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Originaltexte Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief Dezember 2016 Rundbriefe

Kurt Tucholsky: Der Graben

Der Graben

Mutter, wozu hast du deinen aufgezogen?
Hast dich zwanzig Jahr mit ihm gequält?
Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen,
Und du hast ihm leise was erzählt?

Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Mutter, für den Graben.

 
Junge, kannst du noch an Vater denken?
Vater nahm dich oft auf seinen Arm.
Und er tat dir einen Groschen schenken,
Und er spielte mit dir Räuber und Gendarm.

Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Junge, für den Graben.

 
Drüben die französischen Genossen
Lagen dicht bei Englands Arbeitsmann.
Alle haben sie ihr Blut vergossen,
Und zerschossen ruht heut Mann bei Mann.

Alte Leute, Männer, mancher Knabe
In dem einen großen Massengrabe.

 
Seid nicht stolz auf Orden und Geklunker!
Seid nicht stolz auf Narben und die Zeit!
In die Gräben schickten euch die Junker,
Staatswahn und der Fabrikantenneid.

Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben,
Für das Grab, Genossen, für den Graben!

 
Werft die Fahnen fort! Die Militärkapellen
Spielen auf zu euerm Todestanz.
Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen –
Das ist dann der Dank des Vaterlands.

Denkt an Todesröcheln und Gestöhne.
Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne,
Schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben.
Wollt ihr denen nicht die Hände geben –?
Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben
Überm Graben, Leute, überm Graben –!

Theobald Tiger, Neue Berliner Zeitung, 1.8. 1924 in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 6, [T 105], S. 240f.
 

[Hamburg] Leben und Werk von Kurt Tucholsky

Annemarie Stoltenberg erzählt von und über Kurt Tucholsky: Tucholsky war einer der erfolgreichsten und berühmtesten Publizisten der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts.
Als Jurist, Journalist, Satiriker und Schriftsteller verteilte er sein Schaffen auf mehr als fünf Pseudonyme, u.a. Kaspar Hauser, Ignaz Wrobel, Theobald Tiger und Peter Panther.
Er war ein unbestechlicher Kritiker seiner Epoche. Erich Kästner schrieb, Tucholsky habe den Naziterror mit seiner Schreibmaschine stoppen wollen.
Auch heutzutage ist sein Werk immer wieder überraschend lebendig und neu zu entdecken: ironisch angespitzte Alltagsbeobachtungen, Gedichte, Couplets und flammende Schriften für Gerechtigkeit präsentiert Frau Stoltenberg in ihrem Vortrag.