Liebe Mitglieder und Freunde der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
der neue Rundbrief April 2017 ist erschienen. Sie können ihn hier (ohne Vereinsinterna) als pdf herunterladen.
Ausgewählte Beiträge sind zudem direkt als Einträge im Blog zu lesen:
[Stellungnahme] Zur Festsetzung von Deniz Yücel
[Stellungnahme] Zur Inhaftierung von Deniz Yücel
[Pressemitteilung] KTG lädt Deniz Yücel als Ehrengast ein
[Presseschau] Tucholsky im Spiegel
[Rezension] Tucholsky – eine Revue – eine Hommage
[Rezension] Marc Kayser: Ein Wochenende mit Tucholsky
[Rezension] Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky
[Rezension] Kurt Hiller/Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972
[Rezension] Jan Eik: Ost-Berlin, wie es wirklich war
Kategorie: Rundbrief April 2017
Linn und Gilbert in Rheinsberg
Marc Kayser hat Kurt Tucholskys weltberühmten Klassiker … ins Heute versetzt und ein neues Bilderbuch für Verliebte geschaffen
verspricht der Klappentext der mit dem Untertitel Liebeserklärung an Rheinsberg versehenen ersten Auflage des Bild- und Heimat-Verlages Berlin. Eine originelle Idee, mit heutigen Personen ein Pendant zum Original zu schaffen.
»Hätten wir es nicht besser ein wenig kleiner?« fragte sich der Rezensent allerdings, nachdem er am 30. März die Vorstellung des Büchleins im Tucholsky-Literaturmuseum in Rheinsberg miterlebt hatte. Wenn man schon weiß, dass die Claire-Wölfchen-Geschichte von 1911 jungen Leuten als Vorlage für ein freieres Liebesleben im illegalen Hotelbett, im schaukelnden Kahn oder im weichen Moos diente und ein reichliches Jahrhundert nach Werthers verklemmtem Liebeskummer manchem dazu verhalf, auf den Suizid vorerst noch zu verzichten und selbst in einer nach wie vor verspießerten Umgebung nach anderen Lösungswegen zu suchen, erschien mir das dem Prolog vorgestellte Versprechen
Für alle Liebenden, alle Geliebten und jene, die auf der Suche waren oder noch sind
– mit Verlaub – doch ein wenig hochgestochen.
Aber bekräftigen wir erst noch einmal das Positive: Der Gedanke, ein vom Alter und von den Lebenserfahrungen her reiferes Pärchen rund 100 Jahre später auf den Spuren Tucholskys durch das märkische Städtchen wandeln und rudern und erotisch brenzeln zu lassen, ist durchaus verlockend. Von den bislang 45 Rheinsberger Stadtschreibern seit 1992 haben zwar 35 eine Beziehung zum Städtchen und zur sanft geschwungenen Landschaft hergestellt. Aber bestenfalls zehn haben sich in ihrem literarischen Praktikum um einen Bezug zur Person des unbekannten Juristen und später berühmten Publizisten, vielseitigen Schreibers und anspruchsvollen Frauenfreundes K.T. bemüht. Einer von ihnen ist der in Potsdam lebende Journalist, Interviewer, Kriminalschriftsteller und Sachbuchschreiber Marc Kayser.
Einen weiteren Vorzug der Veröffentlichung – bezeichnen wir sie wie Tucholskys Tagebuch für Verliebte ebenfalls als Novelle – sehen wir darin, dass der Autor Personenforschung betreibt und vor allem die Claire Pimbusch alias Else Weil aus ihrem Inkognito holt. Er greift dabei die Spurensuche von Sunhild Pflug auf, die sich vor Jahren verdienstvoll um die im Tucholsky-Literaturmuseum veröffentlichte tragische Lebensdokumentation der jüdischen Ärztin bemühte.
Ein Glück, dass sich im Gästebuch einst die Eintragung der in London lebenden Gabriele Weil fand, Else-Claires Nichte, die sich gern auf Nachfragen zu ihrer geliebten rothaarigen Verwandtschaft einließ.
Dass sich das aktuelle Paar Linn und Gilbert nennt und nicht unbedingt englische Vornamen trägt, macht die Sache sympathisch. Dass die Angejahrten mit dem Auto über die 96 andüsen und nicht mit der Bahn über Löwenberg, ist bei der Situation der ostprignitzschen Umlandanbindungen und der im Winterhalbjahr dahinrostenden Gleise durchaus nachvollziehbar. Dagegen kann selbst Gilbert, laut Autor Kayser selbst Fahrplanmacher bei der Bahn, nichts ausrichten.
Dass die Liebe aus der Rheinsberger Umgebung und dem literarischen Vorbild Impulse erhalten kann, soll nicht in Zweifel gestellt werden und wird durch die Vignetten Klaus Ensikats romantisch unterstrichen. Und dass Linn nicht wie weiland die Claire
… gepackt und wie ein Wickelkind davongetragen wurde bis in die blumige Mulde… (Tucholsky, Rheinsberg)
findet durchaus unser der höheren Altersgruppe geschuldetes Verständnis. »Alles hat wohl seine Zeit«, sagt der in die Erzählung eingeführte alte Mann, der wie ein schwedischer Troll unseren Zeitgenossen immer wieder über den märkischen Weg schlurft. »Was früher einmal war, ist vorbei.« (S. 19).
