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Darmstädter Signal: Kurt Tucholsky postum zum Ehrenmitglied ernannt

Der Arbeitskreis Darmstädter Signal hat Kurt Tucholsky posthum zu seinem Ehrenmitglied ernannt. Die Initiative dazu ging aus von unserem KTG-Mitglied Jürgen Rose, der zugleich auch im Vorstand des Darmstädter Signals sitzt.
Das Darmstädter Signal, gegründet 1983 von kritischen Führungskräften der Bundeswehr, wandte sich gegen die Nachrüstung, unterstützt die Friedensbewegung und fordert die Umsetzung des „Leitbilds vom Staatsbürger in Uniform“ in der Bundeswehr sowie die strikte Bindung des Auftrags der Bundeswehr an Moral und nationales sowie internationales Recht. Bis heute ist das Darmstädter Signal das einzige kritische Sprachrohr von Bundeswehrführungskräften und deren Angehörigen.
Auf der diesjährigen Tagung des DS am 08.04.2018 in Königswinter übergab der Vorsitzende Florian Kling die Ernennungsurkunde an unseren KTG-Vorsitzenden Ian King.
Der „Festakt“ vor 40 Teilnehmern mit Vorträgen von Jürgen Rose und Ian King machte deutlich, dass Kurt Tucholsky beim Darmstädter Signal gut aufgehoben ist.
KT kannte die Reichswehr aus allen Blick- und Erfahrungswinkeln, denn er legte im 1. Weltkrieg eine erstaunliche Karriere hin vom Armierungssoldaten im Stellungskampf an der Ostfront über den Kompanieschreiber an der Fliegerschule in Alt-Autz bis zum Feldpolizeikommissar in Rumänien. Das entspricht immerhin dem Rang eines Hauptmanns.
Direkt nach dem 1. Weltkrieg entwickelte sich Tucholsky insbesondere mit seinen „Militaria-Artikeln“ in der Weltbühne zu einem der fundiertesten Militärkritiker im linksliberalen, demokratischen und republikanischen Spektrum. Später wandelte sich Tucholsky vom Militärkritiker zu einem radikalen Pazifisten und konsequenten Militärgegner, der sich für Kriegsdienstverweigerung aussprach und mit dem Satz „Soldaten sind Mörder“ ein hartes aber treffendes Urteil über den Soldatenberuf fällte.
In seinem Einführungsvortrag verglich Jürgen Rose die Militärkritik Tucholskys mit dem Konzept der „Staatsbürgers in Uniform“ des Wolf Graf von Baudissin, das er im Jahr 1950 Im Auftrag der Bundesregierung zur Umsetzung der „inneren Führung“ in der noch zu gründenden Bundeswehr      ausgearbeitet hat. Die Gemeinsamkeiten sowohl in der Kritik am soldatischen Korpsgeist als auch bei Lösungsvorschlägen für eine Demokratisierung der Streitkräfte bis hin zu einer fast gleichen Wortwahl in manchen Punkten sind verblüffend. Hätte Kurt Tucholsky das gewusst, wäre sein Urteil „Erfolgreich, aber keinerlei Wirkung“ etwas versöhnlicher ausgefallen. Vielleicht sitzt Kurt „Nachher“ auf seiner Wolke und schmunzelt.
Baudissin beantwortet die zentrale Fragestellung der inneren Führung mit dem Konzept der „Entmilitarisierung des soldatischen Selbstverständnisses“. Seine Forderungen beziehen sich auf die innerorganisatorische, die binnengesellschaftliche und internationale Perspektive der soldatischen Berufsausübung. Eine „Zivilisierung des Militärs“ ist nach Baudissin erreicht, wenn Streitkräfte menschrechtskompatibel, demokratiekompatibel und friedenskompatibel sind.
