Kategorien
Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Dankesrede zur Verleihung des Tucholsky-Preises

»Der Krieg ist aber unter allen Umständen tief unsittlich«. Das ist das Motto dieser Tagung. Das sagt Kurt Tucholsky. Und das ist uns Deutschen zehn Jahre nach seinem Tod ganz selbstverständlich geworden.
Aber ich doch nicht. Ich konnte 1945 als zehnjähriger Dorfbewohner – in einem kleinem Nest bei Bad Kissingen, wo Bismarck immer kurte und wo er sein Kissinger Diktat zur Lösung der Balkankrise entwarf – ich konnte nicht verstehen, daß unser Krieg verloren sein soll. Ich glaubte, noch gut zwei Jahre, daß der Führer lebt und daß unsere Wehrmacht mit ihren Wunderwaffen aus dem Untergrund aufstehen und den Feind schlagen wird. Und hätte ich nicht die Gnade der allzu späten Geburt gehabt, in der Waffen-SS wäre ich auch noch gelandet.
Der Abscheu der Deutschen vor dem Krieg hielt bis nahezu zum Ende des Jahrhunderts an. Bis zum Beginn der rot-grünen Reformkoalition. Da, um 1998/99 stellte sich für uns Deutsche heraus, daß Krieg durchaus nicht unsittlich sein muß. Tucholsky ist seither widerlegt.
Es war Gerhard Schröder, der als erster deutscher Kanzler seit Adolf Hitler wieder Krieg führte. Der Kriegsgrund war zutiefst sittlich. Es war ein Ritus der Adoleszenz, der Reife, der Deutschland aus seiner 1945 selbstverschuldeten Unmündigkeit befreite, der Deutschland endlich wieder erwachen ließ, erwachsen machte. Es war der Gründungsmythos der Berliner Republik.
Schröders Außenminister Joseph Fischer hat dies auf den Punkt gebracht. Weil der serbische Hitler Adolf Milosevic den Balkan in ein – da kennen wir uns aus – neues Auschwitz verwandelt hatte, verwandelte sich die bis dahin gültige Doppelparole »Nie wieder Auschwitz«, »Nie wieder Krieg« in eine saubere Alternative.
Mit dem Schlachtruf »Nie wieder Auschwitz« stürzten wir uns in den Krieg.
Zuvor war Verteidigungsminister Rudolf Scharping – Sie erinnern sich: der heutige Präsident der manchmal ehrlichen Radfahrer – an der Spitze einer uniformierten Bundeswehrkompanie in die Gedenkstätte Auschwitz einmarschiert, um sich mit Hilfe eines dort niedergelegten Kranzes die Weihe für diesen Krieg zu verschaffen.
Es ging auch gar nicht anders: Nach der vollzogenen Wende war Krieg notwendig. In seinen soeben erschienenen Memoiren unterrichtet Joseph Fischer das deutsche Volk, wie man sich so einen Krieg holt. Noch nicht im Amt, bat er seinen FDP-Vorgänger Klaus Kinkel, ich zitiere, »um den aktuellen Sachstand in der Frage Kosovo und NATO über die Mobilisierungsentscheidung der militärischen Kräfte (Act.Ord). Danach würde der konkrete Einsatzbefehl allein beim NATO-Oberbefehlshaber liegen, und würde dieser den Befehl – nach einem Anruf aus Washington erteilen, dann hieße dies Krieg.« (S.106)
Eine Seite weiter in seinen Memoiren hat Fischer sich – auch für uns – entschieden: »Innerhalb weniger Minuten hatte ich, ohne Abstimmungsmöglichkeit mit Partei und Fraktion, eine der weitreichendsten Entscheidungen in meinem Leben zu treffen gehabt, nämlich die über Krieg und Frieden…« (S.107)
Joseph Fischer wählte den Krieg. An der Seite der USA. Aber er wählte frei und gern. Denn es war im Grund ein alter deutscher Krieg. Der Krieg zur Vernichtung Jugoslawiens, den Deutschland 1941 führte, der damals – ohne Kriegserklärung – mit der Bombardierung Belgrads begann, und 1999 ebenso. Und der auch schon 1914 als Krieg gegen Serbien, begangen wurde, gegen Serbien, das sich Österreichs Sühneforderungen für den Mord von Sarajewo unterworfen hatte. Doch weil Deutschland sich an Österreichs Seite stellte, sollte »Serbien sterbien« wie der Kriegsruf damals hieß.