»Das Städtchen von heute ist nicht mehr das Städtchen von einst«, konstatiert auch der Autor Kayser. Wahrlich. Wo jetzt noch ein stattliches Gebäude das Postamt verspricht, muss längst keins mehr drin sein. Andere Dienstleister haben nur ihr Gesicht verändert und das Angebot sogar erweitert: Der Kolonialwarenhändler Krummhaar bot einst Waren aus dem fernen Indien an – heute werben Lidl, Aldi und Edeka für Orangen aus Afrika, Erdbeeren aus Neuseeland und Knoblauch aus China. »Das sind die Kolonialhändler von heute«, bemerkt Gilbert (S. 25). Wo aber bleibt denn da Tucholskys Ratschlag an den Verbraucher, nur deutsche Zitronen zu kaufen?
Zu des aufmüpfigen Dichters Zeiten gab es noch kein Tucholsky-Literaturmuseum, keine Akademie für junge Sängerinnen und Sänger, keine Tucholsky-Buchhandlung und kein inzwischen aufgegebenes Tucholsky-Café mit nachdenklichen Lebensweisheiten an den Gasthauswänden. Zu DDR-Zeiten existierten außerdem ein Atomkraftwerk in der Nähe, ein Diabetiker-Heim im Rokoko-Schloß, und im Umfeld der Stadt warteten sowjetische Bündnis-Truppen auf den glücklicherweise nicht eingetretenen Ernstfall.
In Nachwendezeiten gab es Mobiltelefone und Smartphones, rekonstruierte und farbenfrohe Gebäude, aber auch provokatorische Veranstaltungen der Rechten, wie sie die Tucholsky-Fans zu ihrer zeitgleichen Jahrestagung im Herbst 2012 erlebten. Davon und von ähnlich gearteten Vorfällen ist allerdings in den Plaudereien zwischen oder mit dem Paar nicht die Rede.
Gut, dass der Autor eine Begegnung Linns und Gilberts mit dem Stadtschreiber arrangiert. Dadurch erfahren wir wenigstens etwas über das Wirken und das Leben des Rheinsberger Arztes Dr. Weidauer, an dessen Mut und Zivilcourage eine Gedenktafel am Hause seiner ehemaligen Praxis erinnert. Mit dem aktuellen barfüßigen Stadtschreiber kommen sie beiläufig ins Gespräch über Tucholsky, über seine glücklichen Tage mit Else Weil, über die Bücherverbrennung und den Tod des Dichters in Göteborg. »Du meinst, sein Geist hat hier Frieden gefunden?« fragt Linn ihren Gilbert. Der »stupst sie in die Seite«, und alles bleibt offen.
Die Kernfragen um die Liebe sind heute nicht neumodischer, als sie es schon 1911 waren.
stellt der Autor in seinem Epilog fest. Mag sein. Aber ich hatte etwas mehr Tucholsky und noch etwas mehr an zeitgeschichtlichen Ansätzen erhofft. Andererseits soll man nicht mehr erwarten, als der Autor von sich aus verspricht. Immerhin erwähnt er auch Tucholskys Mitarbeit an der Weltbühne. Über deren historische Umstände und die Nachfolger des Periodikums kamen wir nach der Lesung ins Gespräch.
Wir versprachen ihm Probe-Exemplare des Ossietzky – er versprach ein Abonnement. Und über die Nähe zur Tucholsky-Gesellschaft lässt sich sicher mit ihm reden.
Wolfgang Helfritsch
Zwei Schlüsselfiguren in Kurt Tucholskys Leben – die zweite Ehefrau und Alleinerbin (zunächst seiner Schulden) Mary und der Weltbühne-Mitstreiter, Kriegsgegner und antikommunistische Linke Kurt Hiller. Brigitte Laube hat den zwanzigjährigen Briefwechsel zwischen den beiden bis zu Hillers Tod in einem schmalen Bändchen geschildert und kommentiert.
Hiller galt bisher mancherorts als Frauenfeind – teils wegen eigener Homosexualität, teils wegen harter Kritik an bestimmten Frauen. Laube macht am Beispiel Mary Tucholskys deutlich, dass der Vorwurf unfair ist. Der cholerische Hiller hat zu den Menschen gehört, von denen es im Englischen kopfschüttelnd heißt, dass sie eine Schlägerei in einem leeren Raum anfangen könnten. Seine Ausbrüche gegen die KPD-nahe Zeitschrift »konkret« oder den Tucholsky-Verleger Ernst Rowohlt zeigen, dass er ihm missliebige Männer ebenfalls nicht verschonte. Die langjährige Korrespondenz mit der Witwe seines Mitkämpfers beweist jedoch Kollegialität und gegenseitige Wertschätzung: mindestens dieser Frau gegenüber hat Hiller relativ wenig Porzellan zerschlagen.
Dies nicht nur, wie Laube gleich zu Beginn ihrer Analyse anmerkt, wegen der Briefmarkenbeigaben in Marys Sendungen (S. 1). Hiller war leidenschaftlicher Philatelist, aber für Mary viel mehr, nämlich Berater und Helfer beim Aufbau ihres Rottacher Archivs – früher in ihrem Haus am Rosswandweg, heute Teil des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar.
Für Tucholsky-Freunde, die nicht das Glück hatten, Mary persönlich kennenzulernen, dürfte der 62 Seiten kleine Band eine Fundgrube sein. Wo Fritz J. Raddatz etwas gönnerhaft eine »stolze, herrische, gleichwohl warmherzige und bescheidene Frau« beschreibt (S. 4), gibt Laube durch Hillers Briefe Beispiele eben dieser Warmherzigkeit. Wie er sich über den Empfang – und das gute Essen! – im schönen Oberbayern freut, beschreibt beispielsweise ein Zitat auf Seite 34, das – nicht untypisch – sofort in eine Kritik an Raddatz wegen angeblichem Vertragsbruch übergeht.
