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Trauer um Ehrenvorsitzenden Ian King

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft trauert um ihren langjährigen Vorsitzenden und Ehrenvorsitzenden Ian King

In memoriam Dr. Ian King (1949-2023)

Obwohl wir schon lange von Ian Kings Krebserkrankung wussten, waren wir doch sehr erschüttert, als uns sein langjähriger Freund und Kollege Stuart Parkes die Nachricht zukommen ließ, dass unser Ehrenvorsitzender am Dienstag, dem 19. September, erlöst wurde. Bis zuletzt waren Tucholsky-Freunde und auch ich persönlich mit ihm in London durch Telefon und die digitalen Medien in Kontakt. Er war immer zuversichtlich, was sich erst wenige Tage vor dem Tod änderte. Dann hatte er erkannt, dass ihm nur blieb, loslassen zu können. Ian (der eigentlich William hieß und schottischer Eisenbahnersohn war) hatte davon geträumt, die Fußball-EM im kommenden Sommer noch zu verfolgen, oder zumindest bei unserer Jahrestagung im Oktober, für deren Thema „Ist Tucholskys Verständnis von Pazifismus heute noch aktuell?!“ er intensiv geworben hatte, mitzuerleben. Letztlich war er aber doch erleichtert, dass er mir seinen Vortragstext für die Jahrestagung im Oktober geschickt hatte. Er war sich nicht mehr sicher, ob er ihn (zugeschaltet aus London) hätte halten können.

Ian King gehörte als britischer Germanist vor 35 Jahren zu den Gründungsmitgliedern der Kurt Tucholsky-Gesellschaft, und er war einer der letzten in unserem Kreis, der auch Mary Gerold-Tucholsky noch kennengelernt hatte. Er leistete lange Jahre Vorstandsarbeit und war unser geschätzter und fachlich anerkannter Vorsitzender mit besonders langer Amtszeit, ehe er sich vor zwei Jahren mit 72 in die Ehrenmitgliedschaft verabschiedete. Auch dieses neue Amt nahm er ernst und mischte sich (nicht immer zur Freude aller Vorstandsmitglieder) streitbar ein. Nicht vergessen werden kann, dass er immer wieder für Vorträge über Tucholsky und sein literarisches und politisches Umfeld von London aus nach Deutschland reiste und besonders mit Jüngeren leidenschaftlich diskutierte.

Mir war Ian ein guter Freund, und ein Vorbild!

Frank-Burkhard Habel, Erster Vorsitzender

Ians Freunde haben eine Gedenkseite mit umfangreichen Würdigungen seines Lebens für ihn eingerichtet.

Nachdem sein Tod bekannt wurde durch einen Nachruf der Tageszeitung nd.der Tag (Neues Deutschland), für die er mehr als drei Jahrzehnte lang bis Anfang September 2023 meist ironisch gefärbte politische Berichte geliefert hatte, kamen erste Erinnerungen von Weggefährten aus der KTG, aus denen wir nachfolgend zitieren:

„Bei seinen Besuchen in Duisburg lernten wir Ian nicht nur als Tucholsky-Experten kennen. Wir entdeckten in ihm auch den Deutschlandkenner, der mehr von unserer Heimat erzählen konnte als mancher Einheimischer wusste. Wer kennt schon die preußische Schnellzuglok P8? Bei einem Besuch im Eisenbahnmuseum Bochum-Dahlhausen kam heraus, dass Ian auch Experte in historischen Eisenbahnen war.
Ian war aber vor allem eines für uns: Ein guter Freund, der uns mit seinem Humor immer zum Lachen brachte, nicht sonderlich viel Wert auf Konventionen legte, sich aber im Einzelfall von unseren Damen in Fragen des Outfits final beraten ließ.“ Klaus Becker, Duisburg

