goethe, Nietzsche, Thomas Mann weiß jedes Kind: es handelt sich um Literatur – und das bedeutet, in einem unliterarischen Volk wie dem unseren eine Trennwand aufrichten: hier das Leben, dort der Zauberberg. Hingegen denkt bei Heine oder Tucholsky leicht einer: das kann ich auch. Denkste! Gleichviel, der Irrtum, durch den des Lesers pures Vergnügen seine Ehrfurcht tilgt, setzt ihn, den Leser, instand, seine Gegenwart anzunehmen, und das bedeutet schon mehr als viele erreichen, die sich im Vorgestern integrieren und dabei stehen bleiben. Es ist also, meine ich, Tucholskys Sprachleistung mehr sozialpädagogischer als literarischer Art. Aber auch das ist ja wunderbar und seltsam, weil selten.
Seine Wirkung war lebenslänglich, und bis heute an das Vergnügen gebunden, das er formal dem Leser bereitete. Diese Erkenntnis bereitet ihm Pein.
Nicht nur seine Taten tun nicht Tucholskys Geschäft – dadurch, daß sich seine Gesinnungspredigten so herrlich lasen; dadurch, daß er seine Sprache beherrschte, wurde er in der deutschen Öffentlichkeit zu einer durch und durch unseriösen Erscheinung. Man hätte ihm Rheinsberg und Gripsholm in gutem Deutsch noch hingehen lassen. Daß aber sogar die Sätze, mit denen er den Militarismus kritisierte, fehlerlos und klingend waren, verzieh man ihm nicht.
30 oder 40 Jahre später ist das anders. Jetzt lobt man ihn gerade für die formale Schönheit seiner Bekenntnisse. Um dessentwillen ist er der Wohlstandsgesellschaft teuer, daß er Dinge, die sich inzwischen als zutreffend herausgestellt haben, auch treffend ausdrückte. Auf eine erstaunliche Weise ist er uns teuer geworden. ARGUS, das Ausschnittbüro, vermochte aus Anlaß dieses 75. Geburtstages ein paar hundert Artikel über ihn zu sammeln.
Vom Hamburger Abendblatt bis zum Neuen Deutschland wird Tucholsky gefeiert, jenes ein Hausblatt Springers, dieses ein Hofblatt Ulbrichts. Soviel gesamtdeutsche Einigkeit macht stutzig. Alle, alle loben sie ihn wegen seiner politischen Haltung über den grünen Klee. »Wir dachten daran«, steht im Abendblatt, »wie sehr er unserer Zeit, die so empfindlich gegen Kritik ist, als Wachhund der Freiheit fehlt.« Neues Deutschland aber schreibt: »Tucholsky ist für die heute in Westdeutschland herrschende Klasse so mißliebig wie ehemals.« Geht man davon aus, daß unsere Zeitungsverleger und -redakteure zur herrschenden Klasse gehören, dann muß man sagen: hier irrt Neues Deutschland. Es ist nicht wahr – unsere herrschende Klasse findet Tucholsky einen äußerst liebenswerten Sohn ihres liebenswerten Volkes. Die Öffentliche Meinung ist darüber einer Meinung, repräsentiert von der bürgerlichen Presse eines 52-Millionen-Volkes, die von der Soldatenzeitung bis zum Neuen Vorwärts mit Tucholsky, der kein Marxist, aber entschieden links war, nicht einmal mehr Spurenelemente sozialistischer Ethik und Gesinnung gemeinsam hat. Liegt hier ein Mißverständnis oder tiefere Einsicht vor?
Sagen wir zunächst, daß diese Lobhudelei auf einen ebenso geistig schlichten wie politisch durchsichtigen Schwindel zurückzuführen ist, der seinen verbalen Ausdruck beispielsweise darin findet, daß nicht wenige dieser Erinnerungsaufsätze sich an ein Wort Tucholskys klammern, das da lautet: »es gibt zwei Deutschland, eins ist frei, das andere ist knechtisch.« Diesem empfindlichen Linken wird unterstellt, daß er, lebte er noch, einen anatomischen Schnitt durch deutsche Volksseele entlang der Berliner Mauer gezogen hätte! So daß zum freien Deutschland Barzel, Hassel, Strauß, Adenauer, die Bundeswehr, die heutige Sozialdemokratie, Springer, der Atomminengürtel-Plan und die Spiegel-Justiz zählten, zum unfreien alle jene progressiven Sozialisten der DDR, von denen ich nur deshalb keinen mit Namen nennen möchte, weil das einer Denunziation gleichkäme jenen gegenüber, die natürlich auch Tucholsky zum knechtischen Deutschland gerechnet hätte. Auf so gangsterhafte Weise integriert also eine Gesellschaft, die Tucholsky widerlich fände, wenn er unter uns lebte, einen Mann, der sich dagegen nicht mehr wehren kann. Liest man ihn aber, und glaubt man ihm, was er geschrieben hat, und trotz richtiger Grammatik seiner Aussage sollte man einem Mann glauben, dem die allzu späte Erkenntnis der tatsächlichen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse um 1928 das Leben nicht mehr lebenswert erscheinen ließ – glaubt man ihm, was er über den Militarismus und das Militär, über die Bourgeoisie und den deutschen Machtkoller, über deutsche Justiz und einige andere, durchaus nicht verschwundene Phänomene unsere heutigen politischen Wirklichkeit geschrieben hat – dann dürfte man ihn füglich nicht feiern mit dem Tenor: ach, wäre er doch unter uns. Vielmehr müßte man ihm einen Lebenslauf zubilligen, der, hätte Tucholsky sich nicht umgebracht, etwa so gewesen wäre: 1945 Rückkehr aus Schweden, Mitarbeiter am 3. Programm des Norddeutschen Rundfunks unter englischen Majoren und Axel Eggebrecht, 1959 Feuilletonredakteur am L’Express in Paris, 1960 Herausgeber einer Taschenbuchreihe rororo-aktuell, 1964 Rückkehr nach Schweden, 1965, wer weiß, Selbstmord am Mälarsee.
Aber die Öffentliche Meinung feiert ihn. »Wir können nur feststellen, wie recht diese Kassandra gehabt hat«, schreibt Die Welt. Widerstand mit der Schreibmaschine – Der gar nicht tot zu kriegende Tucholsky – Tucholsky, ein prophetischer Warner – Bürger und Patriot (dies in einem Ost-Berliner Blatt) – Alte Liebe zu Tucholsky – Der das Wort wie den Degen führte – Gegen die Dummheit – Er sah das Unheil kommen – Warum uns Kurt Tucholsky fehlt – Goldenes Herz und eiserne Schnauze – so und ähnlich lauten die Überschriften der Jubiläumsartikel. Der Bürgerschreck als Bürgerliebling. Nur politische Falschmünzerei?
Nein, ich glaube, hier folgt Umwertung der Einsicht, daß dieser Mann unwirksam wäre in unserer Zeit, so daß man frère et cochon mit ihm spielen kann, und gleichzeitig die Politik treiben, die man treibt – rechts von der Mitte, und haargenau mit allen jenen Schwächen, Begierden, Illusionen, Dummheiten und Knechtsallüren, gegen die Tucholsky schrieb. Voltaire war wirklich eine Gefahr für die feudale Ordnung Frankreichs, Gorki für das Zarenreich, vielleicht sogar noch der Simplizissimus für Wilhelm II., Tucholsky aber keine Gefahr mehr für die herrschenden Klassen und die heraufdrängenden Mächte der 20er Jahre.
Warum heute nicht?
Drei der möglichen Gründe möchte ich nennen:
Der politische Kämpfer Tucholsky bediente sich des Mittels der Satire.
Voraussetzung der Wirksamkeit dieses Verfahrens war, daß die Öffentlichkeit die Überhöhung noch wahrnahm, oder anders gesagt: daß die Wirklichkeit dem Satiriker Spielraum zur Übertrei- bung ließ. Dieser Spielraum besteht nicht mehr.
Zweitens; glaube ich, hätte ein Tucholsky heute verspielt, weil seine Sprache, die literarische Sprache überhaupt, kein geeignetes Mittel mehr ist, gesellschaftliche Verhältnisse im direkten Zugriff durchsichtig zu machen. Nicht von ungefähr sind fortschriftliche Schriftsteller, wie sie etwa in der Gruppe 47 zu finden sind, entweder sprachlich ambitiös und dann politisch impotent, oder gesinnungsfreudig und dann formal von gestern. Die Ablenkung auf das absolut Unwesentliche erlaubt, im Wesentlichen unkontrolliert zu finassieren. Wesentliches herauszufinden etwa in bezug auf die Bundeswehr, es wäre nicht mehr Tucholsky-Sache, es war des Spiegels Sache – die er erledigte durch strohtrockene und durchaus kunstlose Information. Und da zeigte sich denn auch, daß das Stachelschwein doch gebissen werden kann. Es schrie auf.
Haben die Kunstsprache und die Gesinnungsbekundung emotionaler Art heute und hier keine politische Kraft mehr, so könnten doch, gäbe es der Tucholskys, die deutschen Zeitungen in wiederum 40 Jahren schreiben: wir waren zwar blöd, aber wir waren nicht alle blöd. Das sagen sie jetzt von dem Zeitraum 1920 – 1933 Tucholskys und anderer wegen, das sagen sie von dem Zeitraum 1933 – 1945, weil es die Weiße Rose gab. Alibis sind eine feine Sache – nur leider für die Vorwärtsverteidigung des Friedens ohne jeden Belang. Ein dritter Gesichtspunkt sei erwähnt: Der Einzelne vermag mit dem Wort ohne Macht überhaupt nichts mehr für oder gegen die Gesellschaft zu tun. Macht sei in doppeltem Sinne verstanden: daß der, der das Wort führt, Macht hat; oder daß das Wort derartig vervielfältigt werden kann, daß es Macht gewinnt.
Hieraus ergibt sich, was noch Wirkung verspricht: die gezielte, massenhaft verbreitete Information – der natürlich der gezielte Kommentar folgen kann. Der Kommentar allein aber reicht nicht mehr. Ein derart düpiertes Volk wie das unsere mißtraut – mit Recht – der bloßen Gesinnungsbekundung gerade dann, wenn sie die Grobheit des Massenhaften annimmt.
Tucholsky wußte immer oder doch meistens, was richtig und was falsch war. Was war, davon hatte er in aller Regel nur eine schattenhafte Ahnung. Wir müssen wissen, was ist – und eben diese Sachverhalte entziehen sich meistens der allgemein verständlichen Mitteilung, und schon ganz und gar der formal verführerischen Mitteilung.
Sie, Studenten dieser Universität, werden früher oder später einen Beruf ausüben, in dem es darauf ankommt, Sachzusammenhänge zu überschauen, Daten zu verarbeiten, Leistungen zu erzielen. Vielleicht werden Sie das großartig machen. Aber wie großartig Ihre Leistung auch sein mag, wie vollkommen Ihre Sachkenntnis – Sie sind nicht sicher davor, ob Sie sich damit nicht im negativen Raum bewegen. Mit einem Wort: es ist ebenso gefährlich, nur Experte zu sein, wie es wirkungslos ist, nur Tucholsky zu sein. Glauben Sie bitte nicht, daß ein gesellschaftlicher Fortschritt möglich sei, solange folgende Arbeitsteilung stattfindet: die einen vermögen das output eines Computers richtig zu entschlüsseln, die andern verstehen davon nichts, wollen aber drüber entscheiden, was das output wert ist für den Menschen. Das aber ist unser gesellschaftlicher Zustand, genau diese Kluft besteht zwischen Handeln und Entscheiden, und deshalb sind unsere Verhältnisse nicht nur unbehaglich, sondern ausgesprochen gefährlich. Die Trennung von Handeln und Gesinnung gibt es in einem ideologisch geschlossenen System nicht, und wenn es dort so wenig Spielraum für verändernde Kräfte gibt, so hat das unter anderem – ich sage unter anderem – auch den Grund, daß die geringste Kraft viel bewirkt. Bei uns aber rennen wir allenthalben an Gummiwände, wir sind von ihnen umgeben, und wenn Sie so wollen: wir leben derart in einer Gummizelle. Das war Tucholskys Lebensgefühl, als er sich umbrachte.
Quellenangabe:
Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Hanser, München 1989 (Lizenzausgabe Volk und Welt, Berlin 1990), S. 285-290

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Das pausenlose Programm

1950 beginnt meine kontinuierliche Mitarbeit an den von Eugen Kogon und Walter Dirks herausgegebenen Frankfurter Heften, die bereits im fünften Jahr erscheinen und es zu hohem Ansehen gebracht hatten. Soweit ich im folgenden aus diesen Beiträgen zitiere, sah ich mich zu extremen Kürzungen veranlaßt; unnötig zu sagen, daß damit in keinem Fall Veränderung der Aussage verbunden ist. Gespräche, die ich in Hamburg beim NWDR geführt hatte, wo einem Kreis von Journalisten Informationen über das in Vorbereitung befindliche Fernsehen vermittelt worden waren, wirkten in mir nach. Spät, aber nun eben doch, machte ich mir Gedanken darüber, daß wir mehr und mehr in einer künstlich hergestellten Schein-Wirklichkeit zu leben verdammt seien. Sie schlugen sich in einem langen, für die Frankfurter Hefte geschriebenen Beitrag nieder, aus dem die folgenden Passagen stammen.
Das Individuum will sich nicht begegnen, und es hat wirksame Mittel gefunden, sich vor sich selbst zu verstecken. Die Furcht vor der Pause ist zum Motor unseres gesamten Lebens geworden. Im Vergleich dazu ist die Furcht vor der Atombombe so gering, daß man sie leicht mit Sehnsucht nach der Atombombe verwechseln könnte. Schließlich ist ja auch die Atombombe für die von ihr Betroffenen ein absolut sicherer Schutz vor Selbsterkenntnis. Die Furcht vor der Pause ist so groß, daß sich eine moderne Verwaltung viel leichter entschließt, die Butterration zu kürzen, als die Unterhaltung einzuschränken. Der Anspruch auf Unterhaltung ist der einzige, der der Masse selbst im Finale der Diktatur nie abgesprochen wurde. Nicht der Rüstung, nicht der Kriegsführung hat die höchste Aufmerksamkeit der Führung, ihre letzte Energie, gegolten, sondern der Aufrechterhaltung der pausenlosen Unterhaltung. Niemand sollte heute glauben, daß sich daran etwas .geändert habe, nur weil die allgemeinen Umstände vorübergehend weniger dramatisch sind. Es ist neuerdings vorgekommen, daß der Radioapparat nicht mehr abgestellt wird, wenn ein Mitglied der Familie stirbt. Die liebevollen Angehörigen beabsichtigen, dem Sterbenden die letzten Stunden leicht zu machen. Mit Unterhaltung meine ich die Summe der Eindrücke und Erlebnisse, deren ein Mensch heutzutage fortwährend – ohne Unterlaß – teilhaftig wird, ohne daß bei ihm individuelles oder spezifisches Bedürfnis danach vorliegt. Seitdem wir eine bestimmte Abart der Unterhaltung, die Propaganda, so gründlich kennengelernt haben und fortwährend neu kennenlernen, sind wir nur zu leicht geneigt, die Wirkungen der unpolitischen, der scheinbar richtungslosen Unterhaltung zu unterschätzen. Sie ist nicht richtungslos, sie ist mit der Unbeirrbarkeit einer Kompaßnadel auf ein Ziel gerichtet: sie zerstört die Kultur.
Es gibt, alles in allem, zwei Methoden, das Verlangen nach Unterhaltung zu befriedigen, und man sollte sich davor hüten, zu meinen, der Unterschied zwischen ihnen sei nur ein äußerlicher: man kann den Konsumenten an den Ort der Unterhaltung verfrachten, oder man kann ihm die Unterhaltung in den Bezirk liefern, darin sich sein alltägliches Leben abspielt.
Die erste Methode ist minder gefährlich als die zweite. Erstens sind selbst einem Volk wie dem unsern, das fortwährend neue Wunder der Organisation vollbringt, dem Zusammentreiben der Massen gewisse technische Grenzen gesetzt. (Was sich hier abspielt, sind moderne Wallfahrten; genau wie die Wallfahrten alten Stils unternimmt man sie, um Kraft zu tanken.) Zweitens ist bei dieser Methode der Kulturverschleiß durch Mißbrauch gering. Drittens aber soll zugestanden sein, daß diese Methode sogar Ansatzpunkte für die Befriedigung echter Bedürfnisse und damit für eine neue Ordnung bietet. Passionsspiele, Bachwochen, selbst Fußballmeisterschaften können gelegentlich die Antwort auf echte Bedürfnisse sein.
Die Verheerungen großen Stils ergeben sich erst bei Anwendung der zweiten Methode, bei der die Unterhaltung frei Haus, frei Lebensbezirk des Individuums geliefert wird. Es handelt sich um nichts Geringeres als um die Aufhebung der Perspektive im Weltbild des Individuums. Es verliert damit seinen sicheren Standort in der Wirklichkeit, es verliert das Unterscheidungsvermögen für das subjektive Wichtige und Unwichtige auf allen Gebieten, auf denen der primitive Selbsterhaltungstrieb nicht mehr wirksam ist. Die Welt ist zum Lieferanten des pausenlosen Programms geworden. Zu seiner Durchführung sind die Bedienungsmannschaften des Apparates gezwungen, immer neue Teilausschnitte der Wirklichkeit so herzurichten, daß sie reproduzierbar werden. Die durch Überdeutlichkeit abgestumpfte Empfindlichkeit des Konsumenten reicht in vielen Fällen in der Tat nicht mehr aus, die Wirklichkeit im Original wahrzunehmen. Es vollzieht sich ganz allgemein eine Verschiebung des Interesses von den Zuständen auf die Vorgänge, denn Zustände sind kaum oder doch nur mit einem viel größeren Aufwand an Scharfsinn zu reproduzieren als Vorgänge.
Der nächste Schritt ist, die Vorgänge so ablaufen zu lassen, daß, was der Reproduktion an Vollständigkeit fehlt durch »Spannung« aufgewogen wird. Der Konsument soll dazu verleitet werden, nicht so genau hinzuschauen oder hinzuhören. Die Vorgänge finden also nicht mehr aus ihrer eigenen Gesetzlichkeit statt, sondern mit einer Tendenz. Die Verlockung ist viel zu groß, sich des »Apparates« mit einer bestimmten politischen und geistigen Tendenz zu bedienen, als daß es bei ästhetischen Fälschungsversuchen bliebe.
Der erste, der mit erstaunlicher Folgerichtigkeit erkannt hat, daß die Reproduktion überhaupt auf Originalereignisse verzichten und die »Wirklichkeit« erfinden kann, ist Goebbels gewesen. Im letzten Kriegsjahr hat das deutsche Volk im wesentlichen in einer Welt gelebt, die aus dem Nichts reproduziert, also produziert war ausschließlich zum Zwecke der Reproduktion. (Nur die Luftangriffe der Alliierten waren original.)
In dieser Richtung wird die Entwicklung weitergehen. Als in diesem Jahre im Oberammergauer Passionsspielhaus die Matthäuspassion aufgeführt wurde, war der erste Teil der ersten Aufführung für die an Ort und Stelle anwesenden Zuhörer so gut wie verloren, weil die Jagdkommandos der Reproduzenten mit ihren Apparaten, Kameras, Tonaufnahmegeräten, Mikrophonen, Scheinwerfern, Blitzlichtanlagen und so fort ständig tätig waren. Irgendwo werden später andere Zuhörer in ihren Zimmern gesessen und dort die Reproduktion der Matthäuspassion mit fein abgestimmten akustischen Valeurs gehört haben. In diesem Falle war das dem Originalereignis beiwohnende Publikum eine Störung für die Reproduktion. Häufiger sind vorläufig noch die Fälle, in denen ein Ausschnitt »Masse« zu Reproduktionsvorgängen eingeladen wird, um durch Lachen und Beifall die Akteure und die Konsumenten in Stimmung zu bringen – diesen dergestalt die Illusion vermittelnd, sie befänden sich in einer Masse, während sie tatsächlich zu Hause sitzen und Gelbe Rüben schaben. Es hat sich aber herausgestellt, daß Lachen und Beifall eines lebendigen Publikums schwerer richtig zu dosieren sind als reproduzierte Beifalls- und Lachstürme, die deshalb im Archiv in allen Schattierungen auf Lager gehalten werden.
Die Reproduktionsapparaturen, Zeitungsfirmen, Filmgesellschaften, Radiosender, Reklamefirmen haben längst eine Größe erreicht, welche die individuelle Initiative lähmt, wenn nicht aufhebt. So wie der Mensch ohne Gewohnheiten nicht zu leben vermöchte, so würden diese Apparaturen ohne Routine zum Stillstand kommen. Man sollte ihnen also nicht ohne weiteres unterstellen, daß sie lügen wollen, – sie müssen lügen. Es gibt nicht so viel Wahrheit in der Welt, um damit ein pausenloses Unterhaltungsprogramm bestreiten zu können.
Eine kluge Beobachterin, die ihre Erfahrungen in Amerika gesammelt hat, wo man alles, was hier angedeutet ist, in viel vollkommenerer Weise bereits erfüllt findet als bei uns, hat die Geschichte vom Weltuntergang geschrieben, der von der Menschheit nicht bemerkt wird, weil sie auf Grund des reproduzierten Weltbildes glaubt, es handle sich nur um einen besonders bösartigen Krieg. Die Apparaturen machen aus dem Weltuntergang die verwerflichen Handlungen des bösen Feindes. Und nur ein Negerstamm im Inneren Afrikas, zu dem die Kunde vom Krieg nicht gedrungen ist, fällt auf die Knie und betet zu Gott, weil er glaubt, die Welt gehe unter.
In dieser Geschichte ist in summa alles enthalten, wovon hier in Andeutungen die Rede war, Das eigentliche Sinnbild unserer Zeit ist nicht der mit hunderttausend brüllenden, gestikulierenden, sich fühlenden Menschen angefüllte Zementtrichter, sondern es ist das Individuum in einer fensterlosen Kammer, vor sich hinstierend auf ein reproduziertes Scheinbild der Welt. Es ist wichtig, zu wissen, daß die Reproduzenten bereits dazu übergegangen sind, spezifische Scheinbilder zu liefern. Man schafft verschiedene »Programme« in Übereinstimmung mit der verschiedenen Aufnahmefähigkeit und dem verschiedenen Geschmack der Konsumenten. Es bedarf nur einer entschlossenen Regierung, um den Spieß umzukehren und Empfangsgeräte zu schaffen, die auf ein bestimmtes Programm geeicht sind. Es werden Gesetze erlassen werden, welche den Kauf dieser Geräte von bestimmten Voraussetzungen abhängig machen. Das ist die Stufe der Entwicklung, auf der die Gefahr völlig ausgeschaltet ist, das Individuum könnte sich selbst begegnen; denn es hat keinen Anlaß mehr, über irgend etwas zu staunen.
Quellenangabe:
Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Hanser, München 1989 (Lizenzausgabe Volk und Welt, Berlin 1990), S. 83-86

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Ich über mich

Mit dem Schreiben zu dem Zweck, etwas mitzuteilen, begann ich als Sechsjähriger, als eine ausnehmend schöne Dame im Ersten Weltkrieg für ein paar Wochen auf unseren Einödhof gekommen war, um sich satt zu essen, freundschaftlich aufgenommen von meiner Mutter, die das Anwesen mit einem Dutzend »Mägden« und »Knechten« führte, indes der Vater irgendwo an der Westfront seit August 1914 mit Feldgeschützen die Franzosen ärgerte, so daß er im Kriegsjahr 1916 jene schöne Dame nicht erlebte, welche die allzu junge Witwe eines damals sehr bekannten Schriftstellers namens Otto Julius Bierbaum war, von ihm aus Florenz mitgebracht und geehelicht, was einen Schwarm Münchner Künstler nicht hinderte, sie zu umgarnen, in Öl zu malen, zu zeichnen, woraus hervorgeht, daß ich, das Kind, nicht übermäßig originell war, als ich ihr in einem Brieflein schrieb, ich wünschte, sie bliebe ganz bei uns, wie ich von meiner Mutter später erfuhr, als wir den Hof im letzten Kriegsjahr bereits verlassen hatten (törichterweise!), der so weit ab von der nächsten Volksschule lag und liegt, daß mir der Weg dorthin, ein Fußpfad durchs Blumenparadies eines Hochmoores nicht zugemutet wurde, vielmehr ein Fräulein Hagen mir das Lesen, das Schreiben und das Kleine Einmaleins beibrachte, dergestalt der Hof, Wohnhaus, Stall, »Leutehaus«, die riesige Scheune mit der steilen Auffahrt, meine Welt war, dazu all die Tiere, angefangen mit dem großmächtigen, am Nasenring aus dem Stall herausgeführten Stier bis zu den Stallhasen, die der Vater als Kriegsbeute aus Belgien in einem von zwei Urlauben mitgebracht hatte, die ihm in vier Jahren genehmigt worden waren, so daß er für mich, als er dann wieder bei uns blieb, ein ziemlich fremder Herr war, von dem ich erfuhr, wir hätten den Krieg nicht verloren, was ich ihm schon nicht mehr glaubte, sondern frühzeitig begann, mich zum schwarzen Schaf der Familie zu entwickeln, zu einem Sohn, der nur geringes Interesse bekundete, als der Vater nach dem Umzug in das nächste Kreisstädtchen – wo er eine weit kleinere Landwirtschaft erstand und betrieb – auf lokaler Ebene eine paramilitärische Organisation aufbaute, Einwohnerwehr genannt, deren Mannschaften in der nahen »Schießstätte« Schützenfeste veranstalteten, die eigentlich Schießübungen waren, und eines Tages der Vater in unserem Obstgarten sogar mit Ludendorff auf und ab ging, kurz vor dem Hitler-Putsch vom November 1923, der der »Einwohnerwehr« ein Ende setzte, so daß auch das Waffenlager in einem unserer Heustadel draußen im »Moos« beim Torfstich verschwand, das mir nicht entgangen war, und samt dem ganzen deutschnationalen, nicht eigentlich nationalsozialistischen Klimbim sicher dazu beigetragen hat, daß es der Leser mit einem Buch zu tun bekommen wird, einer Art subjektiver Zeitchronik, die gewisser autobiographischer Streiflichter nicht völlig entraten kann, geschrieben von einem, dem eigentlich lebenslänglich an dem Volk, dem er nun einmal zugehört, mehr mißfallen als gefallen hat, zumal er dieses sein Volk einen ganzen Weltkrieg lang, den zweiten, erlebt hatte als Soldat, wovon ein Buch Zeugnis ablegt, das nicht am Schreibtisch entstanden ist, sondern zwischen dem Dnjepr und der Bretagne, 1975 vorgelegt als Mein Krieg, bemerkt von hundert Kritikern, von denen einer schrieb, dieser Soldat E.K. habe 2919 Tage und Nächte lang aufgeschrieben, in was er selbst aufs engste verwickelt gewesen sei, mache aber den Eindruck, als sei er gar nicht derjenige, der das alles erlebt und mitgemacht habe – was mich davor bewahrte oder dazu verurteilte, nichts zu glauben, was geglaubt wurde von der jeweiligen Mehrheit, nichts zu erhoffen von dem, worauf sie hoffte, nicht zu fürchten, vielmehr eher zu ersehnen, was sie fürchtete, wovon eine Lebenshaltung bestimmt wurde – eine Lebenshaltung, die ihre Tücken im privaten zwischenmenschlichen Umgang hat, der Ausübung des journalistischen Handwerks jedoch durchaus zuträglich ist, und damit möge es sein Bewenden haben hinsichtlich der Bestimmung meiner Umweltbeziehung, in moralische Irrgärten sei nicht hineingewildert, der Frage, wie Gesinnung entsteht, nicht weiter nachgegangen und nur hervorgehoben, daß eine linke politische Einschulung nicht stattgefunden hat, Marx mir auf keiner Lebensstufe zum Guru geworden ist, ersetzt wurde durch die Lehren der Wirklichkeit, die so wenig dazu angetan waren und sind, Wohlwollen zu wecken für unsere deutsche Wirklichkeit, 12 Jahre lang pervertiert zur Weltvernichtungspraxis, bis ich im Juni 1945, nach kurzer amerikanischer Gefangenschaft in Frankreich, mit nunmehr 35 Jahren anfangen konnte (und mußte), zu überlegen, was ich aus meinem Leben eigentlich machen wollte. 1947 wußte ich es. Ich wurde kein Schreiber, sondern ein Aufschreiber, und ich begehre, schuld daran zu sein.

München, Venedig, im Sommer 1989

Quellenangabe:
Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Hanser, München 1989 (Lizenzausgabe Volk und Welt, Berlin 1990), S. 7-8