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[Rezension] Beim Barte des Proleten

Das hat schon mit Ironie des Zufalls zu tun, und mit Wehmut auch. Ausgerechnet während der Lektüre des 272 Seiten umfassenden, spannenden und sehr in­formativen Almanachs von Jürgen Klammer drückte mir ein Kabarettfreund aus der Nachbarschaft eine Meldung in die Hände, die er am 16.11. 2016 in der Märkischen Allgemeinen entdeckt hatte: Oderhähne geben ihre letzte Vorstellung. Nach 50 Jahren Berufsleben in »Ost« und »West« packen Lutz Stückrath und Wolfgang Flieder ihre Utensilien zusammen, spielen noch­mal Jetzt ist Schluss! und verabschieden sich von ihren Zuschauern.
Damit findet der Untertitel Geschichten aus dem Kabarett-Theater »Distel« in den Zeiten von Walter Ulbricht, Erich Honecker und Helmut Kohl noch einen traurigen Nachschlag.
Stückrath und Flieder: Sind das nicht zwei der wenigen noch nicht verstor­benen oder noch nicht in den Schweigestand abgetauchten Distel-Urge­steine? Sie sind es. Ihrer und der Bühnenlaufbahn der anderen Ex-»Dis­teln« hatte ich in der Dokumentation gerade nachgespürt, die mir der Au­tor Jürgen Klammer bei unserer Begegnung während der Jahrestagung 2016 der Tucholsky-Gesellschaft höchstpersönlich in die Hände gedrückt hatte.
Beim Barte des Proleten ist ein rundherum gelungenes Buch. Es ergänzt, illustriert und spezifiziert Oliver Dietrichs Freiräume – das Kabarett in der DDR zwischen MfS und SED[1] am Beispiel der Distel sachkundig und aus­gewogen. Es erläutert, wie sich einst Schauspieler und Satiriker wie Heynowski, Brehm, Kusche, Stengel u.a. ein zeitweilig hoffnungsvolles Kli­ma und die Forderung eines ND-Leitartikels, »die Waffe der Satire zu schärfen«, schlitzohrig zunutze machten und den Berliner OB Friedrich Ebert beim Wort nahmen.
Am 4. Oktober 1953, wenige Wochen nach dem 17. Juni, startete das er­ste politische Kabarett der DDR in einer festen Spielstätte am Bahnhof Friedrichstraße sein erstes Programm »Hurra, Humor ist eingeplant!«
Der damit eingeschlagene Weg war und ist von Höhen, Tiefen und Wider­sprüchen geprägt, berührt die Lebensleistung und das Schicksal von Au­toren und Interpreten und spiegelt ein gutes Stück DDR-Kulturgeschichte wider. Die Schere zwischen dem Lob und der Schelte für Texter und Kaba­rettisten der Distel bewegte sich zwischen Nationalpreis und Misstrauen. Sie führte in einem Falle auch zu einer Verhaftung, wobei der National­preis wie auch andere staatlich-offizielle Orden in der Gesamtbilanz we­sentlich dichter gesät waren als die den Autor Manfred Bartz betreffende zeitweilige Freiheitsberaubung.
Es war Bartz` Schicksal, wie seine scharfzüngige Kollegin Inge Ristock tref­fend bemerkte, dass er »die Tinte nicht halten konnte«. Andere konnten das zeitweilig besser – aber eine Gratwanderung blieb das Kabarett alle­mal. Und das nicht nur in der DDR, wie die jüngste Vergangenheit be­weist.
Was mir an der flüssigen Dokumentation besonders imponiert, sind nicht nur die zahlreichen Beispieltexte, sondern nicht weniger die Anmerkungen und Einblendungen zu den persönlichen Lebens- und Arbeitsverläufen von Kabarettisten, Regisseuren und Karikaturisten sowie die Wertschätzun­gen aller weiteren Programmbeteiligten. Nicht weniger berührten mich die Exkurse zu anderen Kabaretts wie zur Dresdener  Herkuleskeule und zur Leipziger Pfeffermühle, zumal einige Kabarett-Ikonen wie Edgar Külow, Helga Hahnemann oder Gisela Oechelhäuser nicht nur den Weg, sondern mitunter eher den Umweg nach Berlin über andere Institutionen genommen hatten.
Dabei offenbart der Autor nicht nur umfangreiche, bis in Einzelheiten gehende Sachkenntnisse, sondern ein  hohes Fingerspitzengefühl und Ein­fühlungsvermögen. Seine Darstellung des stachligen Distel-Weges vom häufig kritisierten, aber subventionierten Partei- und Staatskabarett und nach 1989 zur privatrechtlichen GmbH bei personeller Reduzierung um rund 50 {ba5249323a5ad00c05529abc4bd04f1981aa9314e15f6cc666f9b62072a92d67} beschränkt sich zwar auf das Metier, von dem hier die Rede ist; der kundige Zeitzeuge weiß aber, dass ihm die Satire vergehen kann, wenn er über den kabarettistischen Tellerrand hinausschaut.
Eine Fülle von sorgsam und sensibel ausgewählten Fotos und Dokumen­ten bereichert die Kabarett-Geschichte der Distel plastisch und zusätzlich.
Die besondere Brisanz des letzten DDR-Programms »Keine Mündigkeit vorschützen« im Spielball der inneren Zerrissenheit zwischen Gestaltern und offiziellen Besserwissern, zwischen Zensur und Selbstzensur unter­scheidet sich deutlich von den besonderen Umständen der ersten Nach­wende-Aufführung »Mit dem Kopf durch die Wende«. Entscheidend für die Zukunft und den weiteren Bestand der Distel als Institution waren beide.
Mit Genugtuung ist auch der Versuch des Autors abzunicken, das Zuein­anderfinden von Kritikastern aus Ost und West am Beispiel darzustellen. Wir könnten das aus eigenem Erleben als Gastspieler im Kabarett Kana­pee Hannover 1990, als DDR-Teilnehmer beim »Kabarett-Tag zur Deut­schen Einheit« 1991 in Erlangen und durch die Mitwirkung in der Reihe »Tucholskys Erben« im Berliner Kabinett Anfang des 3. kabarettistischen Jahrtausends gut ergänzen.
Übrigens: Ein besseres Vorwort zur Dokumentation als das von dem in­zwischen leider auch verstorbenen Volker Kühn hätte man dem Bart des Proleten kaum wünschen können.
Jürgen Klammer hat – das sei mit Freude hervorgehoben – einen wichti­gen Beitrag zur deutschen Kabarett-Geschichte und für den Fundus des Kabarett-Archivs in Mainz und Bernburg geleistet.
Beim Barte des Propheten: Weder der Insider noch der Interessierte sollten die neugierige Lektüre dieses wunderbaren Buches versäumen.

Wolfgang Helfritsch

Jürgen Klammer: Beim Barte des Proleten. Geschichten aus dem Kabarett-Theater Distel in den Zeiten von Walter Ulbricht, Erich Honecker und Helmut Kohl. Selbstironieverlag Leipzig 2013. 272 Seiten, über 500 Abb., 100 Künstler- Porträts. Broschiert. Das Buch ist  erhältlich beim Selbst-Ironie-Verlag.
[1]Dieser Band wurde im Rundbrief April 2016 besprochen

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