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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief April 2018 Rundbriefe

[Rezension] Rüdiger Wolff vertont Tucholsky-Texte

Stationen: Rüdiger Wolff singt Tucholsky„STATIONEN“ – so heißt die CD von Rüdiger Wolff mit 13 neuen Vertonungen von Tucholsky-Gedichten.

Rüdiger Wolff hat den Texten ein abwechslungsreiches musikalisches Gewand gegeben. Das Spektrum reicht von Balladen mit Gitarrenbegleitung über Cou­plets mit Berliner Schnauze bis zu jazzigen saxophondominierten Melodien. Alle Kompositionen passen glänzend zu den Gedichten und lassen durch die ruhigen und melodiösen Vertonungen Text und Melodie zu gleichen Teilen gut zur Geltung kommen. Die heiter-verspielte Melodie zu „Park Monceau“ sowie die klassische Tangomelodie zu Tuchos „Pfau“ ragen heraus. Selten vorgetragene Gedichte wie „Stationen“ oder das kirchen- und gesellschaftskritische „Kirche und Wolkenkratzer“ kombiniert mit Klassikern wie „Der Graben“ aber in neuem musikalischen Gewand machen die CD zu einem wunderbaren, herausragenden Hörerlebnis, auch für Tucholsky-Kenner.

Zu Rüdiger Wolff: Jahrgang 1953, studierter Litera­turwissenschaftler. Dem norddeutschen Fernsehpublikum ist er auch bekannt als Moderator der „Aktuellen Schaubude“ und der Sendung „Wunderschöner Norden“. Seit gut zehn Jahren konzentriert sich Wolff auf Literatur-Vertonun­gen. Er komponiert am Klavier die Melodien zu den Gedichten seiner Lieblings­lyriker. Seit zwei Jahren lebt er mit einer schweren, unheilbaren Muskelerkran­kung.

Robert Färber

 

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief August 2017 Rundbriefe

[Rezension] Unda Hörner: Ohne Frauen geht es nicht

Neben Bertolt Brecht ist Kurt Tucholsky der deutsche Autor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, über dessen Liebesleben be­sonders ausführlich geschrieben wurde. Die Germanistin Unda Hörner, die in Tucholskys Lieblingsstädten Berlin und Paris stu­dierte, hat mit dem schmalen, aber kompakten Band »Ohne Frau­en geht es nicht« auf Erkenntnisse anderer Publizisten von Helga Bemmann bis Klaus Bellin aufgebaut. Ist Hörners Bändchen nun aufschlussreich? Oder überflüssig?
Die Frage ist mit einem klaren »Sowohl als auch« zu beantworten. Wer sich für Tucholsky und die Frauen interessiert – wohlgemerkt die Frauen, und nicht, wie es der Untertitel verheißt »die Liebe« – und keinen Stapel von Büchern wälzen möchte, wird hier kompakt bedient. Von dem wenigen, was wir über Kitty Frankfurter wissen, bis über Liebschaften und zu dem Vielen, was wir von Mary Gerold kennen, referiert die Autorin kenntnis- und zitatenreich wie es gelaufen ist.
Zudem hat sie viele Memoirenbücher von Tucholskys Zeitgenossinnen gelesen und das eine oder andere Detail in den Vordergrund gerückt. Tucholskys Liebe (zumindest zu Frauen) verlässt sie aber, wenn sie über die Diseusen und gar die zeitgenössischen Autorinnen spricht.
Die offenbar platonische Liebe zu Gussy Holl ist bekannt. Hörner lässt offen, ob es mit Hesterberg oder Kühl zu intimen Begegnungen kam. Gerade an diese beiden Künstlerinnen denkt die Autorin of­fenbar nicht, wenn sie feststellt, dass nach 1933 Tucholskys Interpretinnen ver­stummten. Es mag für Rosa Valetti gelten, oder auch für Claire Waldoff. Kate Kühl und Heinrich Manns Ex-Geliebte Trude Hesterberg machten (wenngleich viel zahmer) im Dritten Reich weiter, beide auch in der DDR, bevor sie vom westdeutschen Kulturbetrieb aufgesogen wurden.
Ein anderes Kapitel befasst sich mit den Autorinnen unter Tucholskys Zeitgenos­sen. Hörner legt glaubhaft nahe, dass sich Tucholsky und Vicky Baum durch den anderen Kurt, Tuchos Freund Szafranski, gekannt haben müssen. Aber auch Irmgard Keuns und Gabriele Tergits damalige emanzipierte Haltungen referiert sie mit Zitaten aus Tucholskys Rezensionen auf eingängige Weise.
Tucholsky-Freunde, die schon tief mit Leben und Werk des Meisters vertraut sind, müssen den Band nicht erwerben. Wer es aber kaufen möchte, um Freun­dinnen und Bekannte auf Tucholsky neugierig zu machen, der sollte zugreifen.

Frank-Burkhard Habel

Hörner, Una: Ohne Frauen geht es nicht, Tucholsky und die Liebe, ebersbach & simon. Berlin. 2017, 144 Seiten, geb., 16,80 € ISBN 978-3-86915-137-3

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Befreundete Institutionen Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief August 2017 Rundbriefe