Man liest, wie Mary ihren geschätzten Informanten oft zu beschwichtigen versucht, ihn aber auch gut kennt. Sie liest seine Briefe, wenn sie mal verzagt ist, denn »Wer kann sich so alterieren wie Sie?« (S. 51). Eine rein rhetorische Frage.
Andererseits: die zielstrebige Mary braucht Hillers Rat, als es um die Publikation der verzweifelten Briefe aus Tucholskys letzten Wochen an den Bruder Fritz und den Schriftsteller Arnold Zweig geht. Hiller rät von einer Veröffentlichung ab: zum Höhepunkt der Restaurationsepoche unter Adenauer könnte Tucholskys unbarmherzige Kritik an Deutschlands Linken und vor allem an seinen Juden von den Rechten instrumentalisiert werden. Im Streit um Hermann Kestens Vorwort zu einer missglückten Tucholsky-Ausgabe der Büchergilde Gutenberg 1957, die den Autor zum Nur-Humoristen verharmlost, schreiten beide Briefpartner Seit‘ an Seit‘, scheuen den juristischen Kampf ob der ad usum delphini getrimmten Ausgabe nicht, lassen das Buch nur mit einem distanzierenden Statement erscheinen, das Kestens Darstellung entlarvt.
Wie Hiller auch anderswo mit Recht erklärt hat, fehlte dort das (politische) Pseudonym Ignaz Wrobel fast völlig. Aber Tucholsky war nicht in erster Linie ein berlinernder Spaßvogel, sondern vor allem ein Kämpfer für Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
Ähnliches gilt aber auch für Mary, die ohne archivarische Kenntnisse für die Sammlung und Verbreitung der nach NS-Bücherverbrennungen und Entfernung aus den Bibliotheken in alle Winde verstreuten Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge ihres Mannes betrifft. Dass Kurt Tucholsky jetzt zwanzigmal mehr Leser als zu Lebzeiten hat, dass das Werk in 17 Sprachen übersetzt ist (S. 4) – das alles ist größtenteils Marys Verdienst.
Wir, die wir sie noch gekannt haben, wissen diese Ehre zu schätzen: Wer in ihrem Wohnzimmer zum ersten Mal Ernst Buschs einmalige Interpretation des Antikriegsliedes Der Graben gehört hat, vergisst das nie. Die nach Kurt Tucholsky genannte Gesellschaft setzt sich zum Ziel, weiter im Geist der beiden Ehepartner zu forschen, zu lernen, zu lehren und zu leben. Dieses Buch ist zu empfehlen!
Ian King
Neuer Triumph der Tucholsky-Bühne: Tucholsky – eine Revue – eine Hommage.
Nein, diesmal keine Premiere, die am 8. Januar in Minden aufgeführte Revue ist von den SchauspielerInnen der Kurt Tucholsky-Bühne unter Leitung von Eduard Schynol schon im September 2016 zum 20jährigen Jubiläum der Bühne uraufgeführt worden.
Also nur eine Wiederholung der beiden bisherigen Tucholsky-Biographicals dieses Ensembles? Mitnichten! Als erste Neuheit kündigte Moderator Bernd Brüntrup eine Weltpremiere an: Eine waschechte Tucholsky-Enkelin.
Die Abiturientin Maria Wrobel ist zwar mit Ignaz gleichen Namens weder versippt noch verschwägert, aber sie erwies sich als ausgesprochen talentierte Sängerin. Ihre hauchende, wohl modulierte Stimme passte ideal zu den selbstkomponierten oder aus den USA stammenden Songs, darunter einer besonders schönen von Billie Holliday. Ein vielversprechender erster Auftritt: Peter Panter, der Chanson-Abende rezensierte, hätte sich gefreut.
Dann die eigentliche Revue, mit in Minden wohlbekannten Darstellerinnen wie Annette Duwenkamp-Bütow, Thea Luckfiel und der als furchterregenden Kriemhild in Erinnerung gebliebenen Antje Baumgart. Doch sollte an dieser Stelle eine zweite Neue herausgehoben werden. Susanne Spitzmüller übernahm es, mein Lieblingslied Der Graben zu singen: Keine leichte Aufgabe, denn sie befand sich damit gewissermaßen in Idealkonkurrenz gegen die Aufnahmen von Ernst Busch und Gisela May. Doch ging sie mutig und entschlossen ans Werk, schuf eine gelungene Eigeninterpretation, riss das Publikum zu kurzem atemlosen Schweigen und dann zum begeisterten Beifall hin. Nach der Pause brillierte sie erneut als schüchternes Mädchen im Japan-Lied.
Der dritte Neue heißt Eduard Schynol. Ja doch, wir kennen ihn seit Jahren als begabten Regisseur, auch als Autor einiger Revue-Songs. Doch hier agierte der Mittelfeldregisseur nicht nur wie Günter Netzer aus der Tiefe des Raums, sondern glänzte mit zwei Toren. Das erste, Ein älterer, aber leicht besoffener Herr, könnte sogar zum Tor des Monats werden, wobei die Besoffenheit des Wahlbeobachters nach reichlichem Alk-Genuss bei jeder Wahlveranstaltung verständlich war. Hier galt der Applaus nicht nur dem allseits beliebten und geachteten Ensemble-Chef, sondern vor allem diesem besonders gelungenen Auftritt, dem er als mit den Nerven fertige Ehefrau in Ein Glas klingt einen zweiten Erfolg, pardon, ein zweites Tor, folgen ließ.
