Kategorien
Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief August 2016 Rundbriefe

Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg

barth-orig300Boris Barth ist Professor für Neuere und Neueste Ge­schichte an der Universität Konstanz. Nach Büchern über die deutsche Au­ßenpolitik vor 1914 aus dem Jahre 1995, einer Arbeit zur deut­schen Niederlage 1918 und der Fol­gen in der Zeit bis 1933 aus 2003 und einem 2006 er­schienen Titel über Völkermord im 20. Jahrhundert, stellt er nun einen Band vor, der mit dem Unterti­tel »Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918-1938« das Thema be­nennt.
Barth beschäftigt sich, unter breiter Nutzung der außerordentlich umfangrei­chen Literatur über die anstehenden Sachverhalte, mit den Fol­gen, die der Aus­gang des Ersten Weltkrieges den europäischen Staaten bescherte. Trotz des er­kennbar wissenschaftlichen Anspruchs (722 Fuß­noten am Ende des Textes und einer sehr breiten Literaturliste) bleibt der Text gut les- und verstehbar für den historisch interessierten Laien.
An eine Einführung, die den Weg zu mehr Demokratisierung und Parlamentari­sierung im 19. Jahrhundert, einen Aufriss der Probleme nach 1918 und die Be­deutung des Ersten Weltkrieges und seiner Folgezeit be­schreibt, schließt Barth sechs Themenblöcke an, mit denen er den zu behandelnden Stoff systemati­siert. Das sind »Die Pariser Weltordnung«, »Paramilitärische Gewalt und Kriege nach dem Krieg«, »Politische Ethni­sierungen und Vertreibungen«, »Die unzu­längliche ökonomische Rekon­struktion«, »Der Kampf um die Staatsform« und schließlich »Die Offensi­ve gegen den Parlamentarismus«.
Bei dem ersten Problemfeld, der Friedensordnung, wird gerade uns Deutschen klar, dass es außer dem am 28. Juni 1919 unterschriebenen ›Versailler Vertrag‹, der das Deutsche Reich betraf, noch vier weitere Verträge, nämlich die mit Ös­terreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei, verhandelt wurden. Alle fünf Verträ­ge gemeinsam sollten eine neue Weltordnung einleiten.
Barth schaut bei seiner Betrachtung auf die jeweils verschiedenen Ein­zelstaaten und beschreibt die differenten Lösungs- (oder Nichtlösungs)-Ansätze; dabei im­mer an einem der oben genannten Problemfelder orientiert. Eine recht positive Bewertung erfährt dabei generell das schwedische Modell des sozialdemokrati­schen Wohlfahrtsstaates.
Ein Problem dieser Art der Querschnittsbetrachtung liegt darin, dass bei Sicht auf ein Einzelland natürlich nur der jeweilige Fragezusammenhang diskutiert wird und so eine kontinuierliche nationale Sicht nicht möglich ist. Das liegt aber in der Natur dieser Darstellungsweise und weitet den Blick auf unsere verschie­denen Nachbarn.
Auch die Staaten, die nicht in das Kriegsgeschehen eingegriffen hatten, waren umfassend mit den Kriegsfolgen beschäftigt. Die Inflation, die Fi­nanz- und Ban­kenkrise, eine weit reichende Agrarkrise (eher selten the­matisiert), der wach­sende Nationalismus und die Weltwirtschaftskrise berührten naturgemäß alle Staaten (mehr oder weniger).
In seinem knappen Fazit analysiert Barth, dass vor allem die Nachkriegs­kämpfe zwischen 1919 und 1921/22 die Lage instabil hielten. Ein radika­lisierter Natio­nalismus, der die Ethnisierung ganzer Bevölkerungsgrup­pen betrieb,

löste wiederum massive Vertreibungen und Fluchtbewegungen aus. […] Flüchtlinge und Vertriebene trugen nicht nur zur Destabilisierung von par­lamentarischen Systemen bei, sondern konservierten auch in er­heblichem Maße revanchistisches und teilweise rassistisches Gedanken­gut. (S. 294 f.)

Diktaturen, die sich in der besprochenen Zeit herausgebildet haben, sind nicht wegen der besonderen Anziehungskraft der Persönlichkeiten der Diktatoren entstanden, sondern wegen der Schwäche der Demokratie.

Überall, wo derartige starke Parteien [wie z.B. in Schweden oder in GB] weiter existierten, überlebte auch die Demokratie. (S. 295)

Ein lesenswertes Buch, das gerade in dieser durch territoriale, ethnische und religiöse Konflikte und Kriege, große Migrationsbewegungen und internationa­len Terrorismus gekennzeichnete Zeit nachdenkenswerte In­formationen bietet. Viele Fehler im Umgang mit Anderen und uns Selbst sind im 20. Jahrhundert bereits schon einmal gemacht worden und wir sollten uns unbedingt daran er­innern und daraus lernen.

Klaus Leesch

Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg. Campus Verlag. Frankfurt/Main 2016, 361 Seiten, gebunden, 34,95 €. ISBN: 978-3-593-50521-3
Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.