Liebe Mitglieder und Freunde der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
der neue Rundbrief Dezember 2016 ist erschienen. Sie können ihn hier (ohne Vereinsinterna) als pdf herunterladen.
Ausgewählte Beiträge sind zudem direkt als Einträge im Blog zu lesen:
[Presseschau] Tucholsky im Spiegel
[Pressemitteilung] Marc Reichwein in Jury berufen
[Ausschreibung] Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2017
[Nachruf] Lothar Kusche (1929-2016)
[Nachruf] Gisela May (1924-2016)
[Rezension] Rafael Cardoso: Das Vermächtnis der Seidenraupen
[Rezension] Bernhard Weck: Kurt Tucholsky (1890 -1935) »Schmerz über das Unrecht im Recht«
[Rezension] Distel – Beim Barte des Proleten
[Rezension] Petra Eisele, Annette Ludwig, Isabel Naegele: Futura. Die Schrift
[Originaltext] Theobald Tiger: Der Graben
Schlagwort: Rundbrief Dezember 2016
Der Graben
Mutter, wozu hast du deinen aufgezogen?
Hast dich zwanzig Jahr mit ihm gequält?
Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen,
Und du hast ihm leise was erzählt?Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Mutter, für den Graben.
Junge, kannst du noch an Vater denken?
Vater nahm dich oft auf seinen Arm.
Und er tat dir einen Groschen schenken,
Und er spielte mit dir Räuber und Gendarm.Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Junge, für den Graben.
Drüben die französischen Genossen
Lagen dicht bei Englands Arbeitsmann.
Alle haben sie ihr Blut vergossen,
Und zerschossen ruht heut Mann bei Mann.Alte Leute, Männer, mancher Knabe
In dem einen großen Massengrabe.
Seid nicht stolz auf Orden und Geklunker!
Seid nicht stolz auf Narben und die Zeit!
In die Gräben schickten euch die Junker,
Staatswahn und der Fabrikantenneid.Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben,
Für das Grab, Genossen, für den Graben!
Werft die Fahnen fort! Die Militärkapellen
Spielen auf zu euerm Todestanz.
Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen –
Das ist dann der Dank des Vaterlands.Denkt an Todesröcheln und Gestöhne.
Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne,
Schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben.
Wollt ihr denen nicht die Hände geben –?
Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben
Überm Graben, Leute, überm Graben –!
Theobald Tiger, Neue Berliner Zeitung, 1.8. 1924 in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 6, [T 105], S. 240f.
Es gibt verschiedene Wegmarken, die als Beginn der »Moderne« gelten. Die Futura von Paul Renner ist eine solche. Sie war die Schrift der neuen Gestaltung und der Bauhausbewegung. Im München der späten Zwanzigerjahre wurde sie Zeitzeuge des Grabens, der sich zwischen dem weltoffen-liberalen Zeitgeist des Konstruktivismus und dem erstarkenden Faschismus auftat. Und weil eine Schrift sich nicht aussuchen kann, wer sie nutzt, diente sie beiden Seiten.
In Paris begann sie ihre internationale Karriere unter anderem Namen, im aufstrebenden New York wurde sie die Lieblingsschrift der Werbeagenturen und fand von dort in den Fünfziger- und Sechzigerjahren den Weg zurück in das Land ihrer Erfindung.
Was der Verlag Hermann Schmidt Mainz hier vorgelegt hat, ist nicht nur ein »Geburtstagsgeschenk«, es ist geradezu eine Liebeserklärung an eine der wirkmächtigsten Schriften des 20. Jahrhunderts.
Hochkarätig die Autor_innen des Buches: Isabel Naegele lehrt Typografie und Gestaltungsgrundlagen an der Hochschule Mainz, Petra Eisele Designgeschichte und Designtheorie ebendort und die Kunsthistorikerin Annette Ludwig ist Direktorin des Gutenberg-Museums. Die sorgfältige Gestaltung und die üppige Ausstattung machen dieses Buch zu einem ästhetischen Genuss.
Aber eben nicht nur das: Es gelingt den Autor_innen eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts anhand der Wirkungs- und Verwendungsgeschichte dieser Schrift und ihrer Varianten. Ganz großartig und gerade in der Frühzeit ihrer Geschichte eröffnet sich so ein ganz bemerkenswerter Blick auf Geist und Kultur der Weimarer Republik, aus denen heraus sie ja erschaffen wurde.
Die weite und stete Anwendung der »Futura« eröffnet einen ganz besonderen Blick auf das an Verwerfungen nicht arme vorige Jahrhundert – und zeigt darüber hinaus, dass die Geschichte der »Futura« keineswegs Vergangenheit ist, sondern in die Zukunft weist: Als typographische Inkarnation der Moderne, sozusagen.
Steffen Ille
Petra Eisele, Annette Ludwig, Isabel Naegele: Futura. Die Schrift. Hermann Schmidt Mainz 2016. Fadengehefteter Festeinband mit Folienprägung und silbernem Kopfschnitt. 520 Seiten. 50,- € ISBN 978-3-87439-893-0
P.S. Als Referenz zum 90. Geburtstag wurde die Printausgabe dieses Rundbriefs in einer Futura-Variante gesetzt.
Das hat schon mit Ironie des Zufalls zu tun, und mit Wehmut auch. Ausgerechnet während der Lektüre des 272 Seiten umfassenden, spannenden und sehr informativen Almanachs von Jürgen Klammer drückte mir ein Kabarettfreund aus der Nachbarschaft eine Meldung in die Hände, die er am 16.11. 2016 in der Märkischen Allgemeinen entdeckt hatte: Oderhähne geben ihre letzte Vorstellung. Nach 50 Jahren Berufsleben in »Ost« und »West« packen Lutz Stückrath und Wolfgang Flieder ihre Utensilien zusammen, spielen nochmal Jetzt ist Schluss! und verabschieden sich von ihren Zuschauern.
Damit findet der Untertitel Geschichten aus dem Kabarett-Theater »Distel« in den Zeiten von Walter Ulbricht, Erich Honecker und Helmut Kohl noch einen traurigen Nachschlag.