Eine dritte Innovation: Die Verbindung des Gedichts Mutterns Hände mit der auf die Kanzlerin gemünzten Neuschöpfung »Muttis Hände«. Normalerweise vertrete ich bei Neuschreibungen von Tucholsky-Texten den Luther-Standpunkt: »Das Wort, ihr sollt es lassen stahn«. Doch hier muss zugegeben werden, dass das Originalgedicht leicht ins Kitschig-Sentimentale umkippen kann und meiner Ansicht nach nur durch den Gebrauch des Berliner Dialekts gerettet wird. (Empörte Zuschriften nehmen ich gern entgegen, beweisen sie doch, dass ihr diese Rezension tatsächlich bis hierher gelesen habt.) Zweitens finde ich die Parodie, wie Angie ihre männlichen Konkurrenten in den Sack steckt (wegmerkelt?) so gelungen, dass sie vor den NRW- und Bundestagswahlen ein größeres Publikum verdiente. (Dabei deute ich nur meine sozialdemokratischen Sympathien an: In der Flüchtlingsfrage hat Frau Merkel sich tausendmal christlicher/menschlicher verhalten als die britischen Regierungspolitiker.)
Was sonst noch zu sagen wäre? Die Ensemble- bzw. von den Frauen vorgetragenen Stücke gut gelungen, obwohl es schwierig ist, gleichzeitig toll singen, gut tanzen und überzeugende Schauspielerinnen zu sein. (Weil ich in allen drei Disziplinen passen muss, will ich hier nicht als oberschlauer Kritiker gelten.) Die beiden Pianistinnen Anna Somogyi und Barbara Grote verdienen großes Lob. Ähnliches gilt meinem Kumpel, dem Moderator mit der Fliege, für seine klugen Überleitungen und Hinweise auf politisch/menschliche Themen wie die Tausende 2016 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge sowie die allzu häufigen gegen Ausländer gerichteten Brandanschläge.
Wie seine Witwe Mary oft betont hat, war Kurt Tucholsky nicht nur der beliebte Humorist, sondern auch der engagierte linke Humanist, der Deutschland und Europa noch heute manch guten Rat zu geben hätte. So gesehen, boten das für die »Nie-wieder-Krieg!«-Demonstrationen geschriebene Gedicht Drei Minuten Gehör! und die Anti-Nazi-Satire Rosen auf den Weg gestreut einen besonders gut gewählten Schlusspunkt.
Ian King
(Frage): Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
(Antwort): Tucholsky für seine Geradlinigkeit und seinen Humor
Hommage an Kurt Tucholsky
Schauspieler erinnern mit einer Revue an das Leben des Schriftstellers
Die Theatergruppe führt eine Hommage auf, in Erinnerung an die Anfänge, gemischt mit dem Biographical KurtT, das sie 2006 gespielt hat. Mit Songs und Texten aus der Feder des Berliner Journalisten und Satirikers erzählt das souverän agierende Ensemble aus seinem Leben. Seine Mutter kommt zu Wort, seine Frau Else Weil und auch seine Geliebte Mary Gerold. Mit der Marien-Kantorin Anna Somogyi am Flügel und der Sängerin Susanne Spitzmüller hat sich die Gruppe zwei hervorragende Musikerinnen als Verstärkung geholt. Ihre Interpretation des Gedichts Der Graben geht zu Herzen.
In Ossietzky Nr. 1, 7. Januar 2017, finden sich vor allem Nachrufe auf den am 15. Dezember 2016 verstorbenen Mitbegründer und Mitherausgeber Eckart Spoo, der auch unserer Gesellschaft ein steter Freund, hilfreicher Unterstützer und nimmermüder Ratgeber war.
Im Nachruf von Otto Köhler, zusammen mit dem leider auch bereits verstorbenen Lothar Kusche Träger des Kurt-Tucholsky-Preises 2013, heißt es auf S. 28 u. a.:
Wir von Ossietzky halten uns an das Beispiel, das Eckart Spoo uns gab, als er vor 19 Jahren schrieb: »Wir müssen wenigstens hinsehen. Möglichst genau hinsehen. Und uns erinnern. Dazu verpflichtet uns die Tradition, für die der Name Ossietzky steht.« In seinem Sinne verurteilte Eckart Spoo »das unverschämte Drängeln nach weltweiter militärischer ›Verantwortung‹« – dieses Orwell-Wort gab es damals schon, bevor dieser Bundespräsident Gauck es in den Mund nahm. Er verurteilte die »Aufmärsche gewalttätiger junger Nazis« vor allem in »Dresden« – damals jung, heute, zwanzig Jahre älter und noch gewalttätiger. Und auch daran hat sich nichts zum Besseren geändert: »der immer rabiatere Umgang mit Flüchtlingen wie mit den einheimischen Armen, das Ausräubern öffentlicher Einrichtungen, das Mitmachen der SPD, die sich bemüht, alles zu bestätigen, was Tucholsky einst bitter über sie geschrieben hat.«
Als die Bezirksverwaltung die seit mehr als hundert Jahren bestehende Bücherei in der Esmarchstraße schließen wollte, blieb es nicht bei Protesten. Stammbewohner und Zuzügler, Westler und Ostler besetzten die Bibliotheksräume, gründeten den Verein Pro Kiez als Träger und betreiben seit dem Sommer 2008 die Bibliothek ehrenamtlich. Das sagt sich so einfach, war aber mit einer Unzahl von Problemen und Konflikten verbunden; gesichert ist der Fortbestand der der Kurt-Tucholsky-Bibliothek bis heute nicht.