[Rezension] Tucholskys Spiegel: Oper-Premiere in Rheinsberg

Diese Rezension beginnt mit einem Geständnis. Ich schätze eher das klassische Opern-Repertoire, von Siegfried Jacobsohns geliebtem Mozart bis zu SJs Feind Wagner. Bin also Opern-Fan, aber kein Experte. Wie es Tucho selbst formulierte, kommt es im Künstlerischen nur auf ein Kriterium an: die Gänsehaut. Bei moderner E-Musik fehlt sie sehr häufig bei mir.
Ausnahme: James Reynolds‘ Partitur. Von Jazz-Einlagen mit Flair der zwanziger Jahre bis zur latenten Bedrohung (man tanzte auf einem Vulkan) steckt atmosphärisch alles drin. Tucho und die NS-Gegenspieler, die ihn die Worte »Giftspeiender Jude!« an den Kopf werfen — wunderbar herausgearbeitet. Das ist nicht in erster Linie MODERNE Musik, sondern vor allem zum Thema PASSENDE Musik, die von einem aufgeweckten Publikum begeistert aufgenommen wurde.
Zweites Lob: dem ideenreichen, innovativen Organisator und gutem Geist des Ganzen, Frank Matthus sowie seinem Regisseur Robert Nemack. Ich hatte mit Vorstandskollegin Jane Zahn schon bei einem Expertensymposium im Mai Gelegenheit, Frank kennenzulernen: Auf diesen Charismatiker müsste Rheinsberg, ja ganz Brandenburg stolz sein. Und Nemack! Die Bühne als Boxring für Tucholskys Kampf um ein demokratisches Deutschland: eine gelungene Idee! Die Beweglichkeit des Ensembles, unter Benutzung der Gänge und des Zuschauerraums: bewusst verunsichernd, hier wollte niemand einschlafen. Jeder wartete gespannt auf den nächsten Regieeinfall.
Die Sänger und Sängerinnen; Wenn ich hier alle, darunter den bekannten Countertenor Jochen Kowalski, und ihre Meriten loben sollte, müsste dieser Rundbrief um vier Seiten verlängert werden. Also soll hier eine für alle stehen: die energische, humorvolle, bei Gelegenheit angsteinflößende Mezzosopranistin Felicitas Brunke. Sicher zum Teil auch als Darstellerin von Mary Tucholsky, aber nicht nur deswegen, hat sie bei mir einen Stein im Brett. Singen kann sie, können sie alle. Ein tolles, aufeinander eingestimmtes Ensemble.
Also eine völlig positive Kritik? Leider nicht. Am Libretto war die Idee mit Pseudonymen, Freundinnen und Gegnern , die Tucholskys Charakter von vielen Seiten beleuchteten, bewundernswert. Aber durch Zerhacken der Figur in die einzelnen Pseudonyme ging m.E. die Tatsache verloren, dass sie fünf Finger an einer Hand sind. Der innere Kompass, der allen PS eigen war, fehlte. Weiter: Christoph Klimke war wohl ein verdienstvoller Rheinsberger Stadtschreiber, wir sind dankbar, dass er mit diesem Libretto Tucholsky ein Denkmal gesetzt hat. Aber er hat meiner Ansicht nach die Größe seiner Hauptfigur nicht verstanden. Ist das Gedichtchen Der Pfau wirklich Tucholskys entscheidendes Werk und nicht etwa Der Graben? Mein Lieblingspseudonym, der politische Kämpfer und Friedensfreund Ignaz Wrobel, war nur als Gegner von Rosa Luxemburg und Zielscheibe einer Kritik von Karl Kraus präsent, eine Verniedlichung, die an die misslungene Anthologie von Hermann Kesten in den 1950er Jahren erinnert.
Die kleine Hosenrolle des Melancholikers Kaspar Hauser ging fast ganz unter: schwere Versäumnisse. Dass Tucholskys Alter Ego am Schluss Tucholskys Spiegel anzünden sollte, wie ursprünglich im Libretto vorgesehen, war ein schwerer Fehle: das hätte Tucholsky-Freunde an die öffentliche Verbrennung von Tucholskys Büchern erinnert, vielleicht auch ans tragische Schicksal seiner ersten Ehefrau Else in Birkenau. Zum Glück wurde diese Idee fallengelassen. Aber es blieb am Schluss ein Antiklimax zurück. Bei Wagners Tannhäuser muss der Stab des Papstes Knospen bekommen; bei Faust I darf die Stimme von oben »ist gerettet« auch nicht fehlen. Hier blieb bei vielen Zuschauern ein Fragezeichen.
Trotz alledem: Dass 82 Jahre nach dem einsamen Tod in Schweden eine Oper über unseren Namenspatron gespielt wird, ist eine tolle Sache. »Ich bekomme recht, wenn’s mich nicht mehr gibt«, resümiert die Tucholsky-Gestalt. Matthus, Reynolds, die Sängerinnen und Sänger haben dafür gesorgt, dass Tucho recht bekommt. Es liegt an uns, das gleiche Ziel anzustreben.

Ian King

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[Rezension] Thomas F. Schneider: Emil Ludwig

Emil Ludwig schrieb Romane, Dramen, Biographien, war Pazifist, Publizist, frühzeitiger Apostel der Vereinigten Staaten von Europa — er schrieb sogar eine Verfassung für dieses Gebilde. Nach Thomas Mann und Stefan Zweig war er der bekannteste deut­sche Exil-Autor in den USA. Er verfasste Expertisen über die Be­handlung Deutschlands nach der voraussehbaren Niederlage im Zweiten Weltkrieg, kannte und beriet Präsident Franklin Roose­velt . War nicht zuletzt Freund und Briefpartner Kurt Tucholskys , der Ludwigs ausgesprochene kritische Biographie vom Ex-Kaiser Wilhelm II. lobte.
Ein be­deutender Zeitgenosse — und ein heute fast vergessener Autor, an den Thomas F. Schneider und seine Mit-Verfasser durch diesen Essayband mit Recht erinnert haben. Nicht jeder Tote hat eine Witwe, die seine Schriften sammelt und her­ausgibt.
Der nach Themen, nicht chronologisch unterteilte Band befasst sich also mit Ludwigs Biographien und Dramen, seinen publizistischen Anbahnungen von Krieg und Moderne, seinen politischen Schriften in der Weimarer Republik — Benjamin Ziemanns Essay dürfte für Tucholsky-Freunde von besonderem Inter­esse sein — sowie mit Anmerkungen zu Charakter und Stil in den Biographien — darunter über Bismarck, Mussolini, Stalin und Hitler.
Ludwig war zweifellos Anhänger der Thomas Carlyle-These, dass die Geschichte von großen Männern gemacht werde, im Guten wie im Bösen. Dabei benutzte er Bismarck als Wider­sacher von Wilhelm II., enttarnte das Schauspielhafte des Kaisers, um durch Zerstörung einer reaktionären, überschätzten Legende die Republik indirekt zu stärken.
Ludwig zog den tschechischen Demokraten Thomas Masaryk allen Diktatoren vor und nicht nur deswegen, weil er wie Kurt Hiller und andere Exilschriftsteller in der Tschechoslowakei kurzfristig Zuflucht gefunden hatte und freundlich auf­genommen worden war. Im US-amerikanischen Exil benutzte er seinen hohen literarischen Ruf, um vor dem deutschen Gehorsam (Tucholsky nannte dies den »Untertanengeist«), dem Militarismus und den Rachegefühlen allzu vieler Landsleute zu warnen: Krieg gegen die Nazis sei nicht zu vermeiden und müsse gewonnen werden.
Diese Ideen eines besonders unreifen, bösen Nationalcharakters verleiteten ihn zum Vorschlag, sein geschlagenes Volk so lange unter Kuratel der Alliierten zu stellen,bis eine neue, vom Faschismus unverdorbene Generation erwachsen werden könnte. Helga Schreckenberger analysiert diese Exilschriften des akti­ven Politikers Ludwig, der den klassenmäßigen Hintergrund der Nazis, die Her­kunft vieler faschistischen Promis aus einem wild gewordenen Kleinbürgertum sowie die Verstrickung von Deutschlands Großindustriellen in die Massenver­brechen der Faschisten — kurz, den sozialen Charakter des NS-Regimes — wohl unterschätzt hat. Vom Marxismus blieb Ludwig unbeeindruckt. Dass es »die« Deutschen nie gab, sondern Täter, Mitläufer, Opfer und wenige Widerstands­kämpfer — wollte er nicht wahrhaben.
Thomas Schneider selber hat einen einfühlsamen Essay (unter dem Titel Erfolg ohne Einfluss) verfasst, der an Tucholskys Formulierung »Ich habe Erfolg, aber keinerlei Wirkung« erinnert. Anders als unser Namenspatron hat Ludwig bei den Mächtigen antichambriert, statt sich nur als Anwalt der Getretenen zu füh­len. Aber Ludwig hat so wenig wie Tucholsky seine demokratischen Grundsätze verraten, zahlte dafür mit Exil und — nach 1945 in der Schweiz — mit un­verdienter Nichtachtung.
Dabei waren beide überzeugte Antinationalisten und »gute Europäer«. Das wird bei unserer Tagung im Oktober zu hören sein, denn der Ludwig-Experte Schneider tritt als Referent auf.