Stückrath und Flieder: Sind das nicht zwei der wenigen noch nicht verstorbenen oder noch nicht in den Schweigestand abgetauchten Distel-Urgesteine? Sie sind es. Ihrer und der Bühnenlaufbahn der anderen Ex-»Disteln« hatte ich in der Dokumentation gerade nachgespürt, die mir der Autor Jürgen Klammer bei unserer Begegnung während der Jahrestagung 2016 der Tucholsky-Gesellschaft höchstpersönlich in die Hände gedrückt hatte.
Beim Barte des Proleten ist ein rundherum gelungenes Buch. Es ergänzt, illustriert und spezifiziert Oliver Dietrichs Freiräume – das Kabarett in der DDR zwischen MfS und SED[1] am Beispiel der Distel sachkundig und ausgewogen. Es erläutert, wie sich einst Schauspieler und Satiriker wie Heynowski, Brehm, Kusche, Stengel u.a. ein zeitweilig hoffnungsvolles Klima und die Forderung eines ND-Leitartikels, »die Waffe der Satire zu schärfen«, schlitzohrig zunutze machten und den Berliner OB Friedrich Ebert beim Wort nahmen.
Am 4. Oktober 1953, wenige Wochen nach dem 17. Juni, startete das erste politische Kabarett der DDR in einer festen Spielstätte am Bahnhof Friedrichstraße sein erstes Programm »Hurra, Humor ist eingeplant!«
Der damit eingeschlagene Weg war und ist von Höhen, Tiefen und Widersprüchen geprägt, berührt die Lebensleistung und das Schicksal von Autoren und Interpreten und spiegelt ein gutes Stück DDR-Kulturgeschichte wider. Die Schere zwischen dem Lob und der Schelte für Texter und Kabarettisten der Distel bewegte sich zwischen Nationalpreis und Misstrauen. Sie führte in einem Falle auch zu einer Verhaftung, wobei der Nationalpreis wie auch andere staatlich-offizielle Orden in der Gesamtbilanz wesentlich dichter gesät waren als die den Autor Manfred Bartz betreffende zeitweilige Freiheitsberaubung.
Es war Bartz` Schicksal, wie seine scharfzüngige Kollegin Inge Ristock treffend bemerkte, dass er »die Tinte nicht halten konnte«. Andere konnten das zeitweilig besser – aber eine Gratwanderung blieb das Kabarett allemal. Und das nicht nur in der DDR, wie die jüngste Vergangenheit beweist.
Was mir an der flüssigen Dokumentation besonders imponiert, sind nicht nur die zahlreichen Beispieltexte, sondern nicht weniger die Anmerkungen und Einblendungen zu den persönlichen Lebens- und Arbeitsverläufen von Kabarettisten, Regisseuren und Karikaturisten sowie die Wertschätzungen aller weiteren Programmbeteiligten. Nicht weniger berührten mich die Exkurse zu anderen Kabaretts wie zur Dresdener Herkuleskeule und zur Leipziger Pfeffermühle, zumal einige Kabarett-Ikonen wie Edgar Külow, Helga Hahnemann oder Gisela Oechelhäuser nicht nur den Weg, sondern mitunter eher den Umweg nach Berlin über andere Institutionen genommen hatten.
Dabei offenbart der Autor nicht nur umfangreiche, bis in Einzelheiten gehende Sachkenntnisse, sondern ein hohes Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen. Seine Darstellung des stachligen Distel-Weges vom häufig kritisierten, aber subventionierten Partei- und Staatskabarett und nach 1989 zur privatrechtlichen GmbH bei personeller Reduzierung um rund 50 {ba5249323a5ad00c05529abc4bd04f1981aa9314e15f6cc666f9b62072a92d67} beschränkt sich zwar auf das Metier, von dem hier die Rede ist; der kundige Zeitzeuge weiß aber, dass ihm die Satire vergehen kann, wenn er über den kabarettistischen Tellerrand hinausschaut.
Eine Fülle von sorgsam und sensibel ausgewählten Fotos und Dokumenten bereichert die Kabarett-Geschichte der Distel plastisch und zusätzlich.
Die besondere Brisanz des letzten DDR-Programms »Keine Mündigkeit vorschützen« im Spielball der inneren Zerrissenheit zwischen Gestaltern und offiziellen Besserwissern, zwischen Zensur und Selbstzensur unterscheidet sich deutlich von den besonderen Umständen der ersten Nachwende-Aufführung »Mit dem Kopf durch die Wende«. Entscheidend für die Zukunft und den weiteren Bestand der Distel als Institution waren beide.
Mit Genugtuung ist auch der Versuch des Autors abzunicken, das Zueinanderfinden von Kritikastern aus Ost und West am Beispiel darzustellen. Wir könnten das aus eigenem Erleben als Gastspieler im Kabarett Kanapee Hannover 1990, als DDR-Teilnehmer beim »Kabarett-Tag zur Deutschen Einheit« 1991 in Erlangen und durch die Mitwirkung in der Reihe »Tucholskys Erben« im Berliner Kabinett Anfang des 3. kabarettistischen Jahrtausends gut ergänzen.
Übrigens: Ein besseres Vorwort zur Dokumentation als das von dem inzwischen leider auch verstorbenen Volker Kühn hätte man dem Bart des Proleten kaum wünschen können.
Jürgen Klammer hat – das sei mit Freude hervorgehoben – einen wichtigen Beitrag zur deutschen Kabarett-Geschichte und für den Fundus des Kabarett-Archivs in Mainz und Bernburg geleistet.
Beim Barte des Propheten: Weder der Insider noch der Interessierte sollten die neugierige Lektüre dieses wunderbaren Buches versäumen.
Wolfgang Helfritsch
Jürgen Klammer: Beim Barte des Proleten. Geschichten aus dem Kabarett-Theater Distel in den Zeiten von Walter Ulbricht, Erich Honecker und Helmut Kohl. Selbstironieverlag Leipzig 2013. 272 Seiten, über 500 Abb., 100 Künstler- Porträts. Broschiert. Das Buch ist erhältlich beim Selbst-Ironie-Verlag.
