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Jahrestagung 2017 Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik Tagungen

Laudatio für Sönke Iwersen

Edward Snowden und die NSA, das Elend der Globalisierung und die Macht der Internet-Riesen – eine Mahnung an die digitale Gegenwart.
Die Laudatio auf den Preisträger Sönke Iwersen hielt Thomas Tuma, stellvertretender Chefredakteur des Handelsblattes.
Sie wurde unter dem Titel »Würde Tucholsky twittern?« im Handelsblatt veröffentlicht und ist dort nachzulesen.

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Ein Lob dem Ätzenden – Laudatio auf Deniz Yücel

Laudatio auf Deniz Yücel, Träger des Kurt-Tucholsky-Preises 2011, gehalten am 22. Oktober 2011 im Berliner Haus der De­mokratie
Dieser Mann, das möchte ich Ihnen erzählen, ist so freundlich. Von ab­solut umgänglicher Art, er beherrscht die Umgangsformen, die man als angemessen, ja bürgerlich bezeichnet. Obwohl, und das trifft die­sen Menschen umso besser, in Wahrheit, neuen Forschungen zufolge, der zivilisatorische Habitus in Takt und Ton recht eigentlich dem proletarischen Teil aller Gemeinwesen zugerechnet werden muss: Wo es klamm ist und umständehalber materiell dauernd knarzt, ist es we­nigstens vonnöten, miteinander nicht raubauzig umzugehen; wo es ohnehin nach der Decke zu strecken gilt, muss man sich in puncto Manieren nicht auch noch auf die Nerven gehen.
Damit komme ich, sozusagen, ganz zwanglos auf Deniz Yücel zu sprechen, der mein Kollege ist, und zwar ein von mir überaus ge­schätzter, denn er bekommt von Ihnen dieses Jahr den Kurt-Tu­cholsky-Preis für seine Kolumne namens »Vuvuzela«, die voriges Jahr angelegentlich der Fußballweltmeisterschaft der Männer in Südafrika beinahe täglich in der taz, in der papiernen wie der elektronischen Ausgabe, erschien. Und das ging auch mich was an, denn das Sonder­projekt unserer Zeitung zu diesem weltgrößten Sportereignis wurde von mir geleitet – und Deniz Yücel war ein Teil unseres Teams.
Okay, Kollege Yücel kann auch zur Last fallen. Ich fand übri­gens: auch mir. Mehr aber anderen Kollegen, denn die Allüren einer, lassen Sie es mich so sagen, Diva mit menschlichem Antlitz, sind die­sem Manne ja nicht fremd. Mir fallen zu dieser seiner Aura so viele Anekdoten ein – etwa auch die, dass er sehr mächtigen Wert darauf legt, nicht als Spross einer migrantischen Familie zu gelten, nein, er lässt sich nicht so leicht türkisieren, sondern als Kind eines Kommu­nisten, den es ins Hessische verschlagen hat. Hören Sie Deniz Yücel mal anderthalb Minuten zu – man hört aus ihm Äppelwoi und grüne Soße heraus.
Aber, Spaß und Ernst beiseite: Diese Kolumne namens »Vuvu­zela« war in meinen Augen – und ist es noch! – ein Juwel zeitgenössi­scher deutscher Kolumnistik. Von Satire oder Comedy möchte ich in diesem Zusammenhang lieber schweigen: Denn das Denken und Schreiben meines Kollegen lebt, anders als die Autoren von Zeit­schriften wie »Eulenspiegel« oder vor allem »Titanic« nicht vom Lus­tigmachen über ander Leute, von Bildungsdünkel und lippenkräuseln­der Mokanz über die Zumutungen und Anmaßungen anderer Men­schen, gern solcher, die sich nicht mit gleichen, sprachlichen Mitteln wehren können. Und Deniz Yücel passte mit seinen sprachlichen Vermögen umso schärfer zu den anderen – als einer, der es besser und, jawoll, ätzender kann.
Lebt beispielsweise der Humor der taz-Satireseite »Wahrheit« überwiegend von dem Muster: »Helmut Kohl hat Käsefüße« … wor­aufhin das Publikum, auch unser alternatives gesinntes, lacht, so muss dem Kollegen Yücel das begnadete Verdienst zuerkannt werden, dass er nur und exklusiv und ausschließlich Großmäuler, Lautsprecher, Se­xisten, Hasenpfötchen und Feiglinge zu geißeln weiß. Humor auf Kosten Schwacher? Nicht mit ihm. Die »Vuvuzela«, wie auch seine sehr ähnlich gestrickte Kolumne zur Fußballweltmeisterschaft der Frauen, die er »Trikottausch« nannte, lebten vom Spott über das, was zu grell war, zu übertrieben, zu national aufgeheizt und zu unsauber. Sein Vorbild, falls man das so sagen darf, könnte der »Bild-Zeitungs­kolumnist« F.J. Wagner sein – in Wahrheit ist dieser nur ein Kopist dessen, was Yücel schriftlich zu umreißen vermag. Anders als mein Kollege scheut Wagner nicht vor Mitteln der Hetze, der missbräuchli­chen Art und des Schmunzelns auf Kosten Schwächerer zurück. Dass er das GroßeGanze im Nationalen rechtsgedreht denkt, ist ohnehin die Sache: Aber das soll nicht kritisch gemeint sein – konservativ zu den­ken ist ja nicht strafbar.
Yücel jedenfalls wirkt mit seinen Texten subversiv, er provoziert mit ihnen heftig böse Reaktionen, er missachtet die Gebote jener Menschen, die man die politisch Korrekten nennen könnte – er bringt sie schmallippig-giftelnd zum Schäumen – und das muss man gut fin­den, denn andere Leidenschaften haben diese Menschen nicht.
Yücel, wenigstens dies auch noch, ist aber passioniert an und für sich. Nichts im Leben ist ihm einerlei, deshalb möchte ich ihn auch nicht einen Freund stumm qualmender Gemütlichkeit nennen – weder solche linker Provenienz noch die von rechts. Ihr Preisträger ist ein würdiger, denn er schludert gegen die Gedankenlosigkeit von Alliier­ten und kameraderiehafte Aspirationen von Gutmeinenden. In Wahr­heit ist Deniz Yücel ist guter Mensch – er muss ein Freund sein von allen, die es nicht bequem haben möchten, schauen sie sich wach und lustvoll die Welt an.
Herzlichen Glückwunsch diesem Preisträger!
 JAN FEDDERSEN, Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz, Pub­lizist und Buchautor in mannigfaltiger Weise, Liebhaber von Tucholsky-Filmen wie »Schloss Gripsholm« und ansonsten kein Freund allzu destruk­tiver Kritik an der Weimarer Republik. Er ist bekennender Verfassungspat­riot.

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Laudatio für Otto Köhler zur Verleihung des Kurt Tucholsky-Preises

Meine Damen und Herren,
die beiden heutigen Preisträger blieben mir nicht ganz unbekannt. Lothar Kusche war bereits ein reüssierter Autor der DDR-Weltbühne, als ich in den fünfziger Jahren dort mithalten durfte, und in der freien BRD wurde Otto Köhler mir bald zu einer Art Kusche-West.
Carola Stern nannte mich in ihrer Autobiographie Doppelleben, unsere Kölner Zeit betreffend, »grantig«. Ich war aber fröhlich, wenn ich sah, wie die Alten von Andersch über Böll bis Kuby von Jüngeren wie Wallraff und Otto Köhler vervollständigt wurden. Da wuchs etwas Tucholskyhaftes nach, was ich von heute nicht sagen könnte. In den Medien jungt überall Ernst Jünger.