Ian King

Schneider, Thomas F. (Hrsg): Emil Ludwig. (= Non Fiktion, 11. Jahrgang 2016, Heft 1/2). Wehrhahn Verlag Hannover 2016. 232 Seiten, kart., 24,80 € ISBN 978–3–86525–546–4 ISSN 0340–8140

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[Rezension] Ohne Frauen geht es nicht

Unda Hörner, 1961 geboren, ist eine in Berlin lebende Schriftstellerin, deren reiches Oeuvre vor allem die Frauen zum Thema hat. In vielen ihrer Publikatio­nen beschäftigt sie sich mit berühmten Frauen, aber auch mit den Lebensge­fährtinnen berühmter Männer, Künstler, Maler und Schriftsteller.
In ihrem jüngsten Buch »Ohne Frauen geht es nicht« widmet sie sich Kurt Tuchols­ky und der Liebe. Liebe ist, so wissen wir ja, ein Gefühl, das auch vergehen kann, Verliebtheit eher der hoffnungsvolle Anfang einer möglichen Liebe. Somit hat Tucholsky geliebt (Mary Gerold), war aber hoffnungslos und oft verliebt.
Die Autorin zeigt auf 123 Seiten mit Fußnoten, einem ausführlichen Literatur-Verzeichnis das Leben und den beruflicher Werdegang des in der Weimarer Re­publik wohl meist gehassten Autoren auf. Sie beschreibt die nach ihrer Mei­nung wichtigsten fünf Frauen in Tucholskys Leben: Else Weil, Mary Gerold, Lisa Matthias, Gertrude Meyer und Hedwig Müller und stellt zu deren Kapiteln Fotos.
Die jeweiligen Verbindungen mit Tucholsky sind mit dem historischen Hintergrund und Tucholskys Lebensstationen gut recherchiert verwoben.
Dass zu diesen Frauen auch die Diven und Diseusen der Weimarer Zeit wie Claire Waldoff und Gussy Holl gehören, stellt Unda Hörner an den Anfang ihres Buches. Auch kommen die Kolleginnen im Zeitungsviertel Gabriele Tergit, Irm­gard Keun und Vicki Baum zu Worte. Eine fehlt: Inga Melin, die Schwedin, die Tucholsky in seinem Exil in Hindas als deutsch-schwedische Sekretärin zur Seite stand. Er hat ihr einige Veröffentlichungen gewidmet. Nach eigenen Aussagen hat sie seinem Werben widerstanden.
Über seine erste Verlobte, Kitty Frankfurter, kann auch Hörner wenig mitteilen, von ihr ist nach wie vor wenig überliefert. Alle diese Frauen im Leben Tuchols­kys sehen ihn aus jeweils verschiedenen Blickwinkeln und haben unterschiedli­che Erwartungen. Sie beschreiben ihn als gebildet, charmant, als sensibel, aber eben nicht als treu.

Das Buch liest sich flott, bleibt sachlich und ist mit vielen Zitaten auch unter­haltsam: Für alle, die das Beziehungsleben von Kurt Tucholsky im Zusammenhang kennen lernen und ein Zeitdokument erhalten wollen, ist es eine gute Lektüre.

Renate Bökenkamp

Hörner, Una: Ohne Frauen geht es nicht, Tucholsky und die Liebe, ebersbach & simon. Berlin. 2017, 144 Seiten, geb., 16,80 € ISBN 978-3-86915-137-3

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[Rezension] Marc Kayser: Ein Wochenende mit Tucholsky

Linn und Gilbert in Rheinsberg

Marc Kayser hat Kurt Tucholskys weltberühmten Klassiker … ins Heute versetzt und ein neues Bilderbuch für Verliebte geschaffen

verspricht der Klappentext der mit dem Untertitel Liebeserklärung an Rheinsberg versehenen ersten Auflage des Bild- und Heimat-Verlages Berlin. Eine originelle Idee, mit heutigen Personen ein Pendant zum Original zu schaffen.
»Hätten wir es nicht besser ein wenig kleiner?« fragte sich der Re­zensent allerdings, nachdem er am 30. März die Vorstellung des Büchleins im Tucholsky-Literaturmu­seum in Rheinsberg miterlebt hatte. Wenn man schon weiß, dass die Claire-Wölf­chen-Geschichte von 1911 jungen Leuten als Vorlage für ein freieres Liebesleben im illegalen Hotelbett, im schaukelnden Kahn oder im weichen Moos diente und ein reichliches Jahrhundert nach Werthers ver­klemmtem Liebeskummer manchem dazu verhalf, auf den Suizid vorerst noch zu verzichten und selbst in einer nach wie vor verspießerten Umgebung nach anderen Lösungswegen zu suchen, erschien mir das dem Prolog vorgestellte Versprechen

Für alle Liebenden, alle Geliebten und jene, die auf der Suche waren oder noch sind

