Kategorien
Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief April 2017 Rundbriefe

[Rezension] Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky

Lesenotizen ohne Erkenntniswert: die Tucholsky Forschung ist gefordert
Anmerkungen zu Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972
Entweder war es die Naivität der Autorin, einen Briefwechsel zu lesen und den Lesevorgang ohne Erkenntnis bringende Belege und Zitate als Büchlein zu publizieren oder es war Inkompetenz zu meinen, dass sich ohne Recherche und Lesekontext ein Brief­wechsel erschließt, erst recht, wenn es sich um zeitgeschichtlich bedeutsame Briefthemen und Personenbezüge handelt. Auch wenn der Band nur als Book on Demand mit ISBN verlegt wurde, schadet es der Zunft, wenn ein Titel die Erwartungshaltung so fehlleitet.
Um auch den Mangel zu belegen, sei darauf verwiesen, dass nicht einmal die Titel­geber von der Autorin vorgestellt werden, geschweige das literarische Leseinteres­se am Briefwechsel. Statt einer publizistischen Fragestellung sind Gerüchte, Belang­losigkeiten und unbelegte Pauschalurteile berichtenswert.
Der erste einleitende Satz gilt Hiller:

Dass mancherlei Diskrepanz besteht zwischen dem öffentlichen und den privaten Äuße­rungen Kurt Hillers, kann als gesichert gelten. Eine ihm gelegentlich nachgesagte Frauen­feindlichkeit beruht womöglich auf der Generalisierung einzelner auch drastischer Äuße­rungen, bei denen er nicht unterschied zwischen den Geschmähten.

Und weiter:

Die etwa 20 Jahre (1952-1972) währende Korrespondenz Hillers mit Mary Tucholsky war jedoch nicht den Briefmarkengewohnheiten in Marys Briefmarkenbeigaben in Marys Sendungen geschuldet!!

Keine weiteren biografischen Erläuterungen zu dem Schriftsteller und Publizisten Kurt Hiller außer dem Hinweis, dass er

als (auch) politischer Gefährte der Weltbühne-Zeit Kurt Tucholsky eine nahezu unerschöpf­liche Informationsquelle für ihr [Marys] Archiv

war. Und zu

Mary Gerold-Tucholsky (1898-1987), die „geschiedene Witwe“ Kurt Tucholskys

fällt Brigitte Laube auf Seite 2 nur ein:

lebte seit 1949 am Tegernsee, damals wohl noch nicht im „Tal der Millionäre“, und Be­wohner wie Ex-Politiker, Mitglieder der DDR-Nomenklatura und Fußballgrößen“. Sie war mit ihrem Freund [F.J. Raddatz] nach Rottach gekommen. Das Haus, das sie dort bezogen, muss nach Kriegsende für ein nicht vermögendes Paar [sic!] aus dem völlig zerstör­ten Berlin ein wahres Refugium gewesen sein, in dem sie anfangs auch Fremdenzimmer ver­mieteten.

Wichtig erscheint der Autorin noch die Charakteristik Marys aus der Feder ihres ‚Partners‘ F.J. Raddatz: »Mary sei
eine stolze, herrische Frau, gleichwohl warmherzig und bescheiden, mit schwerem baltischen Ak­zent« und Laube lobt als Zusatzinformation zu M. T. die »erfolgreiche Aufbauarbeit für das zukünftige KT-Archiv«, das die Autorin im Marbacher Literaturarchiv eingesehen ha­ben will.
Man muss fragen, ob eine Einsicht erfolgte. Geforscht hat sie dort sicherlich nicht, schon der Anspruch wäre bei dem vorgelegten Ergebnis vermessen, nicht einmal nachgefragt hat die unbedarfte »Briefe-Leserin«, obwohl sie nirgendwo besser kompetente Auskunft und Kontextberatung hätte bekommen können.
Genug des Ärgernisses unserer Besprechungslektüre. Eigentlich könnte man mit Tucholskys Zitat, das Mary mehrfach beruhigend Hiller vorhält, sagen: »Schweigen und vorübergehen«, wenn nicht das Thema Hiller und Tucholsky im Spiegel der Quel­len (Texte und Briefe) so wichtig wäre.
Im Rahmen einer Rezension kann ich nur beispielhaft die im Briefwechsel Mary Tucholskys mit Kurt Hiller relevanten Themen ansprechen und als Anregung Lite­raturwegweiser benennen, die auch zur Lektüre des zur Rede stehenden Briefwech­sels in den Archiven qualifizieren könnten.
Eine wichtige Anfrage von Marys Seite aus erfolgte zum Brief Tucholskys an Ar­nold Zweig vom 15.12. 1935, in dem Tucholsky besonders brisant die Frage des Verhältnisses zwischen Judentum und Deutschtum angesprochen hat und sein um­strittenes Statement verschiedentlich als sein »politisches Testament« gelesen wur­de.
Marys Frage im Brief an Hiller, warum der Hrsg. der Neuen Weltbühne (NWB) Prag, Hermann Budislawski eine gekürzte Fassung am 6.2.1936 veröffentlichte, lässt sich über die Gesamtausgabe der Werke (GW 21, B155 mit Kommentar) erschließen. Dort wird auch erläuternd und zielführend für weitere Recherchen auf die Stel­lungnahme Kurt Hillers in der NWB vom 26.3.1936 hingewiesen, den Hiller mit »Tucholsky und der Selbsthass« betitelte. In Marbach wäre auch die weiterführende Forschungsliteratur einzusehen. Das Thema ist in der aktuellen Israeldebatte bren­nend genug, um die Diskussion wieder zu beleben.
Ein zweites Thema der brieflichen Korrespondenz ist das vor allem von Hiller po­lemisch attackierte Vorwort von Hermann Kesten in der lizensierten Tuchols­ky-Anthologie in der Büchergilde, deren pauschalisierende Urteile zu Tucholskys Werk zurecht und besonders für Hiller und Mary Tucholsky anstößig wirken müssen.
Es sei nur eine kleine Auswahl aus Kestens Wortwahl zitiert:

[Tucholsky] schrieb fürs Volk, witzig und sentimental / ein deutscher Humorist / Unter kleinen Leuten fühlte er sich zu Haus. Im kleinen Leben tummelte er sich. / Er schreibt fürs Haustheater eines lokalen Humoristen, für die »Weltbühnenleser«, die in Cafés deut­scher Provinzstädte regelmäßig zusammenkamen und voreinander die Witze und Glossen aus der »Weltbühne« repetierten / vergießt literarische Tränen und kritisiert und verspottet dasselbe, was das kleine literarische Volk auf allen Straßen verlacht und verhöhnt / Aus nationalen Tragödien machte er possierliche Harlekinaden. / Er hatte die wahre Weltan­schauung des großen Haufens. Er dachte wie Hinz und Kunz, wenigstens wie Hinz und Kunz denken sollen.

Dies sind nur Beispiele aus der ersten Seite des literarischen Charakterbildes, das Hermann Kesten Tucholsky zuschreibt. Originalzitate fehlen bei Brigitte Laube. Wer weiß, ob die Autorin den Text recherchiert hat. Diese Quelle ist aber notwen­dig, um die Kontroverse um die Vergabe der Lizenz an die Büchergilde und den Streit um das Vorwort von Hermann Kesten, der Tucholsky zum populistischen Provinzhumoristen degradiert, zu verstehen. Man kann den Text im Ullstein Tb. nachlesen: Hermann Kesten: Meine Freunde, die Poeten. Frankfurt/M – Berlin – Wien: Ull­stein Verlag 1953, Ullstein TB. 37101, S.131ff.
Die weiteren von Hiller an Mary herangetragenen publizistischen Kontroversen, die der aggressiv polemisierende Kurt Hiller gegen seine Erzfeinde u.a. Budis­lawski, Karl Vetter, Hermann Kesten führte, überfordern Mary, deren Interesse auf Quellen zu und über K.T. gerichtet ist. Sie zieht sich zunehmend aus der Kor­respondenz zurück. Die von Laube weiterhin nur nachlässig referierten Briefthe­men sind ohne eine Kommentierung für den Leser unergiebig.
Die Zeit wäre reif, die Rolle Kurt Hillers gegenüber seinem Kollegen Tucholsky neu zu erforschen. Gerade für die Zeit des antifaschistischen Kampfes am Ende der Weimarer Zeit, in der Hiller zeitweise mit Tucholsky und zeitweise auch in kla­rer Frontstellung zu Tucholskys publizistischer Strategie Stellung bezog, wäre eine systematische Erforschung des Quellenmaterial im Kurt Hiller Nachlass (Archiv Neuß) angeraten und hätte einer qualifizierten Auswertung des Briefwechsels ge­dient.
Um das politische Verhältnis der beiden Weltbühne-Autoren einschätzen zu kön­nen, ist es erforderlich u. a. die Kontroversen, die Hiller und Maximilian Harden gegenüber Tucholskys redaktionellem Engagement beim Pieron und zum Ullstein­schen Uhu austrugen oder den entsprechenden Diskussionen in der USPD und in der Gruppe revolutionärer Schriftsteller in den veröffentlichten Quellen nachzugehen.
Hillers Positionierung in seinem Vortrag »Über die Rolle der Intellektuellen in der proleta­rischen Revolution« (1929) und seine von der Weltbühne-Redaktion abweichende Be­wertung zum Freispruch im Weltbühne-Prozess 1931 über den Satz »Soldaten sind Mörder« wären in der aktuellen politischen Protestsituation spannend und motivie­ren eine quellenkritische Aktualisierung der Beschäftigung mit Kurt Hillers »Politischen Schriften und Briefen«.
Wer Recherchehinweise dazu sucht, sei verwie­sen auf die beiden Standardwerke zu Kurt Tucholskys politischem Journalismus (Michael Hepps einschlägige Biographische Annäherungen bei Rowohlt, zuerst 1993 erschienen, und der Marbacher Katalog Bd. 45: »Entlaufene Bürger« Tucholsky und die Seinen, 1990, mit Hilfe der jeweils unter dem Stichwort »Hiller, Kurt« gut erschlossenen Register). Besonders zu empfehlen ist für die Annäherung an den politischen Journalisten Kurt Hiller der instruktive Einleitungsessay von Stephan Reinhardt zu der von ihm herausgegebenen Anthologie: Kurt Hiller, Politische Publizistik von 1918-33 (Heidelberg: Wunderhorn Verlag 1983).
Und eine letzte Anmerkung zu der Briefschreiberin Mary Tucholsky, die in der For­schung sehr vernachlässigt wird. Ich habe vor Jahren, damals noch mit Unterstüt­zung von Antje Bonitz, eine Brieffolge der wechselseitigen Briefkorrespondenz zwischen Kurt und Mary Tucholsky zusammengestellt und dabei die faszinierende Briefschreiberin Mary entdeckt. Es wäre sehr wünschenswert, wenn die KTG an den Rowohlt Verlag die dringliche Bitte richten würde, diese Briefkorrespondenz geschlossen in einem Band zu publizieren. Im Jahr ihres 30. Todestages 2017 wäre die Jahresversammlung der KTG in Berlin gut beraten, einen solchen Vorstoß zu beschließen.

Harald Vogel

Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972. Books on Demand Norderstedt 2016. 64 Seiten, kartoniert. 4,99 € ISBN 978-3-7412-8277-5