Der elitäre Korpsgeist, der sowohl in der Reichswehr als auch in Wehrmacht herrschte, müsse überwunden werden. Die Demokratie dürfe „nicht am Kasernentor aufhören“. Baudissin knüpfte die Existenzberechtigung des Militärs an eine strikt defensive Ausrichtung der Streitkräfte zur Verteidigung von Demokratie und Freiheitsrechten und konzipierte die Bundeswehr in enger Einbindung in eine noch zu schaffende europäische Sicherheitsarchitektur.
Jürgen Rose verglich nun in seinem Vortrag die Ideen und Vorstellungen Baudissins für eine „demokratische Bundeswehr“ mit der von Kurt Tucholsky geäußerten Kritik und Änderungsvorschlägen für die Reichswehr in der Weimarer Republik ab. Dabei klopfte er die einschlägigen Aussagen Tucholskys mit Bezug auf die innerorganisatorische, die binnengesellschaftliche sowie die internationale Dimension von Streitkräften daraufhin ab, inwieweit sie zur Verbesserung der Menschenrechtskompatibilität, der Demokratiekompatibilität sowie der Friedenskompatibilität der Streitkräfte beitragen können. Jürgen Roses Ergebnisse des Vergleichs sollen hier kurz – aber hoffentlich nicht verkürzt skizziert werden.
Mit Bezug auf die innerorganisatorische Dimension rechnete Tucholsky in der 1919 in der Weltbühne erschienene „Militaria“-Reihe mit den deutschen Offizierskorps ab. Er verweist dabei auf die sadistische Schinderei von Untergebenen, die unumschränkte Macht der Vorgesetzten, deren „nerohafte Neigungen“ sowie die grassierende Korruption und attestierte dem wilhelminischen Offizierskorps den totalen moralischen Bankrott. „Der deutsche Offizier hat in sittlicher Beziehung im Kriege versagt. Der Geist des deutschen Offizierskorps war schlecht.“
Für eine zukünftige Truppe verlangte Tucholsky, dass deren Soldaten das Recht haben müssten als Menschen und nicht als Kerls behandelt zu werden. Für Tucholsky war daher klar, dass die Armeeangehörigen untereinander ungeachtet ihres Dienstgrades allesamt als Kameraden zu gelten hätten „Der Offizier sei ein befehlender Kamerad.“ Die Nähe zu Baudissins Konzept der „inneren Führung“ ist offensichtlich.
Mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Dimension der Streitkräfte forderte Tucholsky kurz nach dem Kapp-Putsch die Auflösung der Reichswehr und deren Umwandlung „in eine zuverlässige Volksmiliz“. Einer solchen Freiwilligenarmee gestand auch der spätere Pazifist Tucholsky noch das Recht für militärische Aktivitäten zu. Schon kurz nach dem 1. Weltkrieg urteilte Tucholsky aber grundsätzlich: „Eine Armee … ist – im besten Fall – ein notwendiges Übel und eine üble Notwendigkeit“
Nach Tucholskys Ansicht dürfe die neue Reichswehr nicht unpolitisch sein. Im Gegenteil sie müsse durch und durch politisch, ja sogar definitiv republikanisch sein. Damit ist Tucholsky in seiner Haltung, so urteilt Jürgen Rose, weitaus radikaler als Wolf Graf von Baudissin, der mehr als 30 Jahre später lediglich eine „Entmilitarisierung des soldatischen Selbstverständnisses“ fordert.
Auch in Bezug auf die internationale Dimension vertraten Tucholsky wie Baudissin eine europäisch-supranationale Sicht, Tucholsky schloss dabei aber bereits Militäreinsätze aus. Während Baudissin, so Jürgen Rose in seinem Vortrag, eine explizit nicht national, sondern „übernational“ strukturierte integrierte europäische Armee zum Zwecke kollektiver Verteidigung forderte, setzte Tucholsky  – als dieser sich bereits in seiner pazifistischen Phase Ende der 20ger Jahre befand – auf eine europäische Friedenspolitik ohne Einsatz des Militärs. „Der europäische Friede steht über den niederen Interessen der Vaterländer. … Wir halten den Krieg der Nationalstaaten für ein Verbrechen, und wir bekämpfen ihn, wo wir können, wann wir können, mit welchen Mitteln wir können. Wir sind Landesverräter. Aber wir verraten einen Staat, den wir verneinen, zugunsten eines Landes, das wir lieben, für den Frieden und für unser wirkliches Vaterland: Europa“ zitiert Jürgen Rose Tucholsky.
Abschließend versuchte Jürgen Rose eine Antwort auf die Frage zu geben, was von den Forderungen, Vorschlägen, Appellen, Mahnungen der beiden Militärkritiker und -reformer heutzutage als verwirklicht gelten darf. Seine Antwort: „Einiges ja, vieles nicht und insgesamt zu wenig.“ Er beklagt insbesondere den dreifachen Sündenfall gegen die Idee einer Friedenarmee nämlich 1999 bei der Beteiligung Deutschlands am Luftkrieg gegen Jugoslawien, erneut 2001 im Zuge der Invasion  in Afghanistan sowie 2003, als die Bundeswehr das völkerrechtliche nicht gedeckte Vorgehen der USA und ihrer Alliierten gegen den Irak unterstützte.
Ein weiteres gravierendes Manko, so Jürgen Rose, betreffe die bis jetzt ungenutzte Chance zur inneren Demokratisierung der Bundeswehr.
Am Ende seiner Analyse stellt Jürgen Rose fest, „dass Tucholsky zwar richtungsweisende und partiell durchaus revolutionäre Ideen und Vorschläge zu einer Militärreform zu liefern vermochte, diesbezüglich indes nie eine konsistente und umfassende Konzeption vorgelegt hat. Tuchos Denkansätze spiegeln sich nach Meinung von Jürgen Rose in der späteren Militärreform Baudissins wider, auch wenn sich in dessen Schriften keine Hinweise hierfür nachweisen lassen – der Name Kurt Tucholskys taucht jedenfalls in Baudissins umfänglichen Schriftensammlungen … nicht auf.“
Nach dem Vergleich von Tucholskys Militärkritik der frühen 20er Jahre mit Baudissins Konzept der „inneren Führung“ durch Jürgen Rose nahm Ian King in seiner „Laudatio“ den Pazifisten Tucholsky in den Blick und ging dabei auch auf den Kontext und Entstehungsgeschichte des bekannten Tucholsky-Zitates „Soldaten sind Mörder!“ sowie dessen Rezeption in den späten 80er und 90er Jahren in der Bundesrepublik ein.
Zuerst bedankte sich Ian King für den Mut des Darmstädter Signals, Kurt Tucholsky zum Ehrenmitglied zu ernennen. Würde dieser doch sehr häufig mit seinem Ausspruch „Soldaten sind Mörder“ identifiziert und als „Beleidiger der Soldatenehre“ verunglimpft, ohne Beachtung des Kontextes des Artikels, aus dem dieses Zitat stammt.
Ian King zitiert einen längeren Auszug aus „Der bewachte Kriegsschauplatz“ in dem das angeführte Zitat die letzte Schlussfolgerung ist. Der Artikel ist Ausfluss der Erfahrungen Tucholskys in seiner Dienstzeit als Militärpolizist unweit der rumänische-serbischen Grenze. Er war dort u.a. für die Aufgabe der Bewachung des Kriegsschauplatzes eingesetzt. Natürlich wusste Tucholsky als Jurist, dass der Begriff „Mörder“ niedrige Beweggründe voraussetzt. Juristisch genauer wäre der Begriff „Totschlag“ gewesen. Doch Ian King gibt mit seinem trockenen schottischen Humor zu bedenken, dass es einem Journalisten auf politische Wirkung ankommt und „Soldaten sind Totschläger“ sich nicht so effektiv angehört hätte. Übrigens wurde der Herausgeber der Weltbühne Carl von Ossietzky, der für den sich bereits in Schweden befindenden Tucholsky juristisch den Kopf hinhalten musste, 1931 in einem aufsehenerregenden Prozess von dem Vorwurf der „Beleidigung der Reichswehr“ wegen „Soldaten sind Mörder“ freigesprochen.
Die juristische Auseinandersetzung mit dem Tucholsky-Zitat in der Bundesrepublik begann im Jahr 1984, als Peter Augst, ein Mitglied der Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges, in einem Streitgespräch mit dem Bundeswehrhauptmann Klaus Peter Witt Soldaten als potenzielle Mörder bezeichnete. Der  Streit, in dem der Minister Stoltenberg als Nebenkläger auftrat und in den sich auch Weizsäcker als Verteidiger der beleidigten Soldatenehre einmischte, endete erst nach drei Jahren mit dem Sieg der Meinungsfreiheit und einem Freispruch von Augst durch das Bundesverfassungsgericht.
Ian King wies dann darauf hin, dass auf dem Höhepunkt der aufgeheizten Diskussion über das „Soldatenurteil“ sich Mitglieder des Darmstädter Signals mit einem Aufruf zur Mäßigung in die Diskussion eingeschaltet hätten. Die freie Meinungsäußerung sei wichtig, der Status von Soldaten als potenzielle Mörder sei angesichts der Strategie der atomaren Abschreckung gegeben, der Staatsbürger in Uniform brauche keinen Ehrenschutz. Für einige Unterzeichner dieser Stellungnahme zog dies empfindliche Disziplinarmaßnahmen – bis hin zur Degradierung – nach sich, die erst viele Jahre später wieder rückgängig gemacht werden mussten. Das alles könne man, so Ian King, in der im Ch. Links-Verlag erschienenen Dokumentation von Michael Hepp und Viktor Otto nachlesen.
Nach diesem Exkurs schildert Ian King die Wandlung Kurt Tucholskys vom Militärkritiker, der auf eine geistige und republikanische Erneuerung der Reichswehr setze, hin zum radikalen Pazifisten, dem Mitgründer des Friedensbunds der Kriegsteilnehmer. Als Tucholskys Mitarbeit an den Massendemonstrationen der Nie-wieder-Krieg-Bewegung nicht zu einem Meinungsumschwung im deutschen Bürgertum führte, habe er 1925 bekümmert geschrieben, Europa befinde sich wie 1900 zwischen zwei Kriegen. Er prophezeite Deutschland würde eine noch schlimmere Niederlage erleiden als 1918. Im Lichte dieser Ahnungen habe Tucholsky jede Hoffnung auf demokratische Reformen der Armee aufgegeben. Darum habe er die These vertreten, dass das einzige Mittel, neue Kriege zu verhindern, darin bestehe, den Militärdienst zu verweigern.  „Dieser Landesverrat kann eine Notwendigkeit sein, um etwas Großes und Wichtiges abzuwehren: den Landfriedensbruch in Europa. Der europäische Friede steht über den niederen Interessen der Vaterländer.“
Für Ian King steht die Idee, die Bundeswehr sei eine Friedensarmee, im krassen Gegensatz zu ihrem Einsatz am Hindukusch. Er stellt die rhetorische Frage, ob solche Einsätze den Frieden auf den Straßen von London, Berlin, Madrid oder Paris garantiert hätten. Nach Ansicht von Ian King hätte Tucholsky den Bundeswehrsoldaten geraten, niemals Mörder zu werden, sondern höchstens als eine Art Feuerwehr gegen einen Großbrand zu dienen, der hoffentlich nie ausbricht. Das sei Tucholskys Vermächtnis und darum passe der Friedenssoldat Tucholsky in die Reihen der kritischen Soldaten vom Darmstädter Signal.

Robert Färber