– mit Verlaub – doch ein wenig hochgestochen.
Aber bekräftigen wir erst noch einmal das Positive: Der Gedanke, ein vom Alter und von den Lebenserfahrungen her reiferes Pärchen rund 100 Jahre später auf den Spuren Tucholskys durch das märkische Städtchen wandeln und rudern und erotisch brenzeln zu lassen, ist durchaus verlockend. Von den bislang 45 Rheins­berger Stadtschreibern seit 1992 haben zwar 35 eine Beziehung zum Städtchen und zur sanft geschwungenen Landschaft hergestellt. Aber bestenfalls zehn haben sich in ihrem literarischen Praktikum um einen Bezug zur Person des unbekannten Ju­risten und später berühmten Publizisten, vielseitigen Schreibers und anspruchsvol­len Frauenfreundes K.T. bemüht. Einer von ihnen ist der in Potsdam lebende Jour­nalist, Interviewer, Kriminalschriftsteller und Sachbuchschreiber Marc Kayser.
Einen weiteren Vorzug der Veröffentlichung – bezeichnen wir sie wie Tucholskys Tagebuch für Verliebte ebenfalls als Novelle – sehen wir darin, dass der Autor Personenforschung betreibt und vor allem die Claire Pimbusch alias Else Weil aus ihrem Inkognito holt. Er greift dabei die Spurensuche von Sunhild Pflug auf, die sich vor Jahren verdienstvoll um die im Tucholsky-Literaturmuseum veröffentlichte tragische Lebensdokumentation der jüdischen Ärztin bemühte.
Ein Glück, dass sich im Gästebuch einst die Eintragung der in London lebenden Gabriele Weil fand, Else-Claires Nichte, die sich gern auf Nachfragen zu ihrer geliebten rothaari­gen Verwandtschaft einließ.
Dass sich das aktuelle Paar Linn und Gilbert nennt und nicht unbedingt englische Vornamen trägt, macht die Sache sympathisch. Dass die Angejahrten mit dem Auto über die 96 andüsen und nicht mit der Bahn über Löwenberg, ist bei der Si­tuation der ostprignitzschen Umlandanbindungen und der im Winterhalbjahr da­hinrostenden Gleise durchaus nachvollziehbar. Dagegen kann selbst Gilbert, laut Autor Kayser selbst Fahrplanmacher bei der Bahn, nichts ausrichten.
Dass die Liebe aus der Rheinsberger Umgebung und dem literarischen Vorbild Im­pulse erhalten kann, soll nicht in Zweifel gestellt werden und wird durch die Vi­gnetten Klaus Ensikats romantisch unterstrichen. Und dass Linn nicht wie weiland die Claire

… gepackt und wie ein Wickelkind davongetragen wurde bis in die blumige Mulde… (Tucholsky, Rheinsberg)

findet durchaus unser der höheren Altersgruppe geschuldetes Verständnis. »Alles hat wohl seine Zeit«, sagt der in die Erzählung eingeführte alte Mann, der wie ein schwedischer Troll unseren Zeitgenossen immer wieder über den märkischen Weg schlurft. »Was früher einmal war, ist vorbei.« (S. 19).
»Das Städtchen von heute ist nicht mehr das Städtchen von einst«, konstatiert auch der Autor Kayser. Wahrlich. Wo jetzt noch ein stattliches Gebäude das Postamt verspricht, muss längst keins mehr drin sein. Andere Dienstleister haben nur ihr Gesicht verändert und das Angebot sogar erweitert: Der Kolonialwarenhändler Krummhaar bot einst Waren aus dem fernen Indien an – heute werben Lidl, Aldi und Edeka für Orangen aus Afrika, Erdbeeren aus Neuseeland und Knoblauch aus China. »Das sind die Kolonialhändler von heute«, bemerkt Gilbert (S. 25). Wo aber bleibt denn da Tucholskys Ratschlag an den Verbraucher, nur deutsche Zitronen zu kaufen?
Zu des aufmüpfigen Dichters Zeiten gab es noch kein Tucholsky-Literaturmuse­um, keine Akademie für junge Sängerinnen und Sänger, keine Tucholsky-Buch­handlung und kein inzwischen aufgegebenes Tucholsky-Café mit nachdenklichen Lebensweisheiten an den Gasthauswänden. Zu DDR-Zeiten existierten außerdem ein Atomkraftwerk in der Nähe, ein Diabetiker-Heim im Rokoko-Schloß, und im Umfeld der Stadt warteten sowjetische Bündnis-Truppen auf den glücklicherweise nicht eingetretenen Ernstfall.
In Nachwendezeiten gab es Mobiltelefone und Smartphones, rekonstruierte und farbenfrohe Gebäude, aber auch provokatorische Veranstaltungen der Rechten, wie sie die Tucholsky-Fans zu ihrer zeitgleichen Jahrestagung im Herbst 2012 erlebten. Davon und von ähnlich gearteten Vorfällen ist allerdings in den Plaudereien zwi­schen oder mit dem Paar nicht die Rede.
Gut, dass der Autor eine Begegnung Linns und Gilberts mit dem Stadtschreiber ar­rangiert. Dadurch erfahren wir wenigstens etwas über das Wirken und das Leben des Rheinsberger Arztes Dr. Weidauer, an dessen Mut und Zivilcourage eine Ge­denktafel am Hause seiner ehemaligen Praxis erinnert. Mit dem aktuellen barfüßi­gen Stadtschreiber kommen sie beiläufig ins Gespräch über Tucholsky, über seine glücklichen Tage mit Else Weil, über die Bücherverbrennung und den Tod des Dichters in Göteborg. »Du meinst, sein Geist hat hier Frieden gefunden?« fragt Linn ihren Gilbert. Der »stupst sie in die Seite«, und alles bleibt offen.
Die Kernfragen um die Liebe sind heute nicht neumodischer, als sie es schon 1911 waren.
stellt der Autor in seinem Epilog fest. Mag sein. Aber ich hatte etwas mehr Tucholsky und noch etwas mehr an zeitgeschichtlichen Ansätzen erhofft. Anderer­seits soll man nicht mehr erwarten, als der Autor von sich aus verspricht. Immerhin erwähnt er auch Tucholskys Mitarbeit an der Weltbühne. Über deren historische Umstände und die Nachfolger des Periodikums kamen wir nach der Lesung ins Gespräch.
Wir versprachen ihm Probe-Exemplare des Ossietzky – er versprach ein Abonnement. Und über die Nähe zur Tucholsky-Gesellschaft lässt sich sicher mit ihm reden.