[1]Dieser Band wurde im Rundbrief April 2016 besprochen
»Schmerz über das Unrecht im Recht« heißt ein Beitrag von Bernhard Weck in dem gerade im Nomos Verlag erschienenen Sammelband STREITBARE JURISTiNNEN. Eine andere Tradition, Band 2, herausgegeben von der Redaktion der Vierteljahresschrift Kritische Justiz.
Zunächst drei Vorbemerkungen:
- Die Vierteljahresschrift Kritische Justiz erschien erstmals im Jahre 1968. Ihr Selbstverständnis ist bis heute unverändert:
Sie will das Recht und seine praktische Anwendung vor seinem gesellschaftlichen Hintergrund analysieren. Sie durchbricht die übliche, von ihrem ökonomischen und politischen Kontext losgelöste Behandlung von Rechtsfragen und arbeitet die hinter den juristischen Denkfiguren stehenden konkreten sozialen Interessen heraus, um das Recht in praktischer Arbeit durchschaubar zu machen. Die Kritische Justiz knüpft an die in Deutschland 1933 gewaltsam abgebrochene Tradition kritischer Rechtswissenschaft an, wie vor allem durch die Namen Karl Korsch, Otto Kirchheimer, Franz Neumann und Ernst Fraenkel repräsentiert wird.
(So ein »Werbetext« aus dem Jahre 1988 in dem 1. Band Streitbare Juristen)
- 1988 gab die Redaktion der Kritischen Justiz den (ersten) Sammelband STREITBARE JURISTEN. Eine andere Tradition heraus. Versammelte dieser Band Porträts über
aufrechte, streitbare Juristen und Juristinnen aus dem 19. und 20. Jahrhundert (…) teils bekannte, teils unbekannte Repräsentanten einer in Deutschland meist unterdrückten, schließlich buchstäblich vernichteten Rechtskultur (Band 1, S. 11), liegt der Schwerpunkt des nun erschienen 2. Bandes stärker auf JuristInnen, die nach 1945 aktiv an gesellschafts-politischen Debatten teilgenommen haben, insbesondere an Kontroversen seit »1968«, die zu Kristallisationspunkten der Rechtspolitik wurden und zugleich einen Bezug zur Kritischen Justiz aufweisen. (…) An die Tradition von Herrschafts- und Rechtskritik schließt Band 2 an. Er ergänzt in historischer Perspektive einige Lücken und setzt neue Akzente mit Porträts von JuristInnen, die für ein demokratisches, inklusives und responsives Rechts- bzw. Verfassungsverständnis eingetreten sind, wie etwa Alfred Apfel, Otto Bauer, Eugen Ehrlich, Franz Kafka und Kurt Tucholsky. (Band 2, S. 11)
Mit Franz Kafka ist ein zweiter Schriftsteller in den 2. Band aufgenommen worden. Dazu für Mitglieder unserer Gesellschaft mindestens noch zwei weitere interessante Artikel.
Jan Gehlsen porträtiert unter dem Titel Verteidigung im Gerichtssaal und in der Weltbühne (S. 29ff), den jüdischen Rechtsanwalt und Strafverteidiger Alfred Apfel (1882-1941), der im französischen Exil einem Herzanfall erlag. Desweiteren ein langes Interview, welches meine beiden (jüngeren) Berliner Verteidiger- bzw. Rechtsanwaltskollegen Hannes Honnecker und Wolfgang Kaleck mit unserem (älterem) Mitglied Heinrich Hannover sowie den beiden bekannten Strafverteidigern Hans-Christian Ströbele aus Berlin und Ruppert von Plotniz aus Frankfurt unter dem Titel Die RAF-Prozesse – ein Gespräch in drei Teilen (S. 557ff.) geführt haben.
- Der Autor des Porträts von Kurt Tucholsky, Dr. Bernhard Weck, ist als profunder Kenner von Tucholskys justizkritischen Publikationen weithin bekannt. Sein aus Anlass des 100. Geburtstages von Tucholsky am 9. Januar 1990 in der Universität Bayreuth gehaltener Vortrag Wider den »Dreimännerskat der Justitia.« Bemerkungen zur Justizkritik Kurt Tucholskys wurde im Tagungsband unserer Jahrestagung im Oktober 1997 veröffentlicht[1]. Dr. Weck, Jahrgang 1955, ist Dozent an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege inHof (Bayern).
Die Überschrift seines Beitrages Schmerz über das Unrecht im Recht hat Weck einem Artikel von Peter Panter in der Vossischen Zeitung vom 29. Juni 1930 entnommen: Kabarett zum Hakenkreuz[2].
In insgesamt elf Kapiteln zeichnet Weck Tucholskys Justizkritik nach. Nach Bemerkungen zur Juristischen Ausbildung, Tucholskys Literarische Justizpublizistik und Frühe Justizkritik beschreibt Weck im 8. Kapitel unter der Überschrift Umbruch der Haltung zur Justiz die ab Mitte 1919 einsetzende radikale Einstellungsänderung insbesondere zur Strafgerichtsbarkeit wie folgt:
Sein Zutrauen in deren Redlichkeit war unter dem Eindruck der Strafprozesse zur Ahndung politisch motivierter Schwerverbrechen in der Frühphase der Weimarer Republik tief erschüttert worden. Als Pressebeobachter zahlreicher Verhandlungen vor Militärtibunalen, zivilen Sondergerichten und der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit erlebte er, dass Taten, die Militärangehörige und politisch rechts stehende Täter an linken Radikalen wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, republikanischen Politikern wie Erzberger, Scheidemann und Rathenau, anderen politischen Gegnern und unpolitischen Opfern begangen hatten, vertuscht, heruntergespielt, vaterländisch glorifiziert und unangemessen milde bestraft wurden. (S. 524)
In weiteren Kapiteln wie Kritik an politischer Rechtsprechung angeblich unpolitischer Richter, Der Strafpozess wegen Tucholskys Satz „Soldaten sind Mörder endet Weck mit dem Kapitel Tucholskys Blicke in die düstere nahe und lichtere ferne Zukunft, dessen letzter Satz lautet: »Diesem Credo folgte auch sein Wirken als streitbarer Jurist.« (S. 536)
Weck nimmt damit Bezug auf Ignaz Wrobels Artikel in der Weltbühne vom 28. Oktober 1930 Blick in ferne Zukunft, in dem es unter anderem heißt:
Herschaften, es gibt ja auch einen Organismus, Mensch geheißen, und auf den kommt es an. Ob der glücklich ist, das ist die Frage: Daß der frei ist, das ist das Ziel. Gruppen sind etwas Sekundäres. Es kommt nicht darauf an, dass der Staat lebe – es kommt darauf an, daß der Mensch lebe.[3]
Vielleicht bietet sich der für die Jahrestagung 2018 ins Auge gefasste Ort Leipzig, dem Sitz des früheren Reichsgerichts und des heutigen Bundesverwaltungsgerichts sowie dem sogenannten Steuerstrafsenat des BGH, an, sich erneut mit Tucholskys Justizkritik zu beschäftigen – vielleicht mit Dr. Bernhard Weck als versierten Referenten.
Bernd Brüntrup
Redaktion Kritische Justiz (Hrsg): KRITISCHE JURISTiNNEN. Eine andere Tradition. Nomos Verlag Baden-Baden 2016. 678 Seiten, kartoniert. 38,- €. ISBN 978-3-8487-0003-5. Unter der ISBN 978-3-8487-3238-8 sind Band 1 und 2 zusammen als Paket für 58 € erhältlich.
[1]Hepp, Michael (Hrsg.) im Auftrag der Kurt Tucholsky-Gesellschaft: KURT TUCHOLSKY UND DIE JUSTIZ, Dokumentation der Tagung der Kurt Tucholsky Gesellschaft vom 23.-26.Oktober 1997 in Berlin, Oldenburg 1998, S. 137ff. ISBN 978-3-8142-0636-3
[2]Kurt Tucholsky-GA Band 13, 269ff. (271). ISBN 978-3-498-06542-3
[3]Kurt Tucholsky-GA, Band 13, S. 433. ISBN 978-3-498-06542-3
Nachzutragen ist zunächst aus einer kleinen, bereits 2015 im Selbstverlag von dem Mindener Autor, Kommunikationsdesigner, Werbetexter und Theatermacher Guido Meyer, Jahrgang 1964, herausgegebenen Sammlung Seitenweise Weise Seiten. Ein Denkzettel aus dem Alltagsheim, 96 Seiten, gefüllt von der »ungebändigten Lust am Wort«; folgendes Gedicht (S. 19):
Neues aus Blöd am Rhein
Kästner, Erhard, Ringelnatz,
Tucholsky, Roth und Morgenstern,
schreiben sich `nen Kringelsatz
auf ihren Allerwertestern.
Fulminanz und Kohärenz,
Konsequenz und Trallala,
Heine, Rilke, Fallada.
Renitenz und Ignoranz,
glockenrein und silberhell,
Exzellenz und Ordonanz,
Goethes Faust auf Schillers Tell.
Rückzugswelt und Wunderorte
im Wiederbad der Wechselworte.
Dass insbesondere in Minden kaum eine literarische Veranstaltung, aus welchem Anlass auch immer, ohne Tucholsky auskommt, berichtet uns zuverlässig das inzwischen allseits bekannte, weil häufig benannte, Mindener Tageblatt.
In der Ausgabe vom 9. Juli 2016 heißt es über eine Wasser-Spezial-Lesung des Duos »Vorleserin und Er« vom Theater am Eck, gemeint sind Annette Ziebecker und Detlev Schmidt, auf der historischen Schiffmühle unter anderem:
Mit »Das Ideal« von Kurt Tucholsky begann die Lesereise und das Publikum musste gleich lernen, dass jedes Glück einen kleinen Stich hat. (S. 11)
Über eine Lesung des im Mindener Land bekannten Autors, Komponisten und Rezitators Frank Suchland berichtet die gleiche Zeitung wie folgt:
Liebe und Leben mit einem Schuss Humor
(…)Doch auch das Thema Liebe durfte an einem literarischen Abend natürlich nicht fehlen und deswegen stellte Frank Suchland abschließend noch einige thematisch passende Gedichte von Kurt Tucholsky, Joachim Ringelnatz und anderen Autoren vor, die für viel Heiterkeit und manch einen nachdenklichen Moment sorgten und den literarischen Abend für das sehr zufriedene Publikum perfekt beendeten. (MT v. 3. August 2016, S. 4)
Unser Ehrenmitglied Wolfgang Helfritsch produziert seit langem fast zweiwöchentlich Zuschrift(en) an die Lokalpresse, jeweils abgedruckt auf der letzen Seite des roten Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft. In der Ausgabe 16/2016 vom 13. August 2016, S. 596, ist ein Leserbrief von Baldur Deutschländer (46), Praktikant, 09548 Deutsch-Einsiedel abgedruckt, in dem ihn Helfritsch u.a. folgendes schreiben lässt:
In der Ostthüringer Zeitung vom vorletzten Juli-Wochenende wurde darüber berichtet, dass sich die Eiche, »der deutscheste aller Bäume«, vom Eichen-Prozessionsspinner weitgehend erholt hat. (…) Und dass der Rhein der »deutscheste aller Flüsse« ist, wurde schon von unseren Altvorderen hervorgehoben (…). Jetzt frage ich mich aber, ob man die offensichtlich deutscheste aller Würdigungen auch auf andere Bereiche übertragen kann, zum Beispiel auf Lebensmittel. Seinerzeit hatte ja bereits Tucholsky seine deutschen Landsleute dazu aufgefordert, nur deutsche Zitronen zu kaufen (…).
Die tageszeitung widmet in ihrer Wochenendausgabe vom 20./21. August 2016 unserem Gründungsmitglied Beate Schmeichel-Falkenberg zu ihrem 90. Geburtstag eine ganze Seite.
Zeit vergeht, das Herz vergisst ist das Interview mit Waltraud Schwab überschrieben, zu dem Gabriele Mittag eine fast halbseitige Farbaufnahme beigesteuert hat, die die Jubilarin in ihrer riesigen Bibliothek zeigt und passend untertitelt ist: In den Bücherregalen: die Literatur des letzten Jahrhunderts. Tucholsky wird in verschiedenen Passagen erwähnt:
(…) Drin: eine Wohnung voller Bücher. Dazu Grafiken und Drucke – viele hat ihr vor zwei Jahren verstorbener Mann gezeichnet. Beate Schmeichel-Falkenberg ist Fan all jener Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die keine Jasager sind. Lange fand sie, Philipp Roth sei der Größte. Das sei dann aber abgeebbt. »Else Lasker-Schüler dagegen hat meine Dauerverehrung.« Von Tucholsky hat sie auch so gut wie jede Zeile gelesen. (…)
Die Überwindung der Krise: Schmeichel-Falkenberg war ungefähr 50, als die Depression kam, der Burn-out. Sie wurde frühberentet und fand zurück zur Literatur. Tucholsky, Else Lasker-Schüler – die Gesellschaft für beide gründet sie mit und später auch die Organisation »Frauen im Exil«. (…)
Tucholsky: Sie sagt, er konnte die Dummheit der Nazis nicht aufhalten, aber demaskieren. Sie sagt, wir bräuchten viele Tucholskys heute, denn die Dummheit, nein: Verdummung ist wieder groß und auch die Nazis sind zahlreich.
Patrick Spät beschäftigt sich in der Zeit vom 26. Oktober 2016 unter der Überschrift Was ist das für 1 Job? mit der Sinnhaftigkeit von Beschäftigungen und formuliert im Untertitel: Oft müssen wir nur der Arbeit wegen arbeiten – und verplempern Lebenszeit. Trotzdem wagt es kaum jemand, sinnentleerte Bullshitjobs zu kritisieren. Neben Henry David Thoreau bezieht sich der Autor auch auf Kurt Tucholsky:
Es gibt, schrieb Tucholsky bereits 1931, eine »Überbelastung des gesamten Industrie durch ein geradezu formidables Schreibwerk, das hinter dem Leerlauf der Staatsbürokratie um nichts zurücksteht. Was da an Pressechefs, Syndicis, Abteilungsleitern, Bürofritzen herumsitzt und Papierbogen voll schreibt, ohne auch nur das leiseste zu produzieren, das belastet uns alle. Aufgeblasen der Verwaltungsapparat.« Die Statistik gibt Tucholsky heute noch recht: Jeder dritte Lohnarbeiter hierzulande hält seinen Job für sinnlos.
Miriam Meckel, Chefredakteurin der Wirtschaftswoche, wird in turi2 edition3 von dem Interviewer Peter Turi am 30. Oktober 2016 gleich zu Beginn des Gesprächs mit einer Aussage von Kurt Tucholsky konfrontiert:
Miriam Meckel, Sie kennen wahrscheinlich das Zitat von Kurt Tucholsky: »Was die Lage der Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.« Wer erklärt uns diese Verflochtenheit?
Kurt Tucholsky hat recht: Die Welt ist verflochten, die Globalisierung lässt sich nicht zurückdrehen. Ich glaube, niemand erklärt uns die Verflochtenheit ganz, weil sie so kompliziert, so komplex ist, dass man sie gar im Ganzen erklären kann. Aber viele versuchen es: Die Wissenschaft versucht es, die Ökonomen versuchen es und wir als Wirtschaftswoche natürlich auch.
In einer Sendung des Deutschlandradio vom 7. November 2016 zum 150. Geburtstag von Paul Lincke – Vater der Berliner Operette ist Albrecht Dümling, in früheren Jahren schon Referent bei einer Jahrestagung und einer Tucholsky-Geburtstagsveranstaltung in Minden, wie folgt zu hören:
Von Kurt Tucholsky verspottet
Doch Linckes Geschäftssinn rief auch Spott hervor. So schrieb Kurt Tucholsky 1914 im sozialdemokratischen Vorwärts:
»Und auch die Tonkunst ist allhier
da hinten trommelt am Klavier
für viele Pinke-Pinke
Paul Lincke.«
Ebenfalls am 7. November 2016 berichtete Lena Schneider in Potsdamer Neueste Nachrichten unter der Überschrift Rotzflecke auf barocker Architektur über eine Diskussionsveranstaltung zum Thema »Stadt der Zukunft: Land in Sicht« in der Potsdamer Reithalle.
Und bei diesem Gegensatzpaar für Tucholskykenner*innen nicht überraschend, begann sie ihren Bericht mit einer Bezugnahme auf Tucholsky:
Kurt Tucholsky, der urbane Experte für Träume und das Platzen derselben, wusste schon 1927, wie die Dinge stehen. »Ja, das möchste«, heißt es in seinem Gedicht »Das Ideal«:
»Vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße`.« Wäre das nicht herrlich, so ein unmittelbares Nebeneinander von Land und Stadt, die Vorteile der beiden Lebensweisen nur ein paar Schritte auseinander? Ja, das wäre es. Aber, auch das wusste Tucholsky schon: »Immer fehlt dir irgendein Stück.«
In der Ausgabe vom 9. November 2016 findet sich im Hamburger Abendblatt unter der Überschrift Von Kronen, Manuskripten und anderen Geschenken ein Bericht über die Ausstellung Die Gabe/The Gift im Literaturmuseum in Marbach.
Marbach am Neckar. Der Weg, auf dem ein silbernes Krönchen ins Deutsche Literaturarchiv Marbach gelangte, beginnt mit einem Rätsel. Schriftsteller Ernst Toller, dem ein Hang zu schönen Frauen nachgesagt wird, schenkte das kleine Schmuckstück Mary Tucholsky, Frau des bekannten Autors Kurt Tucholsky.
Ob die beiden Liebe, Verehrung oder Freundschaft verband, ist ungewiss. Fest steht: Sie verschloss es sorgsam in einem Kuvert und gab es mit dem Nachlass Tucholskys nach Marbach. Dieses »Geschenk« schmückt das Plakat zur neuen Wechselausstellung »Die Gabe/The Gift«, die im Literaturmuseum der Moderne zu sehen ist.
(Anmerkung: Die Ausstellung ist seit dem 10. November 2016 bis zum 12. März 2017 zu sehen)
Am 9. November 2016 verstarb der Schauspieler Herbert Kromann im Alter von 86 Jahren nach langer, schwerer Krankheit in Fürstenfeldbruck. Florian J. Haaman würdigt in einem Nachruf, Süddeutsche Zeitung vom 14. November 2016, das Lebenswerk des Verstorbenen:
Herbert Kromann, Schauspieler und Dramaturg, war vor allem ein begnadeter Rezitator. In Weimar waren seine Vortragskünste genauso gefragt, wie in Rom und Paris. Vor 20 Jahren hatte es den gebürtigen Düsseldorfer nach Fürstenfeldbruck verschlagen. Schnell haben sich seine Vorträge im Haus 10 und dem Museum zum Publikumsmagneten entwickelt: Wenn Kromann Heine, Tucholsky, Kraus, Brecht, Kästner oder Goethe las, da wollte man einfach dabei sein.
Mein Dank gilt diesmal Steffen Ille aus Leipzig für viele »sachdienliche« Hinweise. Sämtliche Artikel sind wie immer über die Geschäftstelle abrufbar.
Bernd Brüntrup
Die May – wirklich einmalig
„Bin ich einmalig, wirklich einmalig?“, sang die umwerfende Gisela May, als sie als Dolly die Freitreppe auf der Metropol-Bühne hinaufschwebte. Sie war einmalig, und sie wird es bleiben.
Die Nachricht vom Tode Gisela Mays hat uns erschüttert. Überrascht hat sie uns nicht. Hatten wir – Marlis und Wolfgang Helfritsch – ihr doch an ihrem 92. Geburtstag herzliche Grüße und gute Wünsche ihrer Kurt-Tucholsky-Gesellschaft überbracht und sie im Pflegeheim in Berlin-Baumschulen-weg in einem sehr bescheidenen Kreis von Freunden und Verehrern angetroffen. Man konnte ihre Gäste an zwei Händen aufzählen: ein alter Freund und Kollege vom BE, ihre ehemalige Chansonschülerin Johanna Arndt, ihr Pianist und musikalischer Begleiter der Workshops in der Akademie der Künste Klaus Schäfer, ihre Pflegerin und wir als ihre Bewunderer und selbsternannten Abgesandten des Vereins, dem sie lange Jahre angehörte. Sie freute sich über den Besuch, obwohl es ihr schwerfiel, allen Gesprächen zu folgen. Als wir angeregt hatten, mit ihr gemeinsam die Lieder zu singen, die der Welt vielleicht erst durch ihre Interpretation bekannt geworden waren, blitzte es in ihren Augen auf – sie erinnerte sich offensichtlich und summte mit. Die diesjährige Situation unterschied sich wesentlich von ihrem 80. Geburtstag im vollbesetzten BE, in dem sie ihren Gästen ein zweistündiges Kurt-Weill-Konzert präsentiert hatte, und vom 10 Jahre später nicht weniger frequentierten Meeting im Filmtheater Babylon,wo Dr. Schebera die Veranstaltung moderierte, Künstler unterschiedlicher Genres auf spezifische Art gratulierten und die Jubilarin blitzgescheit und manchmal nicht unkritisch auf gute Wünsche reagiert hatte.
Gisela May war eine begnadete Schauspielerin, die das tragische Fach ebenso beherrschte wie das komische. Von Hanns Eisler einst persönlich zum Chanson-Gesang ermutigt, wurde sie zur wohl weltweit authentischsten Brecht- und Tucholsky-Interpretin, widmete sie sich als Diseuse Hollaender, Kästner und Brel, bereicherte in „Cabaret“ und „Hallo, Dolly“ das Musical, moderierte mit der „Pfundgrube“ zu DDR-Zeiten eine eigene TV-Sendereihe , verkörperte Brechts „Mutter Courage“ und Hauptmanns „Mutter Wolffen“ , tändelte als leichte Dame in Heinar Kipphardts „Shakespeare dringend gesucht“ über die Bühne, gastspielte nach ihrer unglücklichen Verabschiedung aus dem BE noch im Renaissance-Theater, im „Theater des Westens“ und in der „Bar jeder Vernunft“, gab in ihren folgenden freischaffenden Zeiten noch jahrelang Kurt-Weill-Abende, brillierte als „Muddi“ an der Seite Evelyn Hamanns in einer komödiantischen Kriminalserie undundund. Das alles und noch viel mehr wird in den Nachrufen der Presse und in den televisionären Nachklängen gebührend hervorgehoben. „Die May“ reiste nach New York und Paris, gastierte in Mailand und Venedig und schreckte vor weniger attraktiven Auftrittsorten in Deutschland und Europa nicht zurück, wenn dort nur die Chance bestand, Menschen mit ihrem humanistischen Anliegen zu erreichen.
Kaum Erwähnung fand in den Nachrufen, dass Gisela May vor der UNO-Vollversammlung Brecht/ Eislers „Friedenslied“ gesungen und als „Botschafterin des Chansons“ gewirkt hatte. Es sei deshalb hier nachgetragen.
Gisela May verstand sich als DDR-Künstlerin und war „sozialistischer Weltstar mit Krawatte“ („Die Welt“). Sie biederte sich ihrem Staat jedoch nicht an, scheute sich weder vor noch nach 1989 vor Fragestellungen und hielt auch zu ihrem systemkritischen Lebenspartner Wolfgang Harich, als er wegen „philosophischer Abweichungen“ zeitweise von der Öffentlichkeit ausgesperrt worden war. Sich zu verbiegen oder sich verbiegen zu lassen, blieb ihr das ganze Leben lang fremd.
Allein die Liste der Auszeichnungen, die der May verliehen wurden, würde den Umfang des Beitrags sprengen. Sie reichen in vom DDR-Nationalpreis, dem Vaterländischen Verdienstorden der DDR und dem „Stern der Völkerfreundschaft“ über das Bundesverdienstkreuz und den Verdienstorden des Landes Berlin bis zum „Deutschen Schallplattenpreis“, dem „Stern der Satire“ und dem „Kleinkunstpreis des Chansons“. Diese und weitere Ehrungen dürfen nicht vergessen machen, dass Gisela May auch als Ehrenmitglied unserer Gesellschaft geehrt wurde. Wie hoch sie diese Auszeichnung schätzte, beweist ihr als Danksagung dargebrachtes Tucholsky-Programm im Berlin-Saal der Zentral- und Landesbibliothek, dem damaligen Konferenzraum der Tagung „Tucholsky und das Kabarett“.
Es sei mir gestattet, unsere persönlichen Eindrücke von und die Begegnungen mit Gisela May unserer Trauer und unserem Beileid hinzuzufügen.
Als jungem Lehrer ausgangs der 50er/anfangs der 60er Jahre war sie für mich eine unerreichbare Ikone. Ich bewunderte die Schauspielerin, die auf damaligen Plakaten neuerdings auch als Brecht- und Tucholsky-Diseuse angekündigt wurde, verwendete ihre Platten im Unterricht und verehrte sie später als die Courage und die Kelch-Wirtin Kopecka in „Schwejk im II. Weltkrieg“. Dass sie sich mit „Es wechseln die Zeiten“ aus dem Chanson „Am Grunde der Moldau wandern die Steine“ so identifizierte, dass sie den Liedtext auch als Titel ihrer Biographie wählte, hing nicht nur mit ihrem musikalischen Gespür für Smetana zusammen. Es hatte wohl eher mit jener Wertschätzung zu tun, die Paul Dessau so formulierte: „Die May singt nicht schön, sie singt richtig“.
Als späterer Vorständler und Vorsitzender der Tucholsky-Gesellschaft hatte ich nicht nur die Pflicht, sondern auch die Freude der arbeitsbedingten Zusammenarbeit mit Gisela May als Vereinsmitglied. Sie teilte gern ihre Erfahrungen mit und machte Vorschläge. Soweit das ihre Gesundheit und ihr Terminplan zuließen, nahm sie an unseren Konferenzen teil, quälte sich die hohen Treppenstufen im Tagungsgebäude in der Breiten Straße hinauf und ergriff auch mal innerhalb eines Vortrages das Wort, wenn sie mit einer Position des Referenten nicht einverstanden war. Als Laudatorin für den Tucholsky-Preisträger Lothar Kusche verlängerte sie das Verfahren, weil ihr nach ihrer Lobesrede immer noch etwas Bemerkenswertes einfiel, und das musste sie vom Bühnenpodest aus loswerden. Nun hatte das DT jedoch eine für den „Sommernachtstraum“ kaum nachvollziehbare, aber sehr steile Dekoration geschaffen, die wegen unseres ehrenwerten Zeremoniells nicht ab- und aufgebaut werden konnte und den Zugang zur Bühne nur mit tatkräftiger Hilfestellung ermöglichte. Solche nahm sie im Interesse des Preisträgers gern in Anspruch, nachdem sie die Dekoration nochmals lautstark kritisiert hatte.
Bei anderen Preisübergaben wirkte Gisela May in den von Volker Kühn zusammengestellten und in Regie genommenen kulturellen Rahmenveranstaltungen künstlerisch mit. Wir erinnern uns gern daran.
Gisela May war eine Frau, die von jedem angesprochen werden konnte und gern half. Das können Tagungsteilnehmer bezeugen, die nach der Konferenz „Tucholsky und die Justiz“ einen schnellen Ortswechsel von Potsdam nach Berlin vollziehen mussten und – mit der Diseuse am Steuer – mit ihrem Auto flugs in die Hauptstadt befördert wurden. Eine solche Fahrgemeinschaft wurde auch einem meiner Ex-Schwiegersöhne zuteil, der in seiner Dresdener Studienzeit am Wochenende möglichst ohne Fahrtkosten nach Berlin wechseln wollte. Auf seine bittenden Handzeichen in der Großenhainer Straße reagierte keine Geringere als unser Ehrenmitglied. Meinem ehemaligen Verwandten ging erst während der Fahrt auf, wer ihn da aufgelesen hatte.
Gisela May war eine starke Frau. Als ihr Augenlicht nachließ und sie nicht mehr aus ihren Büchern vorlesen konnte, half sie sich bei ihren biographischen Vorträgen wie folgt: Nachdem sie vom Gastgeber – im dargelegten Falle handelte es sich um den Sänger Thomas Quasthoff im Berliner Konzerthaus – begrüßt worden war (die Vorstellung konnte er sich bei ihrem Popularitätsgrad ersparen), begann Gisela May mit der Lesung. Sie las aber nicht, sondern zitierte auswendig aus einem ihrer Bücher, blickte dann auf und fragte ins Publikum: „Aber was mach` ich denn da! Soll ich weiter vorlesen? Fragen Sie mich doch lieber!“ Das Publikum fragte, und der Abend war gelaufen.
Manchmal garnierte sie die Veranstaltung noch mit einem oder zwei Chansons – das kam auf ihren Gesundheitszustand und ihre Tagesform an. Falls die Zeichen günstig standen, eilte der in Bereitschaft sitzende Pianist zum Klavier, und die Diseuse war in ihrem Element.
Gisela May hatte ein gutes Gedächtnis. Ihr angetane Ungerechtigkeiten konnte sie nur schwer verwinden. Als im Jahre 2011 im BE eine Hanns-Eisler-Revue mit über 30 Mitwirkenden inszeniert wurde, stellte sich die 10 Jahre zuvor aus dem Ensemble gekündigte und in die Revue nicht eimbezogene Schauspielerin nach der Pause vor die Bühne und gab zur Verärgerung des Intendanten eine couragierte Stellungnahme ab.
Nachdem wir uns durch die Tucholsky-Gesellschaft auch persönlich etwas nähergekommen waren, erkundigte sie sich gelegentlich auch nach unserem Befinden. Einige Male trafen wir uns in der ehemaligen Tucholsky-Restauration in der Torstraße. Gisela May hatte dort ihren Stammplatz zwischen der Theke und dem Tucholsky-Stammtisch, und in jüngeren Jahren wagte sie sich noch mit dem Fahrrad in die damals noch Tucholsky-freundliche Stätte, die leider ihr ehemaliges Flair völlig verloren hat. Dort und anderswo befragte sie uns nach unseren Theatervorhaben und den Plänen des Zimmertheaters Karlshorst.
Eine besondere Freude machte mir Gisela May zu meinem nun auch schon wieder einige Jahre zurückliegenden 70. Geburtstag. Da fand ich ein Fax mit folgendem Text vor: „Habe selbst am Urlaubsort Bad Gastein ihren runden Geburtstag nicht vergessen, zudem ich von hier aus herzlich gratuliere. Gisela May“.
Wir sind traurig, dass uns mit unserem Mitglied Gisela May eine prägende Künstlerpersönlichkeit mit Weltgeltung verlassen hat. Wir sind froh darüber, dass sie so lange unser Vereinsmitglied war und wollen ihre Kunst und ihre Lebenshaltung bewahren.
Sie wird für uns einmalig bleiben.
Wolfgang Helfritsch
Der Urenkel des Bankiers Hugo Simon stellt seinen Roman über dessen Schicksal im Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheinsberg vor.
Dr. Peter Böthig, Leiter des Kurt Tucholsky Literaturmuseums, ist stolz: In Rheinsberg fand am 13. Oktober 2016 die Premiere eines schwergewichtigen Buches statt: Auf 536 Seiten erfährt die Nachwelt vom Schicksal des zu seiner Zeit durchaus berühmten und nun vergessenenen Bankiers, Politikers und Kunstmäzen Hugo Simon.
Und der Ort hat seine Berechtigung: Auch wenn Tucholsky auf den Seiten des Romans nicht persönlich, sondern nur als Zitatengeber erscheint, es ist auch ein Teil seines Schicksals, das da verhandelt wird. Hugo Simon hatte Tucholsky 1923, mitten in der Inflation, als Privatsekretär in sein Bankhaus eingestellt (und mit Goldmark bezahlt).
Dass Tucholsky die Stelle sofort wieder aufgab, als die Währung wieder stabil wurde, hat er ihm auch nicht nachgetragen: Hugo Simon war ein bedeutender Kunstmäzen und dazu noch Pazifist und Demokrat. Nach der Novemberrevolution 1918 war er als Mitglied der USPD kurzzeitig Finanzminister im preußischen Rat der Volksbeauftragten, danach zog er sich aus dem offiziellen politischen Leben zurück. Erst im Exil in Paris war er wieder aktiv, unterstützte die Exil-Zeitung „Pariser Tageblatt“, bzw. „Pariser Tageszeitung“ finanziell und organisatorisch, war im „Bund Neues Deutschland“ zusammen mit Heinrich und Thomas Mann und war aktiv für das Flüchtlingskomitee Baron de Rothschilds, das Flüchtlinge aus Deutschland unterstützte.
Von den Faschisten vertrieben, ausgebürgert und auch im Ausland noch verfolgt, konnte er nur unter falschem Namen mit angenommener Identität und tschechischem Pass 1941 aus Frankreich entkommen. Zwar wollte er in die USA, wo auch Albert Einstein und Thomas Mann für ihn bürgten, aber er erreichte nur Brasilien.
Dort ließ Diktator Vargas bis zum Kriegseintritt Brasiliens die deutschen Faschisten wohlwollend gewähren, lieferte auch Olga Benario-Prestes an sie aus, obwohl sie mit dem Kind eines Brasilianers schwanger war. Hugo Simon sollte ausgewiesen werden, konnte sich dem aber dadurch entziehen, dass er sich im Landesinnern ansiedelte. Als Seidenraupenzüchter verdiente er seinen Lebensunterhalt bis zu seinem Tod 1950. Seine Bemühungen um Rückgabe seiner Kunstschätze und Güter, und vor allem seiner Identität, waren bis zu seinem Tod nicht erfolgreich. Das lag an der Bürokratie Brasiliens ebenso wie an der Nachkriegssituation in Deutschland.
Dieses bewegte Schicksal wird im Roman in einer Art Innenansicht erzählt. Die vielen Fakten und Namen (dankenswerterweise gibt es ein ausführliches Namensregister im Anhang) sind so psychologisch differenziert eingebettet in den Strom von Empfindungen, Gedanken und Geschehnissen, dass es sich anfühlt, als sei es das eigene Leben. Wie es in einem Menschen aussieht, der alles hinter sich lassen muss, um das nackte Leben zu retten, sogar seine Identität, seine Sprache, seine Familienbeziehungen verleugnen muss, das ist hier packend und in wundervoller Sprache geschrieben.
Rafael Cardoso, der Urenkel, ist Brasilianer, seine Sprache und seine Denkweise ist das Portugiesische, und das lässt die vortreffliche Übersetzung in einer Weise spüren, die die deutsche Sprache schöner, flüssiger, ornamentreicher erscheinen lässt. Dem Übersetzer Luis Ruby ist da etwas ganz besonderes gelungen!
Bei der Vorstellung des Buches las Frank Matthus, Regisseur und künstlerischer Leiter der Kammeroper Rheinsberg, zwei Kapitel mit klangschöner Stimme und ließ den Zauber dieses Romans auf die Hörer wirken. Der Buchstapel war im Nu leergekauft. „Das Vermächtnis der Seidenraupen“ kann ich nur wärmstens zum Lesen empfehlen.
Jane Zahn