Auch das folgende Heft, Ossietzky Nr. 4, 18. Februar 2017, kommt nicht ohne unseren Namensgeber aus. Volker Bräutigam beginnt seinen kritischen Artikel über den Kanzlerkandidaten der SPD, Martin Schulz aus Würselen, in dessen Schatten sich nach Aussage von Schulz Aachen erst entwickeln konnte, unter der Überschrift »St. Martin und St. Michael« mit einem Tucholsky-Zitat:
Die SPD – Sie wissen schon, Tucholsky: die »Hier können Familien Kaffee kochen«-Partei – hat mit Martin Schulz wieder einen »Hoffnungsträger«. Das verkünden ihre Offiziellen, ohne rot zu werden, mit dieser Farbe haben es die Sozialdemokraten ohnehin nicht mehr so.
Die Merkhefte werden nunmehr von der Frölich & Kaufmann Verlag u. Versand GmbH aus Berlin in Kooperation mit der Zweitausendeins-Versand-Dienst GmbH, jetzt ansässig in Leipzig, herausgegeben und kostenlos verschickt.
Das aktuelle Merkheft Nr. 311 März/April 2017 ziert ein Hund mit einer zusammengefalteten Zeitung im Maul. Geworben wird damit schon auf der Titelseite für
Kurt Tucholsky
Bissiges über den Hund. Mit Illustrationen von Klaus Ensikat. Seite 6
Der Hund als Untergebener. Bissiges über Hunde und ihre Halter. Illustration von Klaus Ensikat.
Kaum ein Text Kurt Tucholskys rief bei seinen Lesern eine derart aufgebrachte Reaktion hervor wie sein satirischer Aufsatz Traktat über den Hund aus dem Jahr 1927. Auch in anderen Prosastücken, Feuilletons und Gedichten, die hier erstmals gesammelt vorliegen, hat sich der bekennende Katzenfreund Tucholsky humorvoll mit dem nicht immer unproblematischen Verhältnis zwischen Herrn und Hund auseinandergesetzt: »Es scheint wirklich so, dass die meisten Menschen hierzulande einen Hund nur deshalb besäßen, um noch einen unter sich zu haben.«
Auf der gleichen Seite wird noch folgendes Buch beworben. »Die komischen deutschen Erzähler«:Gerd Haffmans hat 119 Geschichten um die Wechselfälle des Lebens gruppiert und zum Lachen, Grinsen oder auch zu divertiertem Lippenkräuseln freigegeben. Geschichten u. a. von Wilhelm Busch, Heinz Erhardt, Franz Kafka, Erich Kästner, Mascha Kaléko, Loriot Thomas Mann, Harry Rowohlt, Kurt Tucholsky u.v.a.
Das ANALOGE muss sich radikalisieren.
»Die Dame« war in der Weimarer Republik eine revolutionäre Zeitschrift. Jetzt kommt sie zurück an den Kiosk. Nicht als Retro-Artefakt, sondern als Ausrufezeichen in der digitalen Welt.
Nun erscheint bei Springer eine Zeitschrift, die nicht nur gedruckt wird, sondern das auch noch besonders aufwendig. 1,5 Kilogramm wiegt sie, 292 Seiten hat sie, 15 Euro kostet sie. (…) Die Marke (…), die am 2. März an den Kiosk kommt, heißt Die Dame. Nicht irgendeine Dame, sondern eben Die Dame. Die Zeitschrift erschien zwischen 1912 und 1937 im Berliner Ullstein-Verlag. Für die Zeitschrift arbeiteten Autoren und Künstler wie Kurt Tucholsky, Hannah Höch, Tamara de Lempicka, Joachim Ringelnatz, Bertolt Brecht, Vicky Baum. Nach der Enteignung Ullsteins durch die Nazis ging die Zeitschrift an den »Deutschen Verlag«, wo sie bis 1943 erschien. Mit dem Frauenbild der Nazis hatte die Welt der Dame freilich nichts am eleganten Organzahut. Ein »Zentralorgan der Intelligenz der Weimarer Republik« nennt Christian Boros, Kunstsammler, Unternehmer und Herausgeber der neu aufgelegten Dame die Zeitschrift.
»Beim Barte des Proleten!« Da drückte mir doch im Umfeld der Tucholsky-Jahrestagung 2016 in Szczecin der Autor und Kabarettist Jürgen Klammer seine gleichnamige Dokumentation über die Berliner »Distel« in die Hand. Und die legte ich vor dem Auslesen nicht wieder aus derselben.
Lesenotizen ohne Erkenntniswert: die Tucholsky Forschung ist gefordert
Anmerkungen zu Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972
Entweder war es die Naivität der Autorin, einen Briefwechsel zu lesen und den Lesevorgang ohne Erkenntnis bringende Belege und Zitate als Büchlein zu publizieren oder es war Inkompetenz zu meinen, dass sich ohne Recherche und Lesekontext ein Briefwechsel erschließt, erst recht, wenn es sich um zeitgeschichtlich bedeutsame Briefthemen und Personenbezüge handelt. Auch wenn der Band nur als Book on Demand mit ISBN verlegt wurde, schadet es der Zunft, wenn ein Titel die Erwartungshaltung so fehlleitet.