Wolfgang Helfritsch

Marc Kayser: Ein Wochenende mit Tucholsky. Liebeserklärung an Rheinsberg. Mit Vignetten von Klaus Ensikat. Bild und Heimat Berlin 2017. 120 Seiten, gebunden. 14,99 € ISBN 978-3-95958-077-9

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[Rezension] Kurt Hiller/Mary Tucholsky: Briefwechsel 1952-1972

Zwei Schlüsselfiguren in Kurt Tucholskys Leben – die zweite Ehefrau und Al­leinerbin (zunächst seiner Schulden) Mary und der Weltbühne-Mitstreiter, Kriegs­gegner und antikommunistische Linke Kurt Hiller. Brigitte Laube hat den zwanzig­jährigen Briefwechsel zwischen den beiden bis zu Hillers Tod in einem schmalen Bändchen geschildert und kommentiert.
Hiller galt bisher mancherorts als Frauenfeind – teils wegen eigener Homosexuali­tät, teils wegen harter Kritik an bestimmten Frauen. Laube macht am Beispiel Mary Tucholskys deutlich, dass der Vorwurf unfair ist. Der cholerische Hiller hat zu den Menschen gehört, von denen es im Englischen kopfschüttelnd heißt, dass sie eine Schlägerei in einem leeren Raum anfangen könnten. Seine Ausbrüche gegen die KPD-nahe Zeitschrift »konkret« oder den Tucholsky-Verleger Ernst Rowohlt zei­gen, dass er ihm missliebige Männer ebenfalls nicht verschonte. Die langjährige Korrespondenz mit der Witwe seines Mitkämpfers beweist jedoch Kollegialität und gegenseitige Wertschätzung: mindestens dieser Frau gegenüber hat Hiller relativ wenig Porzellan zerschlagen.
Dies nicht nur, wie Laube gleich zu Beginn ihrer Analyse anmerkt, wegen der Brief­markenbeigaben in Marys Sendungen (S. 1). Hiller war leidenschaftlicher Philatelist, aber für Mary viel mehr, nämlich Berater und Helfer beim Aufbau ihres Rottacher Archivs – früher in ihrem Haus am Rosswandweg, heute Teil des Deutschen Lite­raturarchivs in Marbach am Neckar.
Für Tucholsky-Freunde, die nicht das Glück hatten, Mary persönlich kennenzuler­nen, dürfte der 62 Seiten kleine Band eine Fundgrube sein. Wo Fritz J. Raddatz et­was gönnerhaft eine »stolze, herrische, gleichwohl warmherzige und bescheidene Frau« be­schreibt (S. 4), gibt Laube durch Hillers Briefe Beispiele eben dieser Warmherzig­keit. Wie er sich über den Empfang – und das gute Essen! – im schönen Oberbay­ern freut, beschreibt beispielsweise ein Zitat auf Seite 34, das – nicht untypisch – sofort in eine Kritik an Raddatz wegen angeblichem Vertragsbruch übergeht.
Man liest, wie Mary ihren geschätzten Informanten oft zu beschwichtigen versucht, ihn aber auch gut kennt. Sie liest seine Briefe, wenn sie mal verzagt ist, denn »Wer kann sich so alterieren wie Sie?« (S. 51). Eine rein rhetorische Frage.
Andererseits: die zielstrebige Mary braucht Hillers Rat, als es um die Publikation der verzweifelten Briefe aus Tucholskys letzten Wochen an den Bruder Fritz und den Schriftsteller Arnold Zweig geht. Hiller rät von einer Veröffentlichung ab: zum Höhepunkt der Restaurationsepoche unter Adenauer könnte Tucholskys unbarm­herzige Kritik an Deutschlands Linken und vor allem an seinen Juden von den Rechten instrumentalisiert werden. Im Streit um Hermann Kestens Vorwort zu ei­ner missglückten Tucholsky-Ausgabe der Büchergilde Gutenberg 1957, die den Au­tor zum Nur-Humoristen verharmlost, schreiten beide Briefpartner Seit‘ an Seit‘, scheuen den juristischen Kampf ob der ad usum delphini getrimmten Ausgabe nicht, lassen das Buch nur mit einem distanzierenden Statement erscheinen, das Kestens Darstellung entlarvt.
Wie Hiller auch anderswo mit Recht erklärt hat, fehlte dort das (politische) Pseud­onym Ignaz Wrobel fast völlig. Aber Tucholsky war nicht in erster Linie ein berli­nernder Spaßvogel, sondern vor allem ein Kämpfer für Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
Ähnliches gilt aber auch für Mary, die ohne archivarische Kenntnisse für die Samm­lung und Verbreitung der nach NS-Bücherverbrennungen und Entfernung aus den Bibliotheken in alle Winde verstreuten Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge ihres Mannes betrifft. Dass Kurt Tucholsky jetzt zwanzigmal mehr Leser als zu Lebzei­ten hat, dass das Werk in 17 Sprachen übersetzt ist (S. 4) – das alles ist größtenteils Marys Verdienst.
Wir, die wir sie noch gekannt haben, wissen diese Ehre zu schät­zen: Wer in ihrem Wohnzimmer zum ersten Mal Ernst Buschs einmalige Interpre­tation des Antikriegsliedes Der Graben gehört hat, vergisst das nie. Die nach Kurt Tucholsky genannte Gesellschaft setzt sich zum Ziel, weiter im Geist der beiden Ehepartner zu forschen, zu lernen, zu lehren und zu leben. Dieses Buch ist zu empfehlen!

Ian King

Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972. Books on Demand Norderstedt 2016. 64 Seiten, kartoniert. 4,99 € ISBN 978-3-7412-8277-5

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[Rezension] Tucholsky – eine Revue – eine Hommage.

