Zwei Schlüsselfiguren in Kurt Tucholskys Leben – die zweite Ehefrau und Alleinerbin (zunächst seiner Schulden) Mary und der Weltbühne-Mitstreiter, Kriegsgegner und antikommunistische Linke Kurt Hiller. Brigitte Laube hat den zwanzigjährigen Briefwechsel zwischen den beiden bis zu Hillers Tod in einem schmalen Bändchen geschildert und kommentiert.
Hiller galt bisher mancherorts als Frauenfeind – teils wegen eigener Homosexualität, teils wegen harter Kritik an bestimmten Frauen. Laube macht am Beispiel Mary Tucholskys deutlich, dass der Vorwurf unfair ist. Der cholerische Hiller hat zu den Menschen gehört, von denen es im Englischen kopfschüttelnd heißt, dass sie eine Schlägerei in einem leeren Raum anfangen könnten. Seine Ausbrüche gegen die KPD-nahe Zeitschrift »konkret« oder den Tucholsky-Verleger Ernst Rowohlt zeigen, dass er ihm missliebige Männer ebenfalls nicht verschonte. Die langjährige Korrespondenz mit der Witwe seines Mitkämpfers beweist jedoch Kollegialität und gegenseitige Wertschätzung: mindestens dieser Frau gegenüber hat Hiller relativ wenig Porzellan zerschlagen.
Dies nicht nur, wie Laube gleich zu Beginn ihrer Analyse anmerkt, wegen der Briefmarkenbeigaben in Marys Sendungen (S. 1). Hiller war leidenschaftlicher Philatelist, aber für Mary viel mehr, nämlich Berater und Helfer beim Aufbau ihres Rottacher Archivs – früher in ihrem Haus am Rosswandweg, heute Teil des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar.
Für Tucholsky-Freunde, die nicht das Glück hatten, Mary persönlich kennenzulernen, dürfte der 62 Seiten kleine Band eine Fundgrube sein. Wo Fritz J. Raddatz etwas gönnerhaft eine »stolze, herrische, gleichwohl warmherzige und bescheidene Frau« beschreibt (S. 4), gibt Laube durch Hillers Briefe Beispiele eben dieser Warmherzigkeit. Wie er sich über den Empfang – und das gute Essen! – im schönen Oberbayern freut, beschreibt beispielsweise ein Zitat auf Seite 34, das – nicht untypisch – sofort in eine Kritik an Raddatz wegen angeblichem Vertragsbruch übergeht.
Man liest, wie Mary ihren geschätzten Informanten oft zu beschwichtigen versucht, ihn aber auch gut kennt. Sie liest seine Briefe, wenn sie mal verzagt ist, denn »Wer kann sich so alterieren wie Sie?« (S. 51). Eine rein rhetorische Frage.
Andererseits: die zielstrebige Mary braucht Hillers Rat, als es um die Publikation der verzweifelten Briefe aus Tucholskys letzten Wochen an den Bruder Fritz und den Schriftsteller Arnold Zweig geht. Hiller rät von einer Veröffentlichung ab: zum Höhepunkt der Restaurationsepoche unter Adenauer könnte Tucholskys unbarmherzige Kritik an Deutschlands Linken und vor allem an seinen Juden von den Rechten instrumentalisiert werden. Im Streit um Hermann Kestens Vorwort zu einer missglückten Tucholsky-Ausgabe der Büchergilde Gutenberg 1957, die den Autor zum Nur-Humoristen verharmlost, schreiten beide Briefpartner Seit‘ an Seit‘, scheuen den juristischen Kampf ob der ad usum delphini getrimmten Ausgabe nicht, lassen das Buch nur mit einem distanzierenden Statement erscheinen, das Kestens Darstellung entlarvt.
Wie Hiller auch anderswo mit Recht erklärt hat, fehlte dort das (politische) Pseudonym Ignaz Wrobel fast völlig. Aber Tucholsky war nicht in erster Linie ein berlinernder Spaßvogel, sondern vor allem ein Kämpfer für Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
Ähnliches gilt aber auch für Mary, die ohne archivarische Kenntnisse für die Sammlung und Verbreitung der nach NS-Bücherverbrennungen und Entfernung aus den Bibliotheken in alle Winde verstreuten Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge ihres Mannes betrifft. Dass Kurt Tucholsky jetzt zwanzigmal mehr Leser als zu Lebzeiten hat, dass das Werk in 17 Sprachen übersetzt ist (S. 4) – das alles ist größtenteils Marys Verdienst.
Wir, die wir sie noch gekannt haben, wissen diese Ehre zu schätzen: Wer in ihrem Wohnzimmer zum ersten Mal Ernst Buschs einmalige Interpretation des Antikriegsliedes Der Graben gehört hat, vergisst das nie. Die nach Kurt Tucholsky genannte Gesellschaft setzt sich zum Ziel, weiter im Geist der beiden Ehepartner zu forschen, zu lernen, zu lehren und zu leben. Dieses Buch ist zu empfehlen!
Lesenotizen ohne Erkenntniswert: die Tucholsky Forschung ist gefordert Anmerkungen zu Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972 Entweder war es die Naivität der Autorin, einen Briefwechsel zu lesen und den Lesevorgang ohne Erkenntnis bringende Belege und Zitate als Büchlein zu publizieren oder es war Inkompetenz zu meinen, dass sich ohne Recherche und Lesekontext ein Briefwechsel erschließt, erst recht, wenn es sich um zeitgeschichtlich bedeutsame Briefthemen und Personenbezüge handelt. Auch wenn der Band nur als Book on Demand mit ISBN verlegt wurde, schadet es der Zunft, wenn ein Titel die Erwartungshaltung so fehlleitet.
Um auch den Mangel zu belegen, sei darauf verwiesen, dass nicht einmal die Titelgeber von der Autorin vorgestellt werden, geschweige das literarische Leseinteresse am Briefwechsel. Statt einer publizistischen Fragestellung sind Gerüchte, Belanglosigkeiten und unbelegte Pauschalurteile berichtenswert.
Der erste einleitende Satz gilt Hiller:
Dass mancherlei Diskrepanz besteht zwischen dem öffentlichen und den privaten Äußerungen Kurt Hillers, kann als gesichert gelten. Eine ihm gelegentlich nachgesagte Frauenfeindlichkeit beruht womöglich auf der Generalisierung einzelner auch drastischer Äußerungen, bei denen er nicht unterschied zwischen den Geschmähten.
Und weiter:
Die etwa 20 Jahre (1952-1972) währende Korrespondenz Hillers mit Mary Tucholsky war jedoch nicht den Briefmarkengewohnheiten in Marys Briefmarkenbeigaben in Marys Sendungen geschuldet!!
Keine weiteren biografischen Erläuterungen zu dem Schriftsteller und Publizisten Kurt Hiller außer dem Hinweis, dass er
als (auch) politischer Gefährte der Weltbühne-Zeit Kurt Tucholsky eine nahezu unerschöpfliche Informationsquelle für ihr [Marys] Archiv
war. Und zu
Mary Gerold-Tucholsky (1898-1987), die „geschiedene Witwe“ Kurt Tucholskys
fällt Brigitte Laube auf Seite 2 nur ein:
lebte seit 1949 am Tegernsee, damals wohl noch nicht im „Tal der Millionäre“, und Bewohner wie Ex-Politiker, Mitglieder der DDR-Nomenklatura und Fußballgrößen“. Sie war mit ihrem Freund [F.J. Raddatz] nach Rottach gekommen. Das Haus, das sie dort bezogen, muss nach Kriegsende für ein nicht vermögendes Paar [sic!] aus dem völlig zerstörten Berlin ein wahres Refugium gewesen sein, in dem sie anfangs auch Fremdenzimmer vermieteten.
Wichtig erscheint der Autorin noch die Charakteristik Marys aus der Feder ihres ‚Partners‘ F.J. Raddatz: »Mary sei
eine stolze, herrische Frau, gleichwohl warmherzig und bescheiden, mit schwerem baltischen Akzent« und Laube lobt als Zusatzinformation zu M. T. die »erfolgreiche Aufbauarbeit für das zukünftige KT-Archiv«, das die Autorin im Marbacher Literaturarchiv eingesehen haben will.
Man muss fragen, ob eine Einsicht erfolgte. Geforscht hat sie dort sicherlich nicht, schon der Anspruch wäre bei dem vorgelegten Ergebnis vermessen, nicht einmal nachgefragt hat die unbedarfte »Briefe-Leserin«, obwohl sie nirgendwo besser kompetente Auskunft und Kontextberatung hätte bekommen können.
Genug des Ärgernisses unserer Besprechungslektüre. Eigentlich könnte man mit Tucholskys Zitat, das Mary mehrfach beruhigend Hiller vorhält, sagen: »Schweigen und vorübergehen«, wenn nicht das Thema Hiller und Tucholsky im Spiegel der Quellen (Texte und Briefe) so wichtig wäre.
Im Rahmen einer Rezension kann ich nur beispielhaft die im Briefwechsel Mary Tucholskys mit Kurt Hiller relevanten Themen ansprechen und als Anregung Literaturwegweiser benennen, die auch zur Lektüre des zur Rede stehenden Briefwechsels in den Archiven qualifizieren könnten.
Eine wichtige Anfrage von Marys Seite aus erfolgte zum Brief Tucholskys an Arnold Zweig vom 15.12. 1935, in dem Tucholsky besonders brisant die Frage des Verhältnisses zwischen Judentum und Deutschtum angesprochen hat und sein umstrittenes Statement verschiedentlich als sein »politisches Testament« gelesen wurde.
Marys Frage im Brief an Hiller, warum der Hrsg. der Neuen Weltbühne (NWB) Prag, Hermann Budislawski eine gekürzte Fassung am 6.2.1936 veröffentlichte, lässt sich über die Gesamtausgabe der Werke (GW 21, B155 mit Kommentar) erschließen. Dort wird auch erläuternd und zielführend für weitere Recherchen auf die Stellungnahme Kurt Hillers in der NWB vom 26.3.1936 hingewiesen, den Hiller mit »Tucholsky und der Selbsthass« betitelte. In Marbach wäre auch die weiterführende Forschungsliteratur einzusehen. Das Thema ist in der aktuellen Israeldebatte brennend genug, um die Diskussion wieder zu beleben.
Ein zweites Thema der brieflichen Korrespondenz ist das vor allem von Hiller polemisch attackierte Vorwort von Hermann Kesten in der lizensierten Tucholsky-Anthologie in der Büchergilde, deren pauschalisierende Urteile zu Tucholskys Werk zurecht und besonders für Hiller und Mary Tucholsky anstößig wirken müssen.
Es sei nur eine kleine Auswahl aus Kestens Wortwahl zitiert:
[Tucholsky] schrieb fürs Volk, witzig und sentimental / ein deutscher Humorist / Unter kleinen Leuten fühlte er sich zu Haus. Im kleinen Leben tummelte er sich. / Er schreibt fürs Haustheater eines lokalen Humoristen, für die »Weltbühnenleser«, die in Cafés deutscher Provinzstädte regelmäßig zusammenkamen und voreinander die Witze und Glossen aus der »Weltbühne« repetierten / vergießt literarische Tränen und kritisiert und verspottet dasselbe, was das kleine literarische Volk auf allen Straßen verlacht und verhöhnt / Aus nationalen Tragödien machte er possierliche Harlekinaden. / Er hatte die wahre Weltanschauung des großen Haufens. Er dachte wie Hinz und Kunz, wenigstens wie Hinz und Kunz denken sollen.
Dies sind nur Beispiele aus der ersten Seite des literarischen Charakterbildes, das Hermann Kesten Tucholsky zuschreibt. Originalzitate fehlen bei Brigitte Laube. Wer weiß, ob die Autorin den Text recherchiert hat. Diese Quelle ist aber notwendig, um die Kontroverse um die Vergabe der Lizenz an die Büchergilde und den Streit um das Vorwort von Hermann Kesten, der Tucholsky zum populistischen Provinzhumoristen degradiert, zu verstehen. Man kann den Text im Ullstein Tb. nachlesen: Hermann Kesten: Meine Freunde, die Poeten. Frankfurt/M – Berlin – Wien: Ullstein Verlag 1953, Ullstein TB. 37101, S.131ff.
Die weiteren von Hiller an Mary herangetragenen publizistischen Kontroversen, die der aggressiv polemisierende Kurt Hiller gegen seine Erzfeinde u.a. Budislawski, Karl Vetter, Hermann Kesten führte, überfordern Mary, deren Interesse auf Quellen zu und über K.T. gerichtet ist. Sie zieht sich zunehmend aus der Korrespondenz zurück. Die von Laube weiterhin nur nachlässig referierten Briefthemen sind ohne eine Kommentierung für den Leser unergiebig.
Die Zeit wäre reif, die Rolle Kurt Hillers gegenüber seinem Kollegen Tucholsky neu zu erforschen. Gerade für die Zeit des antifaschistischen Kampfes am Ende der Weimarer Zeit, in der Hiller zeitweise mit Tucholsky und zeitweise auch in klarer Frontstellung zu Tucholskys publizistischer Strategie Stellung bezog, wäre eine systematische Erforschung des Quellenmaterial im Kurt Hiller Nachlass (Archiv Neuß) angeraten und hätte einer qualifizierten Auswertung des Briefwechsels gedient.
Um das politische Verhältnis der beiden Weltbühne-Autoren einschätzen zu können, ist es erforderlich u. a. die Kontroversen, die Hiller und Maximilian Harden gegenüber Tucholskys redaktionellem Engagement beim Pieron und zum Ullsteinschen Uhu austrugen oder den entsprechenden Diskussionen in der USPD und in der Gruppe revolutionärer Schriftsteller in den veröffentlichten Quellen nachzugehen.
Hillers Positionierung in seinem Vortrag »Über die Rolle der Intellektuellen in der proletarischen Revolution« (1929) und seine von der Weltbühne-Redaktion abweichende Bewertung zum Freispruch im Weltbühne-Prozess 1931 über den Satz »Soldaten sind Mörder« wären in der aktuellen politischen Protestsituation spannend und motivieren eine quellenkritische Aktualisierung der Beschäftigung mit Kurt Hillers »Politischen Schriften und Briefen«.
Wer Recherchehinweise dazu sucht, sei verwiesen auf die beiden Standardwerke zu Kurt Tucholskys politischem Journalismus (Michael Hepps einschlägige Biographische Annäherungen bei Rowohlt, zuerst 1993 erschienen, und der Marbacher Katalog Bd. 45: »Entlaufene Bürger« Tucholsky und die Seinen, 1990, mit Hilfe der jeweils unter dem Stichwort »Hiller, Kurt« gut erschlossenen Register). Besonders zu empfehlen ist für die Annäherung an den politischen Journalisten Kurt Hiller der instruktive Einleitungsessay von Stephan Reinhardt zu der von ihm herausgegebenen Anthologie: Kurt Hiller, Politische Publizistik von 1918-33 (Heidelberg: Wunderhorn Verlag 1983).
Und eine letzte Anmerkung zu der Briefschreiberin Mary Tucholsky, die in der Forschung sehr vernachlässigt wird. Ich habe vor Jahren, damals noch mit Unterstützung von Antje Bonitz, eine Brieffolge der wechselseitigen Briefkorrespondenz zwischen Kurt und Mary Tucholsky zusammengestellt und dabei die faszinierende Briefschreiberin Mary entdeckt. Es wäre sehr wünschenswert, wenn die KTG an den Rowohlt Verlag die dringliche Bitte richten würde, diese Briefkorrespondenz geschlossen in einem Band zu publizieren. Im Jahr ihres 30. Todestages 2017 wäre die Jahresversammlung der KTG in Berlin gut beraten, einen solchen Vorstoß zu beschließen.
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