Boris Barth ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Nach Büchern über die deutsche Außenpolitik vor 1914 aus dem Jahre 1995, einer Arbeit zur deutschen Niederlage 1918 und der Folgen in der Zeit bis 1933 aus 2003 und einem 2006 erschienen Titel über Völkermord im 20. Jahrhundert, stellt er nun einen Band vor, der mit dem Untertitel »Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918-1938« das Thema benennt.
Barth beschäftigt sich, unter breiter Nutzung der außerordentlich umfangreichen Literatur über die anstehenden Sachverhalte, mit den Folgen, die der Ausgang des Ersten Weltkrieges den europäischen Staaten bescherte. Trotz des erkennbar wissenschaftlichen Anspruchs (722 Fußnoten am Ende des Textes und einer sehr breiten Literaturliste) bleibt der Text gut les- und verstehbar für den historisch interessierten Laien.
An eine Einführung, die den Weg zu mehr Demokratisierung und Parlamentarisierung im 19. Jahrhundert, einen Aufriss der Probleme nach 1918 und die Bedeutung des Ersten Weltkrieges und seiner Folgezeit beschreibt, schließt Barth sechs Themenblöcke an, mit denen er den zu behandelnden Stoff systematisiert. Das sind »Die Pariser Weltordnung«, »Paramilitärische Gewalt und Kriege nach dem Krieg«, »Politische Ethnisierungen und Vertreibungen«, »Die unzulängliche ökonomische Rekonstruktion«, »Der Kampf um die Staatsform« und schließlich »Die Offensive gegen den Parlamentarismus«.
Bei dem ersten Problemfeld, der Friedensordnung, wird gerade uns Deutschen klar, dass es außer dem am 28. Juni 1919 unterschriebenen ›Versailler Vertrag‹, der das Deutsche Reich betraf, noch vier weitere Verträge, nämlich die mit Österreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei, verhandelt wurden. Alle fünf Verträge gemeinsam sollten eine neue Weltordnung einleiten.
Barth schaut bei seiner Betrachtung auf die jeweils verschiedenen Einzelstaaten und beschreibt die differenten Lösungs- (oder Nichtlösungs)-Ansätze; dabei immer an einem der oben genannten Problemfelder orientiert. Eine recht positive Bewertung erfährt dabei generell das schwedische Modell des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates.
Ein Problem dieser Art der Querschnittsbetrachtung liegt darin, dass bei Sicht auf ein Einzelland natürlich nur der jeweilige Fragezusammenhang diskutiert wird und so eine kontinuierliche nationale Sicht nicht möglich ist. Das liegt aber in der Natur dieser Darstellungsweise und weitet den Blick auf unsere verschiedenen Nachbarn.
Auch die Staaten, die nicht in das Kriegsgeschehen eingegriffen hatten, waren umfassend mit den Kriegsfolgen beschäftigt. Die Inflation, die Finanz- und Bankenkrise, eine weit reichende Agrarkrise (eher selten thematisiert), der wachsende Nationalismus und die Weltwirtschaftskrise berührten naturgemäß alle Staaten (mehr oder weniger).
In seinem knappen Fazit analysiert Barth, dass vor allem die Nachkriegskämpfe zwischen 1919 und 1921/22 die Lage instabil hielten. Ein radikalisierter Nationalismus, der die Ethnisierung ganzer Bevölkerungsgruppen betrieb,
löste wiederum massive Vertreibungen und Fluchtbewegungen aus. […] Flüchtlinge und Vertriebene trugen nicht nur zur Destabilisierung von parlamentarischen Systemen bei, sondern konservierten auch in erheblichem Maße revanchistisches und teilweise rassistisches Gedankengut. (S. 294 f.)
Diktaturen, die sich in der besprochenen Zeit herausgebildet haben, sind nicht wegen der besonderen Anziehungskraft der Persönlichkeiten der Diktatoren entstanden, sondern wegen der Schwäche der Demokratie.
Überall, wo derartige starke Parteien [wie z.B. in Schweden oder in GB] weiter existierten, überlebte auch die Demokratie. (S. 295)
Ein lesenswertes Buch, das gerade in dieser durch territoriale, ethnische und religiöse Konflikte und Kriege, große Migrationsbewegungen und internationalen Terrorismus gekennzeichnete Zeit nachdenkenswerte Informationen bietet. Viele Fehler im Umgang mit Anderen und uns Selbst sind im 20. Jahrhundert bereits schon einmal gemacht worden und wir sollten uns unbedingt daran erinnern und daraus lernen.
Klaus Leesch
Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg. Campus Verlag. Frankfurt/Main 2016, 361 Seiten, gebunden, 34,95 €. ISBN: 978-3-593-50521-3
Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.