Neuer Triumph der Tucholsky-Bühne: Tucholsky – eine Revue – eine Hommage.
Nein, diesmal keine Premiere, die am 8. Januar in Minden aufgeführte Revue ist von den SchauspielerInnen der Kurt Tucholsky-Bühne unter Leitung von Eduard Schynol schon im September 2016 zum 20jährigen Jubiläum der Bühne uraufge­führt worden.
Also nur eine Wiederholung der beiden bisherigen Tucholsky-Biographicals dieses Ensembles? Mitnich­ten! Als erste Neuheit kündigte Moderator Bernd Brüntrup eine Weltpremiere an: Eine waschechte Tucholsky-Enkelin.
Die Abiturientin Maria Wrobel ist zwar mit Ignaz gleichen Namens weder versippt noch verschwägert, aber sie erwies sich als ausge­sprochen talentierte Sängerin. Ihre hauchende, wohl modulierte Stimme passte ideal zu den selbstkompo­nierten oder aus den USA stammenden Songs, dar­unter einer besonders schönen von Billie Holliday. Ein viel­versprechender erster Auftritt: Peter Panter, der Chanson-Abende rezensierte, hätte sich gefreut.
Dann die eigentliche Revue, mit in Minden wohlbekannten Darstellerinnen wie An­nette Duwenkamp-Bütow, Thea Luckfiel und der als furchterregenden Kriemhild in Erinnerung gebliebenen Antje Baumgart. Doch sollte an dieser Stelle eine zweite Neue herausgehoben werden. Susanne Spitzmüller übernahm es, mein Lieblings­lied Der Graben zu singen: Keine leichte Aufgabe, denn sie befand sich damit gewissermaßen in Idealkonkurrenz gegen die Aufnahmen von Ernst Busch und Gisela May. Doch ging sie mutig und entschlossen ans Werk, schuf eine gelungene Eigeninterpretation, riss das Publikum zu kurzem atemlosen Schweigen und dann zum begeisterten Beifall hin. Nach der Pause brillierte sie erneut als schüchternes Mädchen im Japan-Lied.
Der dritte Neue heißt Eduard Schynol. Ja doch, wir kennen ihn seit Jahren als be­gabten Regisseur, auch als Autor einiger Revue-Songs. Doch hier agierte der Mittel­feldregisseur nicht nur wie Günter Netzer aus der Tiefe des Raums, sondern glänz­te mit zwei Toren. Das erste, Ein älterer, aber leicht besoffener Herr, könnte sogar zum Tor des Monats werden, wobei die Besoffenheit des Wahlbeobachters nach reichli­chem Alk-Genuss bei jeder Wahlveranstaltung verständlich war. Hier galt der Ap­plaus nicht nur dem allseits beliebten und geachteten Ensemble-Chef, sondern vor allem diesem besonders gelungenen Auftritt, dem er als mit den Nerven fertige Ehefrau in Ein Glas klingt einen zweiten Erfolg, pardon, ein zweites Tor, folgen ließ.
Eine dritte Innovation: Die Verbindung des Gedichts Mutterns Hände mit der auf die Kanzlerin gemünzten Neuschöpfung »Muttis Hände«. Normalerweise vertrete ich bei Neuschreibungen von Tucholsky-Texten den Luther-Standpunkt: »Das Wort, ihr sollt es lassen stahn«. Doch hier muss zugegeben werden, dass das Originalgedicht leicht ins Kitschig-Sentimentale umkippen kann und meiner Ansicht nach nur durch den Gebrauch des Berliner Dialekts gerettet wird. (Empörte Zuschriften nehmen ich gern entgegen, beweisen sie doch, dass ihr diese Rezension tatsächlich bis hierher gelesen habt.) Zweitens finde ich die Parodie, wie Angie ihre männli­chen Konkurrenten in den Sack steckt (wegmerkelt?) so gelungen, dass sie vor den NRW- und Bundestagswahlen ein größeres Publikum verdiente. (Dabei deute ich nur meine sozialdemokratischen Sympathien an: In der Flüchtlingsfrage hat Frau Merkel sich tausendmal christlicher/menschlicher verhalten als die britischen Regierungspolitiker.)
Was sonst noch zu sagen wäre? Die Ensem­ble- bzw. von den Frauen vorgetragenen Stücke gut gelungen, obwohl es schwierig ist, gleichzeitig toll singen, gut tanzen und überzeugende Schauspielerinnen zu sein. (Weil ich in allen drei Disziplinen passen muss, will ich hier nicht als oberschlauer Kritiker gelten.) Die beiden Pianis­tinnen Anna Somogyi und Barbara Grote verdienen großes Lob. Ähnliches gilt meinem Kumpel, dem Moderator mit der Fliege, für seine klugen Überleitungen und Hin­weise auf politisch/menschliche Themen wie die Tausende 2016 im Mit­telmeer er­trunkenen Flüchtlinge sowie die allzu häufigen gegen Ausländer gerichte­ten Brand­anschläge.
Wie seine Witwe Mary oft betont hat, war Kurt Tucholsky nicht nur der beliebte Humorist, sondern auch der engagierte linke Humanist, der Deutschland und Europa noch heute manch guten Rat zu geben hätte. So gesehen, boten das für die »Nie-wieder-Krieg!«-Demonstrationen geschriebene Gedicht Drei Minuten Gehör! und die Anti-Nazi-Satire Rosen auf den Weg gestreut einen besonders gut gewählten Schlusspunkt.

Ian King

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[Rezension] Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky

Lesenotizen ohne Erkenntniswert: die Tucholsky Forschung ist gefordert
Anmerkungen zu Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972
Entweder war es die Naivität der Autorin, einen Briefwechsel zu lesen und den Lesevorgang ohne Erkenntnis bringende Belege und Zitate als Büchlein zu publizieren oder es war Inkompetenz zu meinen, dass sich ohne Recherche und Lesekontext ein Brief­wechsel erschließt, erst recht, wenn es sich um zeitgeschichtlich bedeutsame Briefthemen und Personenbezüge handelt. Auch wenn der Band nur als Book on Demand mit ISBN verlegt wurde, schadet es der Zunft, wenn ein Titel die Erwartungshaltung so fehlleitet.
Um auch den Mangel zu belegen, sei darauf verwiesen, dass nicht einmal die Titel­geber von der Autorin vorgestellt werden, geschweige das literarische Leseinteres­se am Briefwechsel. Statt einer publizistischen Fragestellung sind Gerüchte, Belang­losigkeiten und unbelegte Pauschalurteile berichtenswert.
Der erste einleitende Satz gilt Hiller:

Dass mancherlei Diskrepanz besteht zwischen dem öffentlichen und den privaten Äuße­rungen Kurt Hillers, kann als gesichert gelten. Eine ihm gelegentlich nachgesagte Frauen­feindlichkeit beruht womöglich auf der Generalisierung einzelner auch drastischer Äuße­rungen, bei denen er nicht unterschied zwischen den Geschmähten.

Und weiter:

Die etwa 20 Jahre (1952-1972) währende Korrespondenz Hillers mit Mary Tucholsky war jedoch nicht den Briefmarkengewohnheiten in Marys Briefmarkenbeigaben in Marys Sendungen geschuldet!!

Keine weiteren biografischen Erläuterungen zu dem Schriftsteller und Publizisten Kurt Hiller außer dem Hinweis, dass er

als (auch) politischer Gefährte der Weltbühne-Zeit Kurt Tucholsky eine nahezu unerschöpf­liche Informationsquelle für ihr [Marys] Archiv

war. Und zu

Mary Gerold-Tucholsky (1898-1987), die „geschiedene Witwe“ Kurt Tucholskys

fällt Brigitte Laube auf Seite 2 nur ein:

lebte seit 1949 am Tegernsee, damals wohl noch nicht im „Tal der Millionäre“, und Be­wohner wie Ex-Politiker, Mitglieder der DDR-Nomenklatura und Fußballgrößen“. Sie war mit ihrem Freund [F.J. Raddatz] nach Rottach gekommen. Das Haus, das sie dort bezogen, muss nach Kriegsende für ein nicht vermögendes Paar [sic!] aus dem völlig zerstör­ten Berlin ein wahres Refugium gewesen sein, in dem sie anfangs auch Fremdenzimmer ver­mieteten.

Wichtig erscheint der Autorin noch die Charakteristik Marys aus der Feder ihres ‚Partners‘ F.J. Raddatz: »Mary sei
eine stolze, herrische Frau, gleichwohl warmherzig und bescheiden, mit schwerem baltischen Ak­zent« und Laube lobt als Zusatzinformation zu M. T. die »erfolgreiche Aufbauarbeit für das zukünftige KT-Archiv«, das die Autorin im Marbacher Literaturarchiv eingesehen ha­ben will.
Man muss fragen, ob eine Einsicht erfolgte. Geforscht hat sie dort sicherlich nicht, schon der Anspruch wäre bei dem vorgelegten Ergebnis vermessen, nicht einmal nachgefragt hat die unbedarfte »Briefe-Leserin«, obwohl sie nirgendwo besser kompetente Auskunft und Kontextberatung hätte bekommen können.
Genug des Ärgernisses unserer Besprechungslektüre. Eigentlich könnte man mit Tucholskys Zitat, das Mary mehrfach beruhigend Hiller vorhält, sagen: »Schweigen und vorübergehen«, wenn nicht das Thema Hiller und Tucholsky im Spiegel der Quel­len (Texte und Briefe) so wichtig wäre.
Im Rahmen einer Rezension kann ich nur beispielhaft die im Briefwechsel Mary Tucholskys mit Kurt Hiller relevanten Themen ansprechen und als Anregung Lite­raturwegweiser benennen, die auch zur Lektüre des zur Rede stehenden Briefwech­sels in den Archiven qualifizieren könnten.
Eine wichtige Anfrage von Marys Seite aus erfolgte zum Brief Tucholskys an Ar­nold Zweig vom 15.12. 1935, in dem Tucholsky besonders brisant die Frage des Verhältnisses zwischen Judentum und Deutschtum angesprochen hat und sein um­strittenes Statement verschiedentlich als sein »politisches Testament« gelesen wur­de.
Marys Frage im Brief an Hiller, warum der Hrsg. der Neuen Weltbühne (NWB) Prag, Hermann Budislawski eine gekürzte Fassung am 6.2.1936 veröffentlichte, lässt sich über die Gesamtausgabe der Werke (GW 21, B155 mit Kommentar) erschließen. Dort wird auch erläuternd und zielführend für weitere Recherchen auf die Stel­lungnahme Kurt Hillers in der NWB vom 26.3.1936 hingewiesen, den Hiller mit »Tucholsky und der Selbsthass« betitelte. In Marbach wäre auch die weiterführende Forschungsliteratur einzusehen. Das Thema ist in der aktuellen Israeldebatte bren­nend genug, um die Diskussion wieder zu beleben.
Ein zweites Thema der brieflichen Korrespondenz ist das vor allem von Hiller po­lemisch attackierte Vorwort von Hermann Kesten in der lizensierten Tuchols­ky-Anthologie in der Büchergilde, deren pauschalisierende Urteile zu Tucholskys Werk zurecht und besonders für Hiller und Mary Tucholsky anstößig wirken müssen.
Es sei nur eine kleine Auswahl aus Kestens Wortwahl zitiert:

[Tucholsky] schrieb fürs Volk, witzig und sentimental / ein deutscher Humorist / Unter kleinen Leuten fühlte er sich zu Haus. Im kleinen Leben tummelte er sich. / Er schreibt fürs Haustheater eines lokalen Humoristen, für die »Weltbühnenleser«, die in Cafés deut­scher Provinzstädte regelmäßig zusammenkamen und voreinander die Witze und Glossen aus der »Weltbühne« repetierten / vergießt literarische Tränen und kritisiert und verspottet dasselbe, was das kleine literarische Volk auf allen Straßen verlacht und verhöhnt / Aus nationalen Tragödien machte er possierliche Harlekinaden. / Er hatte die wahre Weltan­schauung des großen Haufens. Er dachte wie Hinz und Kunz, wenigstens wie Hinz und Kunz denken sollen.

Dies sind nur Beispiele aus der ersten Seite des literarischen Charakterbildes, das Hermann Kesten Tucholsky zuschreibt. Originalzitate fehlen bei Brigitte Laube. Wer weiß, ob die Autorin den Text recherchiert hat. Diese Quelle ist aber notwen­dig, um die Kontroverse um die Vergabe der Lizenz an die Büchergilde und den Streit um das Vorwort von Hermann Kesten, der Tucholsky zum populistischen Provinzhumoristen degradiert, zu verstehen. Man kann den Text im Ullstein Tb. nachlesen: Hermann Kesten: Meine Freunde, die Poeten. Frankfurt/M – Berlin – Wien: Ull­stein Verlag 1953, Ullstein TB. 37101, S.131ff.
Die weiteren von Hiller an Mary herangetragenen publizistischen Kontroversen, die der aggressiv polemisierende Kurt Hiller gegen seine Erzfeinde u.a. Budis­lawski, Karl Vetter, Hermann Kesten führte, überfordern Mary, deren Interesse auf Quellen zu und über K.T. gerichtet ist. Sie zieht sich zunehmend aus der Kor­respondenz zurück. Die von Laube weiterhin nur nachlässig referierten Briefthe­men sind ohne eine Kommentierung für den Leser unergiebig.
Die Zeit wäre reif, die Rolle Kurt Hillers gegenüber seinem Kollegen Tucholsky neu zu erforschen. Gerade für die Zeit des antifaschistischen Kampfes am Ende der Weimarer Zeit, in der Hiller zeitweise mit Tucholsky und zeitweise auch in kla­rer Frontstellung zu Tucholskys publizistischer Strategie Stellung bezog, wäre eine systematische Erforschung des Quellenmaterial im Kurt Hiller Nachlass (Archiv Neuß) angeraten und hätte einer qualifizierten Auswertung des Briefwechsels ge­dient.
Um das politische Verhältnis der beiden Weltbühne-Autoren einschätzen zu kön­nen, ist es erforderlich u. a. die Kontroversen, die Hiller und Maximilian Harden gegenüber Tucholskys redaktionellem Engagement beim Pieron und zum Ullstein­schen Uhu austrugen oder den entsprechenden Diskussionen in der USPD und in der Gruppe revolutionärer Schriftsteller in den veröffentlichten Quellen nachzugehen.
Hillers Positionierung in seinem Vortrag »Über die Rolle der Intellektuellen in der proleta­rischen Revolution« (1929) und seine von der Weltbühne-Redaktion abweichende Be­wertung zum Freispruch im Weltbühne-Prozess 1931 über den Satz »Soldaten sind Mörder« wären in der aktuellen politischen Protestsituation spannend und motivie­ren eine quellenkritische Aktualisierung der Beschäftigung mit Kurt Hillers »Politischen Schriften und Briefen«.
Wer Recherchehinweise dazu sucht, sei verwie­sen auf die beiden Standardwerke zu Kurt Tucholskys politischem Journalismus (Michael Hepps einschlägige Biographische Annäherungen bei Rowohlt, zuerst 1993 erschienen, und der Marbacher Katalog Bd. 45: »Entlaufene Bürger« Tucholsky und die Seinen, 1990, mit Hilfe der jeweils unter dem Stichwort »Hiller, Kurt« gut erschlossenen Register). Besonders zu empfehlen ist für die Annäherung an den politischen Journalisten Kurt Hiller der instruktive Einleitungsessay von Stephan Reinhardt zu der von ihm herausgegebenen Anthologie: Kurt Hiller, Politische Publizistik von 1918-33 (Heidelberg: Wunderhorn Verlag 1983).
Und eine letzte Anmerkung zu der Briefschreiberin Mary Tucholsky, die in der For­schung sehr vernachlässigt wird. Ich habe vor Jahren, damals noch mit Unterstüt­zung von Antje Bonitz, eine Brieffolge der wechselseitigen Briefkorrespondenz zwischen Kurt und Mary Tucholsky zusammengestellt und dabei die faszinierende Briefschreiberin Mary entdeckt. Es wäre sehr wünschenswert, wenn die KTG an den Rowohlt Verlag die dringliche Bitte richten würde, diese Briefkorrespondenz geschlossen in einem Band zu publizieren. Im Jahr ihres 30. Todestages 2017 wäre die Jahresversammlung der KTG in Berlin gut beraten, einen solchen Vorstoß zu beschließen.

Harald Vogel

Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972. Books on Demand Norderstedt 2016. 64 Seiten, kartoniert. 4,99 € ISBN 978-3-7412-8277-5

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief April 2017 Rundbriefe

[Rezension] Jan Eik: Ost-Berlin, wie es wirklich war

Es gibt Geschenke, die besonders erfreuen, wenn es den Nerv des Beschenkten treffen. So lag eines Tages Ost-Berlin, wie es wirklich war – Erinnerungen aus der Hauptstadt der DDR von Jan Eik auf mei­nem Tisch. Ich freute mich riesig, dass sich Helmut Eikermann – so heißt er mit bürgerlichem Namen – gerade dieses Themas an­genommen hat und mir Stunden der Erinnerungen bescherte.
Ei­kermann, also Jan Eik, ist nicht nur Berliner und in Ost-Berlin auf­gewachsen, als Krimi-Autor mehrfach ausgezeichnet, als Sach­buch-Autor ebenso geschätzt, sondern auch Mitglied und Referent bei Tagungen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft. Somit ein Seelenverwandter.
»Ost-Berlin« sagte ich als Kind und Jugendliche übrigens nie. Mit »Berlin-Karls­horst im Osten« behalf ich mich. Auch »Hauptstadt der DDR« kam mir nie über die Lippen. Eine halbe Stadt als Hauptstadt zu bezeichnen, das widerstrebte ja nicht nur mir. Und dann »Karlshorst«, da gingen bei Erwähnung des Stadtteils oft die Augenbrauen hoch.
Jenseits der Treskowallee, später Hermann-Duncker-Straße, war russisches Sperr­gebiet. Später übernahmen die Stasi und manch andere DDR-Behörden die dorti­gen Villen und mehrstöckigen Wohngebäude. Wir lebten also sehr gut bewacht. In Karlshorst steht bis heute das ehemalige Offizierskasino der Wehrmacht, in dem die bedingungslose Kapitulation am 8. März 1945 unterschrieben wurde.
Doch zurück zu Jan Eik: Grenzen sind zum Schmuggeln da überschreibt er eines seiner 13 Kapitel. Und geschmuggelt wurde in Berlin viel. Eine Episode erlebte ich mit. Für die Turmuhr und deren Ziffern der frei gegebenen und sehr renovierungsbe­dürftigen evangelischen Kirche hatten kirchliche Dienststellen in Westberlin Blatt­gold zur Verfügung gestellt. Und wer holte es in seiner verschlissenen alten Akten­tasche über die Grenze? Mein Vater. Erst als dieser wieder heil mit seiner heißen Ware zu Hause eintraf, fand meine Mutter ihre Sprache wieder.
Noch vor dem Mauerbau lockten West-Berliner Kinos, Sportpalast und andere Ver­gnügungsstätten auch die Ost-Jugend an. Und chic wollte man als »Backfisch« ja auch sein. Um eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern in West-Berlin zu erwerben, hatte ich fleißig Ostmark gespart.
Sie kostete zwar nur 10 DM, für mich aber 50 Ostmark, die man umtauschen musste. Kess setzte ich sie nach dem Kauf in Neukölln auf dem Heimweg in der S-Bahn auf. Sie konnte ja ein Geschenk von Tante Elli sein…
Alltag in Ost-Berlin, auch den hat Jan Eik faktenreich beschrieben, wie ich auf jeder Seite des rund 250 Seiten großen Buches so viel Bekanntes und Selbsterlebtes wie­der entdeckte. Es spiegelt 40 Jahre einer Teilstadt und ihrer Entstehung wieder. Im­mer den »Westen« vor Augen, wo es ja ganz anders zuging, damit musste man als Kind erst einmal klar kommen. Somit war diese Zeit eine bewusst erlebte Zeit. Wer den Spruchbändern, der Agitation und sonstige Einschränkungen nicht folgen wollte, hatte es nicht leicht.
Hat nun Jan Eik das Buch nur für die Berliner geschrie­ben, wie sein Kollege Gerd Bosetzky („ky“) eines über West-Berlin?
Nicht wirklich, denn auch für Nicht-Berliner ist es unterhaltsam und interessant. Ost-Berlin wie es wirklich war könnte ergänzt werden: und was davon übrig blieb“. Denn auch die »Überreste« der 40 Jahre Ost-Berlin entgingen nicht dem scharfen Blick des Autors. Lesenswert, besonders weil der Berliner Autor Jan Eik und der Tucholsky-Freund Helmut Eikermann eine wunderbare Symbiose eingegangen sind.

Renate Bökenkamp

Jan Eik: Ost-Berlin, wie es wirklich war. Erinnerungen aus der Hauptstadt der DDR. Jaron-Verlag Berlin. 256 Seiten, kartoniert. 9,95 € ISBN 978-3-89773-800-3