„Ich bin Ian vor über 30 Jahren in der noch jungen KTG begegnet, Er war ein eifriger Mitschreiber und ich habe ihn in seiner Zweisprachigkeit, seinen Tucholsky-Kenntnissen, seiner Meinungs-Stärke sehr bewundert. Dass ich dem sparsamen Schotten später im gemeinsam agierenden Vorstand mit meinen Ideen in die Quere kam, hat unsere Freundschaft, die auf gegenseitiger Achtung basierte, keinen Abbruch getan. Gern hätte ich ihn noch einmal wieder gesehen. Das hat nicht sollen sein und auch das macht mich sehr traurig.“ Renate Boekenkamp, St. Georgen

„Er war ein Typ für sich, hatte viel Humor und Lebenslust und wollte noch so gerne HIER bleiben. Ja, Ian war auch für die Tuchogesellschaft wichtig, er hat uns Tucho nicht vergessen lassen, so auch Mary Tucho.“ Brigitte Kellner, München

„Das ist ein heftiger Schlag ins Kontor! Ich habe Ian zuletzt immer ermunternd geschrieben, seine Ironie überzeugte bestechend. Er war immer eine Freude, auch daß er manch anderen keine war. Wir wollen in seinem Sinne sein.“ Olaf Walther, Hamburg

Sein scharfer Verstand, seine Leidenschaft für Kurt Tucholsky und die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft werden uns fehlen.

Wir lassen ihn aber nicht ohne Tucholsky gehen:
„Wie wird die schwarzgestrichne Kiste groß!
Ich schweige tief.
Und bin mich endlich los.“

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Satire-MAß 1 Tucholsky

Gedicht von Hansgeorg Stengel gefunden von Wolfgang Helfritsch

Wie heißt die Maßeinheit für die Satire?

Wie misst man ihren Wert und ihr Gewicht?                           

Ein solches Maß, Satire-Kanoniere,

das gibt es, leider, offiziell noch nicht!

Drum drängt es mich, Tucholsky vorzuschlagen,

als Optimum satirischer Potenz.                                      

Ein Zehntel Tucho wäre sozusagen

der Paukenschlag des schreibenden Talents.

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Sorry für den Ton, aber der Witz sollte keine Pointe haben

Versöhnliche Schlussbemerkung von Ian King an Roland Voggenauer

Meine Antwort auf Ihren Versuch, den Witz zu Ende zu erzählen, ist im Ton etwas schroff ausgefallen. Das tut mir inzwischen leid und ich bitte um Entschuldigung, von einem Tucholsky-Verehrer zum anderen. Ihre Schlusspointe ist nicht schlecht!

In der Sache bleibe ich jedoch skeptisch, ob man heute Tucholskys Werke novellieren sollt.  Schließlich hat KT gerade durch den nichterzählten Witz das Ehepaar und deren Verhältnis des Einander-Ins-Wort-Fallens und der daraus resultierenden Nicht-Kommunikation besser charakterisiert als mit jedem Witz, auch einem gelungenen wie dem Ihren. Vergleichen Sie das mit seinem Schnipsel: „Wie reden die Menschen? – Aneinander vorbei.“ Auch das Paket in Rheinsberg ist relevant, finde ich; es ist egal, was drin steckt. Ihnen ist es um den Witz gegangen, das ist eine berechtigte Sicht; mir geht es um die (tieferliegende?) Nicht-Kommunikation, was vielleicht etwas trauriger ausfällt.

Aber damit hätte ich sie nicht kränken sollen…

Mit freundlichen Grüßen aus Süd-London,

Ihr Ian King. 

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Der Witz den das Ehepaar – vielleicht – erzählen wollte

von Roland Voggenauer

Ein Wanderer verirrt sich im Gebirge und wird vom Gewitter überrascht.

Es wird dunkel, er irrt so durch die Nacht, und da sieht er plötzlich ein Licht, geht gerade drauf zu und kommt zu einer Hütte. Er klopft an, die Tür wird ihm geöffnet und er tritt triefend nass ein.

In der Hütte wohnt ein Bauer und eine Bauersfrau. Der Bauer ist alt, und sie ist jung und hübsch.

Der Wanderer hat Hunger, und der Bauer sagt, er könne etwas Käse und Milch haben. Sie hätten zwar auch noch eine Konservendose Rindfleisch, aber die bräuchten sie bis zum nächsten Markttag.