Dann wurde 1999 aus Jugoslawien das neue Auschwitz, gegen dessen Urheber wir, das erwachsene Deutschland, Krieg führen mußten.
Es lief alles wie im Ersten Weltkrieg. »Nichts, nicht einmal die Feldpost, hat in diesem Krieg so kläglich versagt wie der deutsche Geist«, schrieb im November 1914 der deutsche Schriftsteller Gustav Landauer, den fünf Jahre später deutsche Freikorps auf viehische Weise lynchten.
Ich, der ich als dummer kleiner Junge in Euerdorf, ja so hieß das Nest, schon einmal auf so was reingefallen war, schämte mich, daß unser neuer deutscher Gegenwartsgeist am Ende des Jahrhunderts schon wieder Feldpost spielte – eine liebreizende Kollegin trampte mit ihrem Hund im Bundeswehrpanzer durch das zerschlagene Jugoslawien.
Vorletzte Woche hat auf der Frankfurter Buchmesse die katalanische Schriftstellerin Nuria Ama gesagt: »Wir wissen, dass es Sache der Politiker ist, mit Lügen zu manipulieren, und die der Schriftsteller wie Kafka, Wahrheiten aufzudecken.«
Nun haben wir zwar keinen richtigen Kafka im deutschen PEN, und er selber ist auch nie irgendwo PEN-Mitglied gewesen, aber Schriftsteller zum Aufdecken hätten wir in unserem Verein doch die Menge, dachte ich, nach Josef Fischers Krieg. Und so – ich will jetzt mal ins Plaudern geraten – stellte ich zusammen mit Christoph Hein, dem gerade ausgeschiedenen Präsidenten des Deutschen PEN auf unserer Mitgliederversammlung im Jahr 2000 einen Antrag.
Er ist mit der überwältigenden Mehrheit des im PEN versammelten Geistigen Deutschland abgelehnt worden.
Und so können sie ganz gewiß sein, meine Damen und Herren: der Deutsche Geist, die Deutschen Intellektuellen, die Deutschen Schriftsteller haben nichts, aber auch gar nichts mit den folgenden Sätzen aus dem Jahr 2000 zu tun, die ich Ihnen genau deshalb nicht ersparen will:

Ein Jahr nach dem dritten deutschen Krieg im 20. Jahrhundert bedauert die Mitgliederversammlung des PEN-Zentrums Deutschland, daß Schriftsteller dazu bereit waren, sich hinter die Friedenspolitik der deutschen Bundesregierung zu stellen, die eine Politik des Krieges war.
Heute, nach den Untersuchungen des ehemaligen Brigadegenerals und Leiters des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr, Heinz Loquai, scheint dies festzustehen: Das »Massaker von Racak«, mit dem wir kriegsbereit gemacht werden sollten, war mit hoher Sicherheit eine (leider normale) Schießerei zwischen Bürgerkriegsgegnern. Und der »Hufeisenplan« zur Vertreibung aller Kosovoalbaner, mit dem Verteidigungsminister Scharping die Bombardierung Jugoslawiens rechtfertigte, war eine Erfindung des Bundesverteidigungsministeriums, um die erst nach der NATO-Bombardierung einsetzenden großen Flüchtlingsströme zu begründen.
Wir wissen heute, daß es 1999 entgegen der Behauptung von Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping in der Kosovohauptstadt Pristina kein serbisches KZ gab. Wohl aber gab es 1944 an diesem Ort ein deutsches KZ, in dem mit Hilfe von kosovoalbanischen SS-Leuten Juden, Serben und Roma ermordet wurden.
Wir wissen, daß im jugoslawischen Bürgerkrieg von allen Seiten schwere Verbrechen begangen wurden, Verbrechen, die es aber nicht rechtfertigen, mit der Parole »Nie wieder Auschwitz« (Außenminister Joseph Fischer) zugunsten einer Seite einzugreifen, die schon im Zweiten Weltkrieg auf der Seite Großdeutschlands stand.
Schon im Ersten Weltkrieg haben berühmte deutsche Schriftsteller und Professoren sich in gemeinsamen Erklärungen und Aufrufen hinter ihre Regierung gestellt und die deutsche Propaganda unterstützt. Wir warnen vor Fortsetzung in einer Zeit, in der die Bundeswehr als Krisenreaktionsstreitmacht fähig gemacht werden soll, jederzeit und an jedem Punkt der Welt militärisch einzugreifen. Die – entschieden selektive – Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen in den Staaten, die wir zu Recht oder zu Unrecht als Schurkenstaaten betrachten, kann keine Rechtfertigung dafür sein, daß von deutschem Boden wieder Krieg ausgeht. Wir fordern Mißtrauen gegenüber allen deutschen Regierungen, die sich so leichtfertig wie das gegenwärtige Kabinett zu kriegerischen Einsätzen bereit finden.
Wir fordern die deutschen Medien auf, sich nach dem Vorbild der französischen Presse bei ihren Lesern, Hörern und Zuschauern für die Fehlinformationen zu entschuldigen, die ungewollt erfolgten, da man der Desinformation und Propaganda der Regierung geglaubt hatte.

Da hätten Sie mal, meine Damen und Herren, angesichts dieses Textes unseren Ersatz-Kafka, den damaligen Generalsekretär und heutigen Präsidenten des Deutschen PEN, Johano Strasser, erleben sollen. »Er gilt als einer der Vordenker der SPD«, las ich letzten Freitag in der Rotenburger Rundschau, dort an der Wümme las er vor dem SPD-Ortsverein aus seinen Memoiren.
Alles Quatsch, der Antrag sei unsinnig, alles längst überholt. Sein Freund Scharping habe ihm versichert, daß es den Hufeisenplan doch gebe und alles andere auch. Und im übrigen können wir nicht lang diskutieren. In zehn Minuten ist die Mitgliederversammlung zu Ende. Wenn nicht, wird das Essen kalt.
Der Deutsche Geist von 2000 hatte Hunger, stimmte rasch mit 9 gegen 78 Nein-Stimmen den ihm zugemuteten Antrag hinweg und begab sich pünktlich zum Abschiedsmahl.
Wenige Tage später aber erhob sich der Deutsche Geist in Moskau zu heftiger Kritik. Beim Internationalen PEN-Kongreß in Moskau werden wir, so sprach Generalsekretär Johano Strasser im Rundfunk, »die Möglichkeit haben, in der russischen Öffentlichkeit und in der Weltöffentlichkeit noch einmal anzusprechen, was in Tschetschenien geschehen ist und immer noch geschieht, daß dort ein Krieg geführt worden ist, nicht gegen Kombattanten ausschließlich, sondern gegen die Zivilbevölkerung mit ungeheuren Grausamkeiten, daß parallel dazu die öffentliche Meinung manipuliert worden ist, daß Journalisten unter Druck gesetzt worden sind und gehindert sind an der Berichterstattung.«
Man werde in und an die Wunde Tschetschenien rühren, versprach Johano Strasser und insbesondere bei der Eröffnungsrede von Günter Grass werde »das Thema Tschetschenien eine Rolle spielen«.
Das war der richtige Mann am richtigen Ort. Wenige Monate zuvor hatte der deutsche Dichter den Krieg der Deutschen gegen Jugoslawien bejaht und das »Herummogeln um die Notwendigkeit des Einsatzes von Bodentruppen« getadelt.
Daß der russische PEN-Club kein Geld von der Regierung bekomme, war für den deutschen Generalsekretär »in dieser Situation eher ein Vorteil«. Denn: »Die Ford Foundation hat mitfinanziert, so daß auch von der Finanzierungsseite her Unabhängigkeit garantiert ist.«
Die Ford Foundation, die einst auch mit CIA-Geldern den Kongreß für die Freiheit der Kultur finanzierte, ist eine US-Stiftung zur Verbreitung der Demokratie, eingerichtet von Henry Ford, dem Freund Hitlers und Begründer des modernen US-Antisemitismus.
In Moskau aber sprach Günter Grass: »Das immerhin leistet die Literatur: sie schaut nicht weg, sie vergißt nichts, sie bricht das Schweigen.«
Ja, es war beste deutsche Literatur, als PEN-Freund Scharping nicht schwieg, als er die Wahrheit über den Serben erzählte: daß er »Frauen ihre Kinder aus den Armen reißt und ihre Köpfe abschneidet, um mit ihnen Fußball zu spielen«, daß »ermordeten Schwangeren der Bauch aufgeschlitzt wird und der Fötus erst gegrillt und dann in den Bauch zurückgelegt wird«.
Große Erzählkunst. Günter Grass findet ihren Urheber öffentlich gut: »Ich finde es jämmerlich, wie die Presse mit so einem hervorragenden Außenminister wie Fischer und so einem hervorragenden Verteidigungsminister wie Scharping umgeht.«
Ich achte Günter Grass, wir kennen uns, meist aus der Distanz seit 45 Jahren, ich halte ihn, nicht einfach nur, weil man das zu seinem 80. Geburtstag muß, für einen der großen deutschen Schriftsteller. Ich bewundere seinen Fontane-Roman »Ein weites Feld« – wie er die Enteignung der Ostdeutschen durch die Treuhand schildert und dafür durch eine wütende westdeutsche Kritik gemaßregelt wurde.
Aber eines kann ich nicht vergessen. Vor zwei Jahren wurde von unbekannter Seite Gerhard Schröder für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Günter Grass, der selbst als Literaturnobelpreisträger kein Vorschlagsrecht für den Friedensnobelpreis hat, unterstützte öffentlich diese absurde Nominierung: Friedensnobelpreis für den ersten deutschen Kriegskanzler seit Hitler, nur weil er einmal – nicht zuletzt aus wahltaktischen Gründen – einmal einen Krieg und schon das stimmt nicht einmal ganz, ausgelassen hat, der ohnedies nie zu gewinnen ist. Der Neue Deutsche Geist – und mit ihm Günter Grass – hat durch die fröhlichen Rotweinrunden im Kanzleramt viel verloren.
Und er gewinnt auch nichts, wenn er sich heute von einem ehemaligen IWF-Präsidenten, der ganze Staaten wie Argentinien in Not und Bankrott trieb, zum Geburtstag belobhudeln läßt. Und sich dessen freut. Weil er in den letzten Jahren »viel Häme und Niedertracht« erfahren habe, »tut es mir gut«, sagt er zu der Ehrung von Horst Köhler, »wenn meine sechs Jahrzehnte währende Arbeit anerkannt wird.« Patriot ist er geworden, der sich stolz dazu bekennt, nach einem Sieg von mutmaßlich deutschen Fußballern das Deutschlandlied gesungen zu haben.
Wer anders als der in Günter Grass transsubstanziierte Deutsche Geist denkt, wird abgestraft. Da wird ein Litereraturpreis vergeben, der Preisträger ist schon gebeten, sich den Tag für die Übergabe frei zu halten – und dann erfährt er aus der Zeitung, daß er doch kein Preisträger sein darf: Peter Handke, der deutsche Schriftsteller, der das allgemeine Kriegsgeschrei nicht mitgemacht hat. Den Heine-Preis sollte er nicht bekommen, weil er sich weigert, anzuerkennen, daß Milosevic Hitlers Widergänger sei.
»Ich lebe ungern damit, dass man Schriftstellern eine Art Genie-Bonus zuspricht, der ihnen dann erlaubt, den größten und gemeingefährlichsten Unsinn mitzumachen.« So sprach Günter Grass über Peter Handke zur Wochenzeitung Die Zeit. Und das war keine Selbstkritik.
Aber nun will ich Dank sagen, Dank Dir lieber Gerhard Zwerenz für die Laudatio, die ich nicht verdient habe, Dank der Tucholsky-Gesellschaft, für den Tucholsky-Preis, den ich dennoch erhielt. Und – diese Gelegenheit will ich nutzen: Dank an Monika, der Frau, die mich vor 44 Jahren geheiratet hat, die mich seither erträgt und unterstützt – und ohne die ich längst eingegangen wäre.
Und nicht zuletzt Dank Ihnen, meine Damen und Herren, die Sie so lang mit soviel Geduld hingenommen haben.

Otto Köhler

Gehalten am 21. Oktober 2007 im Deutschen Theater in Berlin

Kategorien
Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Laudatio für Otto Köhler zur Verleihung des Kurt Tucholsky-Preises

Meine Damen und Herren,
die beiden heutigen Preisträger blieben mir nicht ganz unbekannt. Lothar Kusche war bereits ein reüssierter Autor der DDR-Weltbühne, als ich in den fünfziger Jahren dort mithalten durfte, und in der freien BRD wurde Otto Köhler mir bald zu einer Art Kusche-West.
Carola Stern nannte mich in ihrer Autobiographie Doppelleben, unsere Kölner Zeit betreffend, »grantig«. Ich war aber fröhlich, wenn ich sah, wie die Alten von Andersch über Böll bis Kuby von Jüngeren wie Wallraff und Otto Köhler vervollständigt wurden. Da wuchs etwas Tucholskyhaftes nach, was ich von heute nicht sagen könnte. In den Medien jungt überall Ernst Jünger.
Otto Köhlers frühe Karriere von Pardon bis zum Spiegel, wo der laut Selbstauskunft »im Zweifelsfall linke Augstein« das »Sturmgeschütz der Demokratie« bediente, führte den jungen Journalisten wegen »Unternehmensfeindlichkeit« bald ins »freundliche Feuer«. Otto im Jahr 2002 in seiner berückenden Spiegel-Herausgeber-Biographie: »Ich habe mich gefreut, als mich Augstein 1966 als Kolumnisten zum Spiegel holte, ich habe mich gegrämt, als er mich 1972 entließ.« Das geht ans Herz, aber: Gräm dich nicht, Otto, wärst du im Hamburger Magazin verwittert, würde es vielleicht den Konrad-Adenauer-Preis, aber keinen Tucholsky-Preis für dich geben.
Otto Köhler, Jahrgang 1935, war als Schüler ein junger, naivgläubiger Hitlerjunge. Das ging vielen so. Heute wird gern von der Flakhelfergeneration gesprochen als sei diese selbstverschuldet. Wer produzierte deutsche Flak und verdiente daran? Als Zehnjähriger war Otto 1945 für die Flak noch zu klein. Es kommt aber darauf an, was einer später aus sich macht. Die einen schießen ohne Flak weiter. Andere mit Augsteins verbalem Sturmgeschütz. Nehmen wir das Beispiel Elisabeth Goebbels, die in Ossietzky Heft 8/ 2007 aus ihrem Liebesleben berichtet. Überschrift: »Ich, Adorno und Speer.« Sie verabscheut Adorno, der sie nicht nur mit seinen »eiskalten Augen« bedrängte, seiner eigenen Frau Liebhaber beschaffte und in intimen Dingen »widerwärtig« war. Elisabeth träumte vom charmanten Albert Speer, wachte auf und besuchte ihn, seinen Hang zur Autobiographie bestärkend, was, wie wir wissen, Joachim Fest illuminierte. Und sie erklärte Hanns-Martin Schleyer den furchtbaren Wertewandel infolge Adorno und der 68er Bewegung, wobei Schleyer ihr entsetzt und »fassungslos, mit offenem Munde« zuhörte. Was er als SS-Banause 1933 an der Heidelberger Universität bewirkt, was er als deutscher SS-Held und Industrievertreter im besetzten Prag angerichtet und später verschwiegen hatte, war offenbar kein vergleichbarer Wertewandel. Im übrigen beriet Elisabeth Adenauer und Kohl sowie die FAZ und trägt das Große Bundesverdienstkreuz. Ist das nun eine Erfindung von Otto Köhler? Nein, er erfindet nichts, sondern zitiert aus Noelle-Neumanns originalen Erinnerungen. Otto Köhler, als Kind Nazi-Lehrern ausgeliefert, fragt, was wurde aus den Lehrern? Und warum Elisabeth Goebbels statt Frau Noelle? Warum nicht, wenn es um die Jahrzehnte langen Allensbacher Häppchen im mainischen Kapitalanzeiger geht. In ihrer Dissertation schon hatte Elisabeth sich artig beim Unterstützer Goebbels bedankt. In der Anmerkung erläutert Otto nachsichtig: »Die jetzt Neunzigjährige leidet seit frühester Kindheit unter Engelserscheinungen, glaubt fest an die Astrologie und wähnte, schon mehrfach gelebt zu haben, unter anderem in Ägypten, mutmaßlich als Nofretete.« Von braven Meinungsforschern wird eben erwartet, dass sie schon im alten Ägypten den Staat samt Gottheiten vertraten wie Sieburg das Dritte Reich und Frank Schirrmacher den Papst gegen den Islam. Da sind unsere Kapitalkameraden schlicht konservativ, und so kehrt der FAZ-Lemurenklub im Schatten Noelle-Neumanns mit fliegenden Fahnen zu seinen heroischen Vorfahren von Ernst Jünger bis Carl Schmitt, Heidegger und Gottfried Benn zurück. Gegen diese präfaschistischen Kopfgeburten schrieb schon Tucholsky vergeblich an, heute begegnen wir ihnen fortwährend im feuilletonistischen Medienmarathon. Man kriegt die Sentiments der künstlich beatmeten Ganz- und Halbnazis seitenlang portionsweise geboten. 25 Prozent der Deutschen meinen, das Dritte Reich habe auch seine guten Seiten gehabt, wie dem Stern zu entnehmen ist. Dieses Umfrage-Resultat wundert nicht bei einer Presse, die das Nazimitläufertum hofiert und den leidvollen antifaschistischen Widerstand verunglimpft. Laut Frank Schirrmacher am 10. Oktober 2007 im FAZ-Leitartikel zur Frankfurter Buchmesse war Ernst Bloch »ein Mystiker, der leider später ins rote Prophetentum abglitt«. Wäre er wie Schirrmachers Vorvorgänger Friedrich Sieburg ins braune Proselytentum abgeglitten, hätte er heute eine bessere Presse, die haben nach wie vor die umlackierten Heldenkerle, sie zogen 1918 wie 1945 geschlagen nach Haus, die Enkel fechten’s heute noch dümmlicher aus. Vonwegen man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Unsere Meisterschwimmer schaffen es dreimal.
Was Tucholsky in seinem Satireband Deutschland, Deutschland über alles, den der damalige Börsenverein übrigens mit allen Mitteln zu boykottieren suchte, für den Übergang vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg diagnostizierte, belegt Otto Köhler für den dritten Akt der Katastrophe, die zu befürchten steht, wenn die Klassen- und Kriegsherrschaft eskaliert. Tucholsky: »Wir sind zu lange still gewesen. Wer hat auf uns Rücksicht genommen? (…) Gäbe es irgendwo eine Gruppe junger Menschen, die antifaschistisch sind, so wollte ich wohl mittun.«
So etwas wird bei uns immer erst nach der jeweiligen Niederlage wahrgenommen. Neulich rechnete die FAZ mit den SS-Offizieren und Judenjägern im BKA erstaunlich radikal ab und sagte auch warum: Die alten Kameraden sind inzwischen verstorben. Solange die braunen Typen in Amt und Würden lebten, überließ man die Distanzierung anderen. So schrieb Otto Köhler z. B. über SS-Hauptsturmführer Theo Saevecke, bei der Bonner Sicherungsgruppe staatsbeamtet und versichert, obwohl in Turin zu lebenslänglich verurteilt.
Ich sage Köhler und meine Otto, nicht Horst. Wäre Otto Horst, setzte es Reden mit Substanz. Warum wurde Horst Bundespräsident und nicht Otto? Der dürfte nicht mal nach dem dritten verlorenen Weltkrieg.
1961 freute er sich als Berliner Student, als neben dem Publizistik-Professor und Hitler-Lobredner Dovifat die damals 44jährige Leiterin des Allensbacher Instituts Vorlesungen hielt. Es war aber keine Alternative. Nachzulesen in Köhlers Buch Unheimliche Publizisten, Untertitel: Die verdrängte Vergangenheit. Die Verdrängung begann schon zu Weimars Zeiten. Warum wurden Tucholsky und Ossietzky nicht in der Frankfurter Zeitung gedruckt? In einer kleinen Glosse für die Zeitschrift Ossietzky notierte ich vor Zeiten: Stell dir vor, wir hätten in Deutschland keine Zensur. Eckart Spoo gäbe die Bild-Zeitung heraus, Otto Köhler leitartikelte in der Welt und Dietrich Kittner dürfte regelmäßig in der ARD auftreten.
Stell Dir vor, Tucholsky hätte sich nicht das Leben genommen, die Bundeswehr klagte ihn wegen »Soldaten sind Mörder« an und Rolf Gössner verteidigte unseren Mann vorm Reichsgericht.
Stell dir vor, Hitler hätte sich schon 1933 erschossen, und Hindenburg verschenkte seinen Helm samt Bart an das präsidiale Sprachgenie Horst Köhler. Stell dir vor, Hitlers Mama hätte ihn abgetrieben, dann wäre Joachim Fest arbeitslos geblieben mit Hartz IV und Albert Speer spielte sein Leben lang im Kölner Karnevals-Dreigespann die Jungfrau. Stell dir vor, das alles stünde im einem FAZ– Artikel und stammte von mir. Dann gäbe es sogar Honorar dafür.
Das ließe sich noch konkretisieren. Warum wurde Adenauer Kanzler und nicht Martin Niemöller? Warum wurde Heuss Bundespräsident und nicht Adorno, Kogon, Gollwitzer, Abendroth, Bloch? Schaffte es aber mal ein Gustav Heinemann in Ministerämter, gab’s dort bald danach die Bleisoldaten Schily, Scharping, Fischer, Jung, Schäuble. Das sind Tornados statt Friedensdividenden. Wie wäre es mit Otto Köhler als Verteidigungsminister? Nähme man wenigstens den Eppelmann, der hat Erfahrung im Auflösen von Armeen. In Paranthese: Im Moment wird öffentlich angeregt, gegen den früheren Terroristen Rolf Clemens Wagner erneut zu ermitteln, weil er die Entführung Schleyers als richtig bezeichnet. Für einen Tucholsky-Pazifisten handelt es sich um den permanenten Konflikt zwischen zwei bewaffneten Fraktionen im Weltbürgerkrieg. Wagner bereut nicht? Hat Schleyer bereut? Tucholskys Pazifismus hält zu allen Schießprügeln Abstand, egal ob SS oder RAF. Notfalls hilft Matthäi 26/52: » … denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.«
Eben erst, am 13. Oktober 2007 war in der FAZ zu lesen, für das »Scheitern der Weimarer Republik« seien »Ernst Jünger und Kurt Tucholsky verantwortlich zu machen.« Der ehemalige FAZ-Redakteur Friedrich Karl Fromme wusste schon 1986, dass »Tucholsky (…) zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen hat«. Noch früher, am 10. Mai 1933, wussten es die Bücherverbrenner: »Gegen Frechheit und Anmaßung – für Achtung und Ehrfurcht vor dem deutschen Volksgeist – ins Feuer mit den Büchern von Tucholsky, Ossietzky …«
Im Klartext: Hätte das Deutsche Reich im 20. Jahrhundert nicht über Soldaten und Kanonen verfügt, wären Millionen von Menschen am Leben geblieben. Dazu hätte man statt Ernst Jünger jedoch Tucholsky lesen müssen. Lesen wir heute Tucholsky und Lothar Kusche und Otto Köhler!

Gerhard Zwerenz

Gehalten am 21. Oktober 2007 im Deutschen Theater in Berlin