Um auch den Mangel zu belegen, sei darauf verwiesen, dass nicht einmal die Titelgeber von der Autorin vorgestellt werden, geschweige das literarische Leseinteresse am Briefwechsel. Statt einer publizistischen Fragestellung sind Gerüchte, Belanglosigkeiten und unbelegte Pauschalurteile berichtenswert.
Der erste einleitende Satz gilt Hiller:
Dass mancherlei Diskrepanz besteht zwischen dem öffentlichen und den privaten Äußerungen Kurt Hillers, kann als gesichert gelten. Eine ihm gelegentlich nachgesagte Frauenfeindlichkeit beruht womöglich auf der Generalisierung einzelner auch drastischer Äußerungen, bei denen er nicht unterschied zwischen den Geschmähten.
Und weiter:
Die etwa 20 Jahre (1952-1972) währende Korrespondenz Hillers mit Mary Tucholsky war jedoch nicht den Briefmarkengewohnheiten in Marys Briefmarkenbeigaben in Marys Sendungen geschuldet!!
Keine weiteren biografischen Erläuterungen zu dem Schriftsteller und Publizisten Kurt Hiller außer dem Hinweis, dass er
als (auch) politischer Gefährte der Weltbühne-Zeit Kurt Tucholsky eine nahezu unerschöpfliche Informationsquelle für ihr [Marys] Archiv
war. Und zu
Mary Gerold-Tucholsky (1898-1987), die „geschiedene Witwe“ Kurt Tucholskys
fällt Brigitte Laube auf Seite 2 nur ein:
lebte seit 1949 am Tegernsee, damals wohl noch nicht im „Tal der Millionäre“, und Bewohner wie Ex-Politiker, Mitglieder der DDR-Nomenklatura und Fußballgrößen“. Sie war mit ihrem Freund [F.J. Raddatz] nach Rottach gekommen. Das Haus, das sie dort bezogen, muss nach Kriegsende für ein nicht vermögendes Paar [sic!] aus dem völlig zerstörten Berlin ein wahres Refugium gewesen sein, in dem sie anfangs auch Fremdenzimmer vermieteten.
Wichtig erscheint der Autorin noch die Charakteristik Marys aus der Feder ihres ‚Partners‘ F.J. Raddatz: »Mary sei
eine stolze, herrische Frau, gleichwohl warmherzig und bescheiden, mit schwerem baltischen Akzent« und Laube lobt als Zusatzinformation zu M. T. die »erfolgreiche Aufbauarbeit für das zukünftige KT-Archiv«, das die Autorin im Marbacher Literaturarchiv eingesehen haben will.
Man muss fragen, ob eine Einsicht erfolgte. Geforscht hat sie dort sicherlich nicht, schon der Anspruch wäre bei dem vorgelegten Ergebnis vermessen, nicht einmal nachgefragt hat die unbedarfte »Briefe-Leserin«, obwohl sie nirgendwo besser kompetente Auskunft und Kontextberatung hätte bekommen können.
Genug des Ärgernisses unserer Besprechungslektüre. Eigentlich könnte man mit Tucholskys Zitat, das Mary mehrfach beruhigend Hiller vorhält, sagen: »Schweigen und vorübergehen«, wenn nicht das Thema Hiller und Tucholsky im Spiegel der Quellen (Texte und Briefe) so wichtig wäre.
Im Rahmen einer Rezension kann ich nur beispielhaft die im Briefwechsel Mary Tucholskys mit Kurt Hiller relevanten Themen ansprechen und als Anregung Literaturwegweiser benennen, die auch zur Lektüre des zur Rede stehenden Briefwechsels in den Archiven qualifizieren könnten.
Eine wichtige Anfrage von Marys Seite aus erfolgte zum Brief Tucholskys an Arnold Zweig vom 15.12. 1935, in dem Tucholsky besonders brisant die Frage des Verhältnisses zwischen Judentum und Deutschtum angesprochen hat und sein umstrittenes Statement verschiedentlich als sein »politisches Testament« gelesen wurde.
Marys Frage im Brief an Hiller, warum der Hrsg. der Neuen Weltbühne (NWB) Prag, Hermann Budislawski eine gekürzte Fassung am 6.2.1936 veröffentlichte, lässt sich über die Gesamtausgabe der Werke (GW 21, B155 mit Kommentar) erschließen. Dort wird auch erläuternd und zielführend für weitere Recherchen auf die Stellungnahme Kurt Hillers in der NWB vom 26.3.1936 hingewiesen, den Hiller mit »Tucholsky und der Selbsthass« betitelte. In Marbach wäre auch die weiterführende Forschungsliteratur einzusehen. Das Thema ist in der aktuellen Israeldebatte brennend genug, um die Diskussion wieder zu beleben.
Ein zweites Thema der brieflichen Korrespondenz ist das vor allem von Hiller polemisch attackierte Vorwort von Hermann Kesten in der lizensierten Tucholsky-Anthologie in der Büchergilde, deren pauschalisierende Urteile zu Tucholskys Werk zurecht und besonders für Hiller und Mary Tucholsky anstößig wirken müssen.
Es sei nur eine kleine Auswahl aus Kestens Wortwahl zitiert:
[Tucholsky] schrieb fürs Volk, witzig und sentimental / ein deutscher Humorist / Unter kleinen Leuten fühlte er sich zu Haus. Im kleinen Leben tummelte er sich. / Er schreibt fürs Haustheater eines lokalen Humoristen, für die »Weltbühnenleser«, die in Cafés deutscher Provinzstädte regelmäßig zusammenkamen und voreinander die Witze und Glossen aus der »Weltbühne« repetierten / vergießt literarische Tränen und kritisiert und verspottet dasselbe, was das kleine literarische Volk auf allen Straßen verlacht und verhöhnt / Aus nationalen Tragödien machte er possierliche Harlekinaden. / Er hatte die wahre Weltanschauung des großen Haufens. Er dachte wie Hinz und Kunz, wenigstens wie Hinz und Kunz denken sollen.