Also isst der Wanderer den Käse und trinkt die Milch, und der Bauer stellt die Konservendose wieder ins Regal.

Als er gegessen hat, sagt die junge Bauersfrau, das Gewitter ginge so schnell nicht vorüber, und dass er in der Hütte übernachten könne. Sie hätten zwar nur ein Bett, aber das könnten sie sich ausnahmsweise auch zu dritt teilen.

Der Alte willigt ein, besteht aber darauf, in der Mitte zu liegen.

In der Nacht tobt das Gewitter. Der Bauer wacht auf, stupst den Wanderer an und sagt, er liege außen, er solle aufstehen und draußen nachsehen, ob die Stalltür auch zu sei. Also steht der Wanderer auf, geht raus, überprüft die Stalltür, kommt zurück und legt sich wieder hin.

Das Gewitter wird schlimmer. Der Bauer wacht wieder auf, stupst diesmal seine Frau an. Sie liege außen, sie solle nach der Ziege schauen. Der Wanderer hätte sicher etwas falsch gemacht, und wenn die Ziege davon liefe, dann hätten sie morgen keine Milch. Also steht die Bäuerin auf, schaut nach der Ziege und kommt zurück. Die beiden Männer schlafen, und sie legt sich kurzerhand neben den jungen Wanderer.

Das Gewitter lässt nicht nach. Wieder wacht der Bauer auf, merkt, dass er jetzt außen liegt und steht auf, um nach der Ziege im Stall zu schauen.

Als er draußen ist, stupst die junge Frau den Wanderer an und sagt, jetzt wäre doch so eine Gelegenheit.

„Genau“, sagt der junge Mann, springt aus dem Bett, kommt kurz darauf zurück mit der Konservendose in der Hand und fragt die junge Bauersfrau: „Wo ist der Dosenöffner?“

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Ein Ehepaar erzählt (k)einen Witz

Anmerkung unseres Ehrenvorsitzenden Ian King

Mit Verlaub: Der Witz dieses Tucholsky-Feuilletons besteht gerade darin, dass das Ehepaar nicht imstande ist, den Witz zu Ende zu erzählen, sondern sich dauernd ins Wort fällt und der anwesende Peter Panter damit nichts anfangen kann. Es geht vor allem um die Beziehung zwischen den Eheleuten, nicht um die Frage, wie die Geschichte ausgeht – sie geht eben nicht aus, und das ist die Pointe.

Schon 1912 benutzt Tucholsky am Schluss von Rheinsberg die gleiche Masche: Die Leser erfahren genauso wenig wie Claire, was in dem Paket drin ist. Und auch hier macht es uns nichts aus – oder sollte uns nichts ausmachen. Claire und Wölfchen sind verliebt und damit basta. Bei allem Respekt bin ich gegen Versuche, Tucholskys Werk zu “verbessern”.

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Das hat der Mann zur Bauersfrau gesagt

Vorschlag von Joe Faß

„Also, wenn Sie mich so anstupsen, dann ist mir als sei ich doch in den Alpen gelandet. Da ist mir mal eine Geschichte passiert, das glauben Sie nicht. Da stupste mich irgendwo in Hintertupfingen in einem Gasthaus so eine bayrische Dorfschönheit an und sagt zu mir: 

Wissens wos, jetzt wär da so a Gelegenheit. –

Sie bemühte sich annähernd hochdeutsch zu sprechen. Ich guck die Dame irritiert an und Sie sagt: 

Wir sind schließlich ein Gasthaus, ein Zimmer ist noch frei. Schlüssel hängt da hinter der Theke. 

Glauben Sie mir, da hätte ich doch fast falsche Schlüsse gezogen. Und nun stupsen Sie mich an und ich frage mich, wie das wohl in den Dolomiten ist…? Wie gehen junge Frauen hier mit Wanderern um, die neben ihnen im Bett liegen und wo gerade der eigene Mann nicht zur Hand ist?“

Und dann drehte sich der Mann zu der jungen Frau hin und schaute sie erwartungsvoll an. Da war sie eingeschlafen. Und da hatte der Wanderer gelernt, dass Mann dolomitischen Frauen nicht mit Alpen-Geschichten kommen darf.

