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Der Tiger schreit

Am 21.12.2020 schickte Eva Hoffmann uns dieses Gedicht in Erinnerung an Tucholskys Todestag zu (s. unten zur Autorin).

Gewidmet in Memoriam 21.12.1935

Der Zeiger zeigt
die Zeit zeitigt

Die Rassel rasselt
alles quasselt
keiner schweigt

Haare wallen
Haare in Wellen
Wale in Wellen
Wähler wählen
Stimmen zählen
Tierquäler quälen

Riemen machen Striemen
der Haifisch der hat Zähne
Politiker machen gute Mienen
zu ihrem täglichen Brot

Lobbyisten lungern
Flüchtende hungern
Geier kreisen
Marktschreier preisen

Deckmäntel verdecken
Fliehende verrecken

Rechts ruckt
Die Linke spukt
und die Mitte: die duckt

Kinderschänder missbrauchen
Opfer straucheln
Wassertaucher tauchen
nach Wasserleichen

Fetische und Faschisten
führt man auf Listen
Bettsäger und Exekutierte
hinterlassen Pfützen

Gewitter reinigen
(Cloud-)Worte steinigen
Pfeifen besänftigen
draußen nur Kännchen

Wasser bewegt Mühlen
während wir auf Wühltischen wühlen
was Inder nähen
(und deren Kinder daneben)

Anderswo: Leiden
Hierzulande knurrt es
Das Glück der Geburt
ist nun mal nicht zu teilen

Bei der Wahl
machen Nazis legal
ihre Haken
Ein Kreuz auf Papier
wird toleriert

Wahlplakate hängen
Parallelen verdrängend
dank des Genies
unserer Demokratie
Denn was ist schon dabei?
Wählen macht frei

Rechte rabiat
legitimiert im Stadtrat
Zu Naziparolen
nickt mancher verstohlen

Man spricht von Bedrohung
sieht die Rechte Verrohung
Doch was geht’s den an
der sich wegducken kann

Ob Hauser, Panter oder Tiger
er kannte die „Sieger“
die sich formierten
und uniformierten
und skandierten.

Worte aus Wut

Eva Hoffmann arbeitet als Schulbibliothekarin und hat Theaterwissenschaft und BWL studiert. Über ihren Zugang zu Tucholsky schreibt sie: „Und immer waren da Spuren: Eine erste Fährte legte Kaspar Hausers ‚Der Mensch‘ – kritisch und humorvoll, klug und pointiert – ein verändernder Blick in meinen jugendlichen Spiegel. Während des Studiums dann stellte ich erstaunt fest, die Publikumsbeschimpfung gab es lange vor Handke. Von einem, der mit 5 PS publizistische und journalistische Schneisen ins aufziehende braune Dickicht schlug, um uneitel und ohne belehrenden Zeigefinger mit stilistischer Vielfalt Missstände aufzuzeigen. Seine Spuren – auch heute noch kein Schnee von gestern: von einem heimatverbundenen glühenden Europäer auf seiner Weltbühne, um- und weitsichtig, offen und tolerant, skeptisch sich und andere(s) hinterfragend und mit der Größe, Fehler einzugestehen. Kein Neuschnee, aber immer wieder stoße ich auf seine weisen Spuren.“