Dies sind nur Beispiele aus der ersten Seite des literarischen Charakterbildes, das Hermann Kesten Tucholsky zuschreibt. Originalzitate fehlen bei Brigitte Laube. Wer weiß, ob die Autorin den Text recherchiert hat. Diese Quelle ist aber notwendig, um die Kontroverse um die Vergabe der Lizenz an die Büchergilde und den Streit um das Vorwort von Hermann Kesten, der Tucholsky zum populistischen Provinzhumoristen degradiert, zu verstehen. Man kann den Text im Ullstein Tb. nachlesen: Hermann Kesten: Meine Freunde, die Poeten. Frankfurt/M – Berlin – Wien: Ullstein Verlag 1953, Ullstein TB. 37101, S.131ff.
Die weiteren von Hiller an Mary herangetragenen publizistischen Kontroversen, die der aggressiv polemisierende Kurt Hiller gegen seine Erzfeinde u.a. Budislawski, Karl Vetter, Hermann Kesten führte, überfordern Mary, deren Interesse auf Quellen zu und über K.T. gerichtet ist. Sie zieht sich zunehmend aus der Korrespondenz zurück. Die von Laube weiterhin nur nachlässig referierten Briefthemen sind ohne eine Kommentierung für den Leser unergiebig.
Die Zeit wäre reif, die Rolle Kurt Hillers gegenüber seinem Kollegen Tucholsky neu zu erforschen. Gerade für die Zeit des antifaschistischen Kampfes am Ende der Weimarer Zeit, in der Hiller zeitweise mit Tucholsky und zeitweise auch in klarer Frontstellung zu Tucholskys publizistischer Strategie Stellung bezog, wäre eine systematische Erforschung des Quellenmaterial im Kurt Hiller Nachlass (Archiv Neuß) angeraten und hätte einer qualifizierten Auswertung des Briefwechsels gedient.
Um das politische Verhältnis der beiden Weltbühne-Autoren einschätzen zu können, ist es erforderlich u. a. die Kontroversen, die Hiller und Maximilian Harden gegenüber Tucholskys redaktionellem Engagement beim Pieron und zum Ullsteinschen Uhu austrugen oder den entsprechenden Diskussionen in der USPD und in der Gruppe revolutionärer Schriftsteller in den veröffentlichten Quellen nachzugehen.
Hillers Positionierung in seinem Vortrag »Über die Rolle der Intellektuellen in der proletarischen Revolution« (1929) und seine von der Weltbühne-Redaktion abweichende Bewertung zum Freispruch im Weltbühne-Prozess 1931 über den Satz »Soldaten sind Mörder« wären in der aktuellen politischen Protestsituation spannend und motivieren eine quellenkritische Aktualisierung der Beschäftigung mit Kurt Hillers »Politischen Schriften und Briefen«.
Wer Recherchehinweise dazu sucht, sei verwiesen auf die beiden Standardwerke zu Kurt Tucholskys politischem Journalismus (Michael Hepps einschlägige Biographische Annäherungen bei Rowohlt, zuerst 1993 erschienen, und der Marbacher Katalog Bd. 45: »Entlaufene Bürger« Tucholsky und die Seinen, 1990, mit Hilfe der jeweils unter dem Stichwort »Hiller, Kurt« gut erschlossenen Register). Besonders zu empfehlen ist für die Annäherung an den politischen Journalisten Kurt Hiller der instruktive Einleitungsessay von Stephan Reinhardt zu der von ihm herausgegebenen Anthologie: Kurt Hiller, Politische Publizistik von 1918-33 (Heidelberg: Wunderhorn Verlag 1983).
Und eine letzte Anmerkung zu der Briefschreiberin Mary Tucholsky, die in der Forschung sehr vernachlässigt wird. Ich habe vor Jahren, damals noch mit Unterstützung von Antje Bonitz, eine Brieffolge der wechselseitigen Briefkorrespondenz zwischen Kurt und Mary Tucholsky zusammengestellt und dabei die faszinierende Briefschreiberin Mary entdeckt. Es wäre sehr wünschenswert, wenn die KTG an den Rowohlt Verlag die dringliche Bitte richten würde, diese Briefkorrespondenz geschlossen in einem Band zu publizieren. Im Jahr ihres 30. Todestages 2017 wäre die Jahresversammlung der KTG in Berlin gut beraten, einen solchen Vorstoß zu beschließen.
Harald Vogel
Es gibt Geschenke, die besonders erfreuen, wenn es den Nerv des Beschenkten treffen. So lag eines Tages Ost-Berlin, wie es wirklich war – Erinnerungen aus der Hauptstadt der DDR von Jan Eik auf meinem Tisch. Ich freute mich riesig, dass sich Helmut Eikermann – so heißt er mit bürgerlichem Namen – gerade dieses Themas angenommen hat und mir Stunden der Erinnerungen bescherte.
Eikermann, also Jan Eik, ist nicht nur Berliner und in Ost-Berlin aufgewachsen, als Krimi-Autor mehrfach ausgezeichnet, als Sachbuch-Autor ebenso geschätzt, sondern auch Mitglied und Referent bei Tagungen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft. Somit ein Seelenverwandter.