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Was hat der Mann zu der jungen Bauersfrau gesagt?

Brief von Roland Voggenauer an die KTG mit einer wichtigen Frage

Liebe Freunde der Tucholsky Gesellschaft,

Sie alle kennen sicher die Geschichte, in der ein Ehepaar Herrn Panter einen Witz erzählt, bzw. dies versucht, dabei jedoch kläglich scheitert, schließlich türschlagend auseinander geht und den armen Herrn Panter mit der Frage sitzen lässt, was die Pointe des Witzes gewesen sei.

Trotz – oder grade wegen – der Unvollständigkeit des Witzes wird diese wundervolle Geschichte natürlich zu einem runden Ganzen und soll selbstverständlich genau so stehen bleiben.

Dennoch habe ich mir schon vor vielen Jahren beim ersten Lesen die gleiche Frage wie Herr Panter gestellt, ohne daß ich jedoch jemals von selbst auf eine Antwort gekommen wäre. Diese Frage ist immer wieder einmal zu mir zurückgekehrt, so daß ich irgendwann eine – zugegebenermaßen einschlägige – Recherche gestartet habe.

Gefunden habe ich: Nichts!

Auch meine direkte Nachfrage bei dieser Gesellschaft hat selbst unter Hinzuziehung des Ehrenvorsitzenden zu keinem positiven Ergebnis geführt, d.h. diese Frage, die ja schließlich kein Geringerer als Herr Panter selber stellt, scheint bislang keine Antwort gefunden zu haben.

Deswegen habe ich mich gefragt, ob es evtl. sinnvoll sei, die Frage einem informierten Fachpublikum vorzulegen – was ich in der Leserschaft dieses Blogs erwarten würde – denn ich bin sicher, es gibt potentielle Antworten. Ob die letztendlich dem entsprechen, was Tucholsky selber im Sinn hatte, muss dabei natürlich nebensächlich bleiben, denn in seiner Geschichte ist der Witz schließlich ein reines Mittel zum Zweck.

Mir selbst ist während der diesjährigen Ostertage ein Lösungsvorschlag in den Schoß gefallen; wahrlich kein Schenkelklopfer, aber er funktioniert leidlich und ist konsistent zu den Dialogen in Tucholskys Geschichte.

Diesen würde ich an dieser Stelle selbstverständlich auch „zum Besten geben“, allerdings würde ich ihn vorläufig zurückhalten, bis sich auch andere aus der Deckung wagen, zumindest bezüglich der Sinnhaftigkeit dieses Unterfanges.

Von daher frage ich mit Herrn Panter in die Runde:

Was hat der Mann zu der jungen Bauersfrau gesagt?

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Der Tiger schreit

Am 21.12.2020 schickte Eva Hoffmann uns dieses Gedicht in Erinnerung an Tucholskys Todestag zu (s. unten zur Autorin).

Gewidmet in Memoriam 21.12.1935

Der Zeiger zeigt
die Zeit zeitigt

Die Rassel rasselt
alles quasselt
keiner schweigt

Haare wallen
Haare in Wellen
Wale in Wellen
Wähler wählen
Stimmen zählen
Tierquäler quälen

Riemen machen Striemen
der Haifisch der hat Zähne
Politiker machen gute Mienen
zu ihrem täglichen Brot

Lobbyisten lungern
Flüchtende hungern
Geier kreisen
Marktschreier preisen

Deckmäntel verdecken
Fliehende verrecken

Rechts ruckt
Die Linke spukt
und die Mitte: die duckt

Kinderschänder missbrauchen
Opfer straucheln
Wassertaucher tauchen
nach Wasserleichen

Fetische und Faschisten
führt man auf Listen
Bettsäger und Exekutierte
hinterlassen Pfützen

Gewitter reinigen
(Cloud-)Worte steinigen
Pfeifen besänftigen
draußen nur Kännchen

Wasser bewegt Mühlen
während wir auf Wühltischen wühlen
was Inder nähen
(und deren Kinder daneben)

Anderswo: Leiden
Hierzulande knurrt es
Das Glück der Geburt
ist nun mal nicht zu teilen

Bei der Wahl
machen Nazis legal
ihre Haken
Ein Kreuz auf Papier
wird toleriert

Wahlplakate hängen
Parallelen verdrängend
dank des Genies
unserer Demokratie
Denn was ist schon dabei?
Wählen macht frei

Rechte rabiat
legitimiert im Stadtrat
Zu Naziparolen
nickt mancher verstohlen

Man spricht von Bedrohung
sieht die Rechte Verrohung
Doch was geht’s den an
der sich wegducken kann

Ob Hauser, Panter oder Tiger
er kannte die „Sieger“
die sich formierten
und uniformierten
und skandierten.

Worte aus Wut

Eva Hoffmann arbeitet als Schulbibliothekarin und hat Theaterwissenschaft und BWL studiert. Über ihren Zugang zu Tucholsky schreibt sie: „Und immer waren da Spuren: Eine erste Fährte legte Kaspar Hausers ‚Der Mensch‘ – kritisch und humorvoll, klug und pointiert – ein verändernder Blick in meinen jugendlichen Spiegel. Während des Studiums dann stellte ich erstaunt fest, die Publikumsbeschimpfung gab es lange vor Handke. Von einem, der mit 5 PS publizistische und journalistische Schneisen ins aufziehende braune Dickicht schlug, um uneitel und ohne belehrenden Zeigefinger mit stilistischer Vielfalt Missstände aufzuzeigen. Seine Spuren – auch heute noch kein Schnee von gestern: von einem heimatverbundenen glühenden Europäer auf seiner Weltbühne, um- und weitsichtig, offen und tolerant, skeptisch sich und andere(s) hinterfragend und mit der Größe, Fehler einzugestehen. Kein Neuschnee, aber immer wieder stoße ich auf seine weisen Spuren.“

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Inge Jens – ein lebenszugewandter Mensch

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft betrauert den Tod ihrer Alt-Vorsitzenden. Durch die schwere Erkrankung des Vorsitzenden Michael Hepp entstand ein Vakuum in der Leitung. Inge Jens, die als „Teilhaberin“ der Arbeit ihres Mannes Walter Jens über Tucholsky ihre stille Liebe zum streitbaren Satiriker wiederentdeckte, übernahm die Funktion gern. Die Literaturwissenschaftlerin, Biographin, Briefwechselanalystin und Publizistin Inge Jens starb am 23. Dezember 2021 in Tübingen im Alter von 94 Jahren. In Hamburg 1927 geboren, wechselte sie später in die Universitätsstadt Tübingen, die zu ihrem Lebens- und Schaffensmittelpunkt wurde.

Als eine von vier Töchtern einer Hamburger Beamtenfamilie interessierte sie sich für einen medizinischen Beruf, erhielt dafür jedoch keine Zulassung. Daraufhin studierte sie Germanistik, Anglistik und Pädagogik, was ihr den späteren Zugang zum Leben und Wirken literarischer Persönlichkeiten erleichterte. Ihr gemeinsam mit ihrem Mann Walter geschriebenes Buch „Frau Thomas Mann – das Leben der Katharina Pringsheim“ wurde zum Bestseller und eröffnete unter Fachleuten eine neue Sicht auf die Familie Mann. Zu Katia und Golo Mann pflegte Inge Jens auch persönliche Kontakte.

Inge Jens zeichnete sich durch ihr Engagement in der BRD-Friedensbewegung aus. Sie nahm an Sitzblockaden gegen die Militarisierung und zur Blockade von Pershing-II-Depots teil und gewährte desertierten US-Soldaten ein illegales Domizil im Hause der Familie in der Sonnenstraße. Dafür wurde das Ehepaar auch gerichtlich belangt. Ihr Wohnsitz war ein offenes Haus und nicht selten ein Treffpunkt für Anders- und Querdenkende und diente ihnen mitunter auch als gastliche Unterkunft. Als wieder einmal ein neuer Vorsitzender für die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft zur Debatte stand und sich die Weiterführung der Arbeit durch Michael Hepp seiner Erkrankung wegen zerschlagen hatte, ließ sich Inge Jens nicht zweimal bitten und stellte sich als Interregentin zur Verfügung. Die Achtung vor den kritischen Auffassungen und satirischen Intentionen des Autors ermutigten sie dazu – dass sich dadurch auch Walter Jens stärker für den Verein engagierte und in der Jury des Tucholsky-Preises für literarische Publizistik mitwirkte, war ein positiver Nebeneffekt dieser Entscheidung. Als damaliges Vorstandsmitglied erinnere ich mich gern an Vorstandssitzungen im Haus in der Sonnenstrasse oder in der Berliner Tucholsky-Bibliothek im Prenzlauer Berg oder in Walter Jens` Diensträumen in der Akademie in Moabit. Dort zeigte sich auch, dass Inge nicht nur passende Worte finden, sondern parallel dazu einen starken Kaffee brauen konnte. Wo auch immer: Inge Jens erwies sich als sachkundige, ausgleichende, vielseitige und einfühlsame Leiterin, die es verstand, die Vorstands- und Vereinsmitglieder einzubeziehen und ihre individuellen Fähigkeiten abzurufen. Besonders deutlich zeigte sich das bei der Vorbereitung und im Ablauf der von Renate Bökenkamp angeregten und von Inge Jens geleiteten Jahrestagung 2000 auf den Spuren Tucholskys in Triberg. Das Referat von Walter Jens in der örtlichen Kirche und den in die Konferenz eingebetteten gemeinsamen Spaziergang nach Nußbach, wo Kurt Tucholsky mit Freunden in der „Villa Fritsch“ einen Urlaub verbracht hatte, habe ich noch gut in Erinnerung.

Das Ehepaar Jens, das zweifellos zu den intellektuellen Spitzenehepaaren der Bundesrepublik gehörte, war wissenschaftlich vielseitig und sehr kulturbeflissen. Nachdem beide unser Tucholsky-Programm gehört und gesehen hatten, das wir jahrelang mit dem langjährigen DEFA- und anschließendem Babelsberger Filmorchester-Leiter Manfred Rosenberg präsentiert hatten, organisierten beide unseren Auftritt in einem Dorftheater in der Schwäbischen Alb, das aus einem ausgedienten Bauernhof entstanden war. Obwohl die Veranstaltung an einem Sonntagvormittag über die ehemaligen Scheunenbretter ging, war sie bis auf den letzten Platz ausgebucht. In den nachfolgenden Gesprächen waren die Theaterleute voller Anerkennung über die ideelle und materielle Unterstützung, die sie durch Inge und Walter Jens erfahren hatten.

Inge Jens musste noch in ihren letzten Lebensjahren einige Schicksalsschläge hinnehmen. Als Walters Kräfte durch die Demenzkrankheit dahinschwanden und der Wissenschaftler und Ehemann sichtbar verfiel, versuchte sie, die gemeinsamen Lesungen und Vorträge aufrecht zu halten, solange es noch möglich war. Wenn ihm sein Part nicht mehr einfiel, sprang sie in die Lücke und übernahm seinen Vortrag. Ihre „Unvollständigen Erinnerungen“, geschrieben im Alter von 82 Jahren, legen vom „langsamen Entschwinden seiner Kräfte“ ein erschütterndes, aber mutiges Zeugnis ab.

Und es blieb ihr auch nicht erspart, sich 2020 von ihrem Sohn Tilman verabschieden zu müssen. Aber auch in diesen schweren Jahren blieb sie, wie sie in einem Fernsehinterview betont hatte, ein „lebenszugewandter Mensch“, an den wir uns gern und mit Achtung erinnern wollen.

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[Pressemitteilung] Kurt Tucholsky-Preis für Mely Kiyak

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft vergibt 2021 den mit 5.000 € dotierten Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik an die Autorin Mely Kiyak.

© Jacqueline Illemann

Mely Kiyak erhält den Preis für ihr im Hanser Verlag erschienenes Werk Frausein und ihre Tätigkeit als Kolumnistin und Essayistin.

Mit Ausdauer, Klarheit und Mut schreibt Kiyak gegen Ungerechtigkeit an. Dabei nutzt sie die Sprache virtuos als Instrument, dessen Klaviatur zu spielen sie beherrscht wie nur wenige. Dass ihre Texte dabei eine Leichtigkeit ausstrahlen, die der deutschen Sprache selten zugetraut wird, unterstreicht ihr Können ganz besonders.

»Sprache ist eine Waffe. Haltet sie scharf.« schrieb Kurt Tucholsky im Jahr 1929 in der Weltbühne. Dieses Verdikt kann geradezu als Motto seines Lebenswerkes gelten, so sehr stand die Präzision der Sprache, die Genauigkeit des Ausdrucks als Grundvoraussetzung für die Wirksamkeit von Texten im Mittelpunkt seines vielfältigen Schaffens – ob als politischer Journalist, Theaterkritiker, Essayist oder Buchautor.

Mely Kiyaks Arbeiten korrespondieren mit ihrer sprachlichen Präzision, analytischen Schärfe sowie der inhaltlichen und stilistischen Bandbreite in bester Weise mit Tucholskys Werk, dessen Tradition zu bewahren Ziel des Kurt Tucholsky-Preises ist.

Die Begründung der Jury im Wortlaut:

»Mely Kiyak war schon politische Kolumnistin als der Kolumnismus in Deutschland noch mit Kommentarspalten verwechselt wurde. Seit 2008 prägt sie die diese Form und schreibt bis heute jede Woche für Zeit Online ihre Kolumne Deutschstunde. Daneben ist sie Theaterkolumnistin (Kiyaks Theater Kolumne / Maxim Gorki Theater), Essayistin, Buchautorin und Rednerin. Ihr Stil, ihre Qualität, ihre Vielfalt, ihre Schärfe und ihr Witz sind nicht nur unverwechselbar, sondern in Ausdauer, Klarheit, Ernsthaftigkeit, Mut, Einsatzbereitschaft und Klugheit unbestechlich.

Ihr Ausdruck ist mindestens so gefährlich wie die Zunge ihrer Oma, die Kiyak in ihrem Buch Frausein als ›Jagdbomber‹ bezeichnet.

Dabei haben Kiyaks Kolumnen mit tumbem Kriegsgerät wenig zu tun. Ihre Texte scheinen zwar auf den ersten Blick wie eine derbe Schenkelklopfernummer am Stammtisch gemeißelt zu sein, da sie – meistens – in einem Ton verfasst sind, der Lachen provoziert. Dabei sind ihre Bilder und Metaphern immer außergewöhnlich, nie Phrasen, immer überraschend. Doch hinter dieser Leichtigkeit steht hochwertige Präzisions- ja, man könnte auch sagen deutsche Wertarbeit. Die höchste Kunst des Autors, die Schwerstarbeit am Text, besteht darin, die Arbeit am Text unsichtbar zu machen. Kiyaks Texte sind so fein gearbeitet, dass man sie die Seidenstickerin unter den Kolumnisten nennen könnte.

Kiyak arbeitet so konsequent streng an ihren Texten wie sie sich konsequent gegen Diskriminierung, Unrecht und politische Unverantwortlichkeiten ausspricht. In ihrem Schreiben erkennt man kämpferische Eigenständigkeit, als Frau, als Kind von Einwanderern, als Kind von Arbeitern, als politische Stimme. Kiyaks Stimme ist eine, die nicht allen gefällt. Weil Kiyak nicht allen gefallen, sondern provozieren will, um der Beseitigung von Ungerechtigkeiten näher zu kommen.«

Die Preisvergabe findet als Höhepunkt und Abschluss der diesjährigen Jahrestagung »Zwei konträre Kurts kämpfen gegen den Krieg: Kurt Tucholsky und Kurt Hiller« der Kurt Tucholsky-Gesellschaft am 12.09. 2021 im Theater im Palais Berlin statt. Als Laudatoren werden die Kabarettisten Claus von Wagner und Max Uthoff sprechen.

Der Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft dankt der Jury aus Doris Akrap (Sprecherin), Zoë Beck (Sprecherin), Dr. Ulrich Janetzki, Prof. Dr. Stuart Parkes und Nikola Richter für ihre unermüdliche Arbeit.

Weitere Informationen:

Die Preisträgerin:

Mely Kiyak, geboren 1976, lebt in Berlin und veröffentlichte mehrere Bücher und Essays, Theaterstücke und andere Texte. Für Zeit Online schreibt sie die wöchentliche politische Kolumne „Kiyaks Deutschstunde“, für das Gorki Theater Berlin „Kiyaks Theater Kolumne“. 2011 wurde sie mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. 2020 erschien ihr neues Werk Frausein im Carl Hanser Verlag.

Der Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik:

Aus Anlass des 60. Todestages von Kurt Tucholsky wurde 1995 der Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik gestiftet. Alle zwei Jahre werden mit ihm engagierte deutschsprachige Publizisten oder Journalisten ausgezeichnet, die der »kleinen Form« wie Essay, Satire, Song, Groteske, Traktat oder Pamphlet verpflichtet sind und sich in ihren Texten konkret auf zeitgeschichtlich-politische Vorgänge beziehen. Ihre Texte sollen im Sinne Tucholskys der Realitätsprüfung dienen, Hintergründe aufdecken und dem Leser bei einer kritischen Urteilsfindung helfen.

Die Auswahl der Preisträger erfolgt durch eine fünfköpfige Jury; das Preisgeld beträgt seit dem Jahr 2015 5.000 € (bis 2013: 3.000 €).

Die bisherigen Tucholsky-Preisträger sind: Die Journalistin Margarete Stokowski, der Journalist Sönke Iwersen, der Wissenschaftler und Publizist Jochanan Trilse-Finkelstein, der Journalist Mario Kaiser, der Journalist Deniz Yücel, der Journalist und Literaturkritiker Volker Weidermann, der Schriftsteller und Satiriker Lothar Kusche, der Journalist und Publizist Otto Köhler, der Journalist und Schriftsteller Erich Kuby, der Journalist Wolfgang Büscher, der Autor und Hochschullehrer Harry Pross, die Schriftstellerin und Journalistin Daniela Dahn, der Schriftsteller und Theologe Kurt Marti, der Journalist Heribert Prantl und der Liedermacher Konstantin Wecker.

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft:

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft wurde 1988 gegründet, um dem facettenreichen »Phänomen Tucholsky« nachzuspüren. Sie will als literarische Vereinigung die Beschäftigung mit Leben und Werk Kurt Tucholskys pflegen und fördern und hat ihren Sitz in Tucholskys Geburtsstadt Berlin. Als Publikationsorgan der Kurt Tucholsky-Gesellschaft erscheint dreimal im Jahr ein Rundbrief. Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft gibt zudem eine eigene Schriftenreihe heraus, in der vorrangig die Dokumentationen der von ihr organisierten wissenschaftlichen Tagungen erscheinen. Den jährlichen Höhepunkt der Vereinstätigkeit bilden Tagungen mit wissenschaftlichen Kolloquien, Vorträgen, Exkursionen und kulturellen Veranstaltungen. Aller zwei Jahre vergibt sie den Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik.

Die aktuelle Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft findet vom 10. bis 12. September 2021 in Berlin zum Thema »Zwei konträre Kurts kämpfen gegen den Krieg: Kurt Tucholsky und Kurt Hiller« statt.

weitere Informationen:

»Frausein« bei Hanser: https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/frausein/978-3-446-26746-6/

»Kiyaks Deutschstunde« auf Zeit Online: https://www.zeit.de/serie/kiyaks-deutschstunde

»Kiyaks Theater Kolumne« beim Gorki-Theater: https://www.gorki.de/de/mely-kiyaks-theater-kolumne

Kurt Tucholsky-Gesellschaft: https://tucholsky-gesellschaft.de

Theater im Palais: https://www.theater-im-palais.de/

Jahrestagung der KTG 2021: https://bit.ly/ktg-2021

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