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Tucholsky im Spiegel [Dezember 2017]

Die Presseschau erscheint dieses Mal sogar mit Preisrätsel.
Ulrich Sander, Journalist, Buchautor und Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), fährt jeden Montag nach Wuppertal, um im Landesbüro der VVN-BdA nach dem Rechten zu sehen. In Ossietzky, Heft 16/2017, berichtet er in der Ausgabe vom 26. August 2017, S. 561ff., über eine Begegnung mit einem erblindeten Menschen am 19. Januar 2015 auf eben diesem Weg, die bei ihm zu verschiedensten Assoziatio­nen zum Wort »Blindsein« führt.
Sein Artikel beginnt wie folgt:

Augen in der Großstadt ist eines der schönsten Gedichte, die ich kenne. Es ist ein Gedicht von Kurt Tucholsky. Es heißt darin:

Du musst auf deinem Gang

durch Städte wandern;

siehst einen Pulsschlag lang

den fremden Andern.

Es kann ein Feind sein,

es kann ein Freund sein,

es kann im Kampfe dein

Genosse sein…

Es sieht hinüber

und zieht vorbei…

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

die Braue, Pupillen, die Lider;

was da war?

Von der großen Menschheit ein Stück!

Vorbei, verweht, nie wieder.1

In der gleichen ossietzky-Ausgabe, diesmal Seite 579, sinniert Matthias Biskupek ironisch-satirisch über die Bedeutung bzw. Notwendigkeit von »Schnipseln«, mal auch »Aphorismen« oder sogar »geistreiche Sinnsprüche«. Natürlich darf bei so einer Betrachtung ein Hinweis auf den »größten Schnipsler aller Zeiten« (diese Bewertung stammt von dem Unterzeichner) – unseren Na­mensgeber – nicht fehlen.
Biskupek kriegt die entsprechende Kurve wie folgt:

Wir könnten an dieser Stelle den Text bis auf höchste Zinnen, also über alle Sinne Treiben, wollen aber doch nun endlich die Produktionsmethode von Aphorismen verraten. Man suche einen Text wie diesen und entnehme daraus folgendeAphorismen:

1. Auch Schnipsel können eine Seite füllen.

2. Langweilig ist noch nicht ernsthaft.

3. Auch geistreiche Sprüche benötigen ein Portal.

4. Wenn einer nichts gelernt hat, dann organisiert er. Wenn einer aber gar nichts gelernt und nichts zu tun hat, dann macht er Propaganda.

5. »Twittern« ist nur für Menschen mit abnehmendem Verstand

6. Wer lobt, wird selten nach seiner Aktivlegitimation gefragt.

7. Wer nicht gern nimmt, kann uns gern haben.

8. Erwarte nichts. Heute: das ist dein Leben.

9. Humor ruht oft in der Veranlagung von Menschen, die kalt bleiben, wo die Masse tobt, und die dort erregt sind, wo die meisten nichts dabei fin­den.

10. Er war eitel darauf, nicht eitel zu sein.

11. Er trug sein Herz in der Hand und ruhte nicht eher, bis sie ihm aus der Hand fraß.

12. Wann macht man aus der Gleichberechtigung endlich eine Gleichbe­richtigung?

Sie Sehen, wir haben im Nu ein Dutzend Aphorismen bei der Hand. Gewiss, die Nummern (…)* stammen von Kurt Tucholsky und wurden als Schnipsel in der Weltbühne 1931 und 1932 gedruckt.

*Nun das Preisrätsel.
Zuerst das Rätsel: Welche der obigen Aphorismen stammen von unserem Na­mensgeber?
Jetzt der Preis: Eine Essenseinladung mit Getränken bei dem Unterzeichner in Minden ohne Übernahme der Fahrt- und eventuellen Übernachtungskosten. Werden zusätzlich noch die Fundstellen richtig angegeben, gilt die Einladung zu den gleichen Konditionen auch für eine Begleitperson. Einsendeschluss ist der 6. Januar 2018, 24:00 Uhr.
Entscheidend ist im Zweifels­falle der Poststempel, aber nur falls eine #FreeDeniz-Briefmarke benutzt wird.
Bei mehreren richtigen Einsendungen hat allein der Unterzeichner ein Wahl­recht, mit wem er am liebsten dinieren möchte.
In der taz vom 4. November 2017 bespricht der Autor Helmut Höge ein Buch von Cat Warren, erschienen im Kynos-Verlag 2017: Der Geruch des Todes. Ein­sätze eines Leichenspürhundes unter der Überschrift: Drogen, Bomben, Leichen. Weil unser Geruchssinn verkümmert ist, trainie­ren wir Leichenspürhunde. Aber auch Bienen und Schimpansen haben eine feine Nase.

Und wie nicht anders zu erwarten, muss bei einem Buch über Hunde auch der spezielle »Hundefreund« Kurt Tucholsky zu Wort kommen.

Der englische Soldat Hugh Loftin verfasste 1917 – umgeben von toten Tie­ren und Menschen auf dem Schlachtfeld – ein Kinderbuch, das berühmt wurde: »Dr. Dolittle und seine Tiere«. Kurt Tucholsky schrieb: »Es kommt darin Jip, der Hund von Dr. Dolittle, vor, der sehr gut riechen kann. Einmal lag er auf dem Deck eines Schiffes und witterte, wo der verlorene Onkel wohl sein könnte (es war da ein Onkel verloren gegangen). Er stellte sich hin, zog die Luft ein und analysierte. Dabei murmelte er:Teer, spanische Zwiebeln, Petroleum, nasse Regenmäntel, zerquetschte Lorbeerblätter, brennender Gummi, Spitzengardinen, die gewaschen – nein, ich irre mich, Spitzengardinen, die zum Trocknen aufgehängt worden sind, und Füchse – zu Hunderten – junge Füchse – und Ziegelsteine‹, flüsterte er ganz leise, ›alte gelbe Ziegel, die vor Alter in einer Gartenmauer zerbröckeln; der süße Geruch von jungen Kühen, die in einem Gebirgsbach stehen; das Blei­dach eines Taubenschlags – oder vielleicht eines Kornbodens – mit darauf­liegender Mittagssonne, schwarze Glacéhandschuhe in einer Schreibtisch­schublade aus Walnussholz; eine staubige Straße mit Trögen unter Plata­nen zum Pferdetränken; kleine Pilze, die durch verfaultes Laub hindurch­brechen‹, und – und – und. Das ist nicht gemacht – das ist gefühlt«2, freu­te sich Tucholsky.

Bernd Brüntrup, mit Dank an Philipp Müller. Wie immer können alle vollständigen Texte bei der Geschäftsstelle abgerufen werden.

1 Theobald Tiger, AIZ (1930), Nr. 11; GA, Bd. 13, S. 97f.
2Peter Panter, Voss 10.12.1925; GA, Bd. 7, S. 540ff, 543