»Ost-Berlin« sagte ich als Kind und Jugendliche übrigens nie. Mit »Berlin-Karlshorst im Osten« behalf ich mich. Auch »Hauptstadt der DDR« kam mir nie über die Lippen. Eine halbe Stadt als Hauptstadt zu bezeichnen, das widerstrebte ja nicht nur mir. Und dann »Karlshorst«, da gingen bei Erwähnung des Stadtteils oft die Augenbrauen hoch.
Jenseits der Treskowallee, später Hermann-Duncker-Straße, war russisches Sperrgebiet. Später übernahmen die Stasi und manch andere DDR-Behörden die dortigen Villen und mehrstöckigen Wohngebäude. Wir lebten also sehr gut bewacht. In Karlshorst steht bis heute das ehemalige Offizierskasino der Wehrmacht, in dem die bedingungslose Kapitulation am 8. März 1945 unterschrieben wurde.
Doch zurück zu Jan Eik: Grenzen sind zum Schmuggeln da überschreibt er eines seiner 13 Kapitel. Und geschmuggelt wurde in Berlin viel. Eine Episode erlebte ich mit. Für die Turmuhr und deren Ziffern der frei gegebenen und sehr renovierungsbedürftigen evangelischen Kirche hatten kirchliche Dienststellen in Westberlin Blattgold zur Verfügung gestellt. Und wer holte es in seiner verschlissenen alten Aktentasche über die Grenze? Mein Vater. Erst als dieser wieder heil mit seiner heißen Ware zu Hause eintraf, fand meine Mutter ihre Sprache wieder.
Noch vor dem Mauerbau lockten West-Berliner Kinos, Sportpalast und andere Vergnügungsstätten auch die Ost-Jugend an. Und chic wollte man als »Backfisch« ja auch sein. Um eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern in West-Berlin zu erwerben, hatte ich fleißig Ostmark gespart.
Sie kostete zwar nur 10 DM, für mich aber 50 Ostmark, die man umtauschen musste. Kess setzte ich sie nach dem Kauf in Neukölln auf dem Heimweg in der S-Bahn auf. Sie konnte ja ein Geschenk von Tante Elli sein…
Alltag in Ost-Berlin, auch den hat Jan Eik faktenreich beschrieben, wie ich auf jeder Seite des rund 250 Seiten großen Buches so viel Bekanntes und Selbsterlebtes wieder entdeckte. Es spiegelt 40 Jahre einer Teilstadt und ihrer Entstehung wieder. Immer den »Westen« vor Augen, wo es ja ganz anders zuging, damit musste man als Kind erst einmal klar kommen. Somit war diese Zeit eine bewusst erlebte Zeit. Wer den Spruchbändern, der Agitation und sonstige Einschränkungen nicht folgen wollte, hatte es nicht leicht.
Hat nun Jan Eik das Buch nur für die Berliner geschrieben, wie sein Kollege Gerd Bosetzky („ky“) eines über West-Berlin?
Nicht wirklich, denn auch für Nicht-Berliner ist es unterhaltsam und interessant. Ost-Berlin wie es wirklich war könnte ergänzt werden: und was davon übrig blieb“. Denn auch die »Überreste« der 40 Jahre Ost-Berlin entgingen nicht dem scharfen Blick des Autors. Lesenswert, besonders weil der Berliner Autor Jan Eik und der Tucholsky-Freund Helmut Eikermann eine wunderbare Symbiose eingegangen sind.
Renate Bökenkamp
Ich kenne Deniz Yücel in meiner Funktion als 1. Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft sowie als Mitglied der Jury, die ihm 2011 den KT-Preis vergab. Er bekam die Auszeichnung für seine „taz“-Kolumne „Vuvuzela“ zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft 2010.
Diese Arbeiten bewiesen, dass Deniz ein Satiriker von Format ist, mit funkelnden Wortspielen und eigenwilligen Sprachschöpfungen. Sie zeigten ihn auch als Freund der deutschen Sprache, der diese vor Phrasendreschern der Sportberichterstattung schützen wollte. Und last not least als Gegner von billigem Hurrapatriotismus, als Kämpfer gegen den Nationalwahn, als Europäer und Weltbürger. So wurde Deniz zum würdigen Träger des Kurt-Tucholsky-Preises.
Jetzt sitzt Deniz in einem türkischen Gefängnis. Präsident Erdoğan hat ihn ohne Anklage und Urteil als Terroristen bezeichnet. Das ist Deniz garantiert nicht. Er ist kein Freund der Mächtigen – aber seine Arbeiten für die taz und Die Welt beweisen: er ist ein lupenreiner Demokrat.
Die Türkei wurde in der Zwischenkriegszeit zu einem Zufluchtsort für antifaschistische deutsche Emigranten, zu einem demokratischen Rechtsstaat. Zur Demokratie gehört der Grundsatz der freien Meinungsäußerung, zum Rechtsstaat das Prinzip „Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils“. Jetzt hat die Türkei die Chance, sich im Falle Deniz Yücel als Demokratie und Rechtsstaat zu bewähren.
Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft ist sicher, dass das Land diese Chance ergreift und Deniz als unschuldig freilassen wird. Sie lädt Deniz Yücel zur Teilnahme an der diesjährigen Kurt Tucholsky-Preisverleihung am Sonntag 22. Oktober ins Theater im Palais, Berlin ein.
Dr. Ian King, 1. Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft