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Abschied von Gisela May

Die May – wirklich einmalig

„Bin ich einmalig, wirklich einmalig?“, sang die umwerfende Gisela May, als sie als Dolly die Freitreppe auf der Metropol-Bühne hinaufschwebte. Sie war einmalig, und sie wird es bleiben.
Die Nachricht vom Tode Gisela Mays hat uns erschüttert. Überrascht hat sie uns nicht. Hatten wir – Marlis und Wolfgang Helfritsch –  ihr doch an ihrem 92. Geburtstag herzliche Grüße und gute Wünsche ihrer Kurt-Tucholsky-Gesellschaft überbracht und sie im Pflegeheim in Berlin-Baumschulen-weg in einem sehr bescheidenen Kreis von Freunden und Verehrern angetroffen. Man konnte ihre Gäste an zwei Händen aufzählen: ein alter Freund und Kollege vom BE, ihre ehemalige Chansonschülerin Johanna Arndt, ihr Pianist und musikalischer Begleiter der Workshops in der Akademie der Künste Klaus Schäfer, ihre Pflegerin und wir als ihre Bewunderer und selbsternannten Abgesandten des Vereins, dem sie lange Jahre angehörte. Sie freute sich über den Besuch, obwohl es ihr schwerfiel, allen Gesprächen zu folgen. Als wir angeregt hatten, mit ihr gemeinsam die Lieder zu singen, die der Welt vielleicht erst durch ihre Interpretation bekannt geworden waren, blitzte es in ihren Augen auf – sie erinnerte sich offensichtlich und summte mit. Die diesjährige Situation unterschied sich wesentlich von ihrem 80. Geburtstag im vollbesetzten BE, in dem sie ihren Gästen  ein zweistündiges Kurt-Weill-Konzert präsentiert hatte, und vom 10 Jahre später nicht weniger frequentierten Meeting im Filmtheater Babylon,wo Dr. Schebera die Veranstaltung moderierte, Künstler unterschiedlicher Genres auf spezifische Art gratulierten und die Jubilarin blitzgescheit und manchmal nicht unkritisch auf gute Wünsche reagiert hatte.
Gisela May war eine begnadete Schauspielerin, die das tragische Fach ebenso beherrschte wie das komische. Von Hanns Eisler einst persönlich zum Chanson-Gesang ermutigt, wurde sie zur wohl weltweit authentischsten Brecht- und Tucholsky-Interpretin, widmete sie sich als Diseuse Hollaender, Kästner und Brel, bereicherte in „Cabaret“ und „Hallo, Dolly“ das Musical, moderierte mit der „Pfundgrube“ zu DDR-Zeiten eine eigene TV-Sendereihe , verkörperte Brechts „Mutter Courage“ und Hauptmanns „Mutter Wolffen“ , tändelte als leichte Dame in Heinar Kipphardts  „Shakespeare dringend gesucht“ über die Bühne, gastspielte nach ihrer unglücklichen Verabschiedung aus dem BE noch im Renaissance-Theater, im „Theater des Westens“ und in der „Bar jeder Vernunft“, gab in ihren folgenden freischaffenden Zeiten noch jahrelang Kurt-Weill-Abende, brillierte als „Muddi“ an der Seite Evelyn Hamanns in einer komödiantischen Kriminalserie undundund. Das alles und noch viel mehr wird in den Nachrufen der Presse und in den televisionären Nachklängen gebührend hervorgehoben. „Die May“ reiste nach New York und Paris, gastierte in Mailand und Venedig und schreckte vor weniger attraktiven Auftrittsorten in Deutschland und Europa nicht zurück, wenn dort nur die Chance bestand, Menschen mit ihrem humanistischen Anliegen zu erreichen.
Kaum Erwähnung fand in den Nachrufen, dass Gisela May vor der UNO-Vollversammlung Brecht/ Eislers „Friedenslied“ gesungen und als „Botschafterin des Chansons“ gewirkt hatte. Es sei deshalb hier nachgetragen.
Gisela May verstand sich als DDR-Künstlerin und war „sozialistischer Weltstar mit Krawatte“ („Die Welt“). Sie biederte sich ihrem Staat jedoch nicht an, scheute sich weder vor noch nach 1989 vor Fragestellungen und hielt auch zu ihrem systemkritischen Lebenspartner Wolfgang Harich, als er wegen „philosophischer Abweichungen“ zeitweise von der Öffentlichkeit ausgesperrt worden war. Sich zu verbiegen oder sich verbiegen zu lassen, blieb ihr das ganze Leben lang fremd.
Allein die Liste der Auszeichnungen, die der May verliehen wurden, würde den Umfang des Beitrags sprengen. Sie reichen in vom DDR-Nationalpreis, dem Vaterländischen Verdienstorden der DDR und dem „Stern der Völkerfreundschaft“ über das Bundesverdienstkreuz und den Verdienstorden des Landes Berlin bis zum „Deutschen Schallplattenpreis“, dem „Stern der Satire“ und dem „Kleinkunstpreis des Chansons“. Diese und weitere Ehrungen dürfen nicht vergessen machen, dass Gisela May auch als Ehrenmitglied unserer Gesellschaft geehrt wurde. Wie hoch sie diese Auszeichnung schätzte, beweist ihr als Danksagung dargebrachtes Tucholsky-Programm im Berlin-Saal der Zentral- und Landesbibliothek, dem damaligen Konferenzraum der Tagung „Tucholsky und das Kabarett“.
Es sei mir gestattet, unsere persönlichen Eindrücke von und die Begegnungen mit Gisela May unserer Trauer und unserem Beileid hinzuzufügen.
Als jungem Lehrer ausgangs der 50er/anfangs der 60er Jahre war sie für mich eine unerreichbare Ikone. Ich bewunderte die Schauspielerin, die auf damaligen Plakaten neuerdings auch als Brecht- und Tucholsky-Diseuse angekündigt wurde, verwendete ihre Platten im Unterricht und verehrte sie später als die Courage und die Kelch-Wirtin Kopecka in „Schwejk im II. Weltkrieg“. Dass sie sich mit „Es wechseln die Zeiten“ aus dem Chanson „Am Grunde der Moldau wandern die Steine“ so identifizierte, dass sie den Liedtext auch als Titel ihrer Biographie wählte, hing nicht nur mit ihrem musikalischen Gespür für Smetana zusammen. Es hatte wohl eher mit jener Wertschätzung zu tun, die Paul Dessau so formulierte: „Die May singt nicht schön, sie singt richtig“.
Als späterer Vorständler und Vorsitzender der Tucholsky-Gesellschaft hatte ich nicht nur die Pflicht, sondern auch die Freude der arbeitsbedingten Zusammenarbeit mit Gisela May als Vereinsmitglied. Sie teilte gern ihre Erfahrungen mit und machte Vorschläge. Soweit das ihre Gesundheit und ihr Terminplan zuließen, nahm sie an unseren Konferenzen teil, quälte sich die hohen Treppenstufen im Tagungsgebäude in der Breiten Straße hinauf und ergriff auch mal innerhalb eines Vortrages das Wort, wenn sie mit einer Position des Referenten nicht einverstanden war. Als Laudatorin für den Tucholsky-Preisträger Lothar Kusche verlängerte sie das Verfahren, weil ihr nach ihrer Lobesrede immer noch etwas Bemerkenswertes einfiel, und das musste sie vom Bühnenpodest aus loswerden. Nun hatte das DT jedoch eine für den „Sommernachtstraum“ kaum nachvollziehbare, aber sehr steile Dekoration geschaffen, die wegen unseres ehrenwerten Zeremoniells nicht ab- und aufgebaut werden konnte und den Zugang zur Bühne nur mit tatkräftiger Hilfestellung ermöglichte. Solche nahm sie im Interesse des Preisträgers gern in Anspruch, nachdem sie die Dekoration nochmals lautstark kritisiert hatte.
Bei anderen Preisübergaben wirkte Gisela May in den von Volker Kühn zusammengestellten und in Regie genommenen kulturellen Rahmenveranstaltungen künstlerisch mit. Wir erinnern uns gern daran.
Gisela May war eine Frau, die von jedem angesprochen werden konnte und gern half.  Das können Tagungsteilnehmer bezeugen, die nach der Konferenz „Tucholsky und die Justiz“ einen schnellen Ortswechsel von Potsdam nach Berlin vollziehen mussten und – mit der Diseuse am Steuer – mit ihrem Auto flugs in die Hauptstadt befördert wurden. Eine solche Fahrgemeinschaft wurde auch einem meiner Ex-Schwiegersöhne zuteil, der in seiner Dresdener Studienzeit am Wochenende möglichst  ohne Fahrtkosten nach Berlin wechseln wollte. Auf seine bittenden Handzeichen in der Großenhainer Straße reagierte keine Geringere als unser Ehrenmitglied. Meinem ehemaligen Verwandten ging erst während der Fahrt auf, wer ihn da aufgelesen hatte.
Gisela May war eine starke Frau. Als ihr Augenlicht nachließ und sie nicht mehr aus ihren Büchern vorlesen konnte, half sie sich bei ihren biographischen Vorträgen wie folgt: Nachdem sie vom Gastgeber – im dargelegten Falle handelte es sich um den Sänger Thomas Quasthoff im Berliner Konzerthaus  – begrüßt worden war (die Vorstellung konnte er sich bei ihrem Popularitätsgrad ersparen), begann Gisela May mit der Lesung. Sie las aber nicht, sondern zitierte auswendig aus einem ihrer Bücher, blickte dann auf und fragte ins Publikum: „Aber was mach` ich denn da! Soll ich weiter vorlesen? Fragen Sie mich doch lieber!“ Das Publikum fragte, und der Abend war gelaufen.
Manchmal garnierte sie die Veranstaltung noch mit einem oder zwei Chansons – das kam auf ihren Gesundheitszustand und ihre Tagesform an. Falls die Zeichen günstig standen, eilte der in Bereitschaft sitzende Pianist zum Klavier, und die Diseuse war in ihrem Element.
Gisela May hatte ein gutes Gedächtnis. Ihr angetane Ungerechtigkeiten konnte sie nur schwer verwinden. Als im Jahre 2011 im BE eine Hanns-Eisler-Revue mit über 30 Mitwirkenden inszeniert wurde, stellte sich die 10 Jahre zuvor aus dem Ensemble gekündigte und in die Revue nicht eimbezogene Schauspielerin nach der Pause vor die Bühne und gab zur Verärgerung des Intendanten eine couragierte Stellungnahme ab.
Nachdem wir uns durch die Tucholsky-Gesellschaft auch persönlich etwas nähergekommen waren, erkundigte sie sich gelegentlich auch nach unserem Befinden. Einige Male trafen wir uns in der ehemaligen Tucholsky-Restauration in der Torstraße. Gisela May hatte dort ihren Stammplatz zwischen der Theke und dem Tucholsky-Stammtisch, und in jüngeren Jahren wagte sie sich noch mit dem Fahrrad in die damals noch Tucholsky-freundliche Stätte, die leider ihr ehemaliges Flair völlig verloren hat. Dort und anderswo befragte sie uns nach unseren Theatervorhaben und den Plänen des Zimmertheaters Karlshorst.
Eine besondere Freude machte mir Gisela May zu meinem nun auch schon wieder einige Jahre zurückliegenden 70. Geburtstag. Da fand ich ein Fax mit folgendem Text vor: „Habe selbst am Urlaubsort Bad Gastein ihren runden Geburtstag nicht vergessen, zudem ich von hier aus herzlich gratuliere.  Gisela May“.
Wir sind traurig, dass uns mit unserem Mitglied Gisela May eine prägende Künstlerpersönlichkeit mit Weltgeltung verlassen hat. Wir sind froh darüber, dass sie so lange unser Vereinsmitglied war und wollen ihre Kunst und ihre Lebenshaltung bewahren.
Sie wird für uns einmalig bleiben.

Wolfgang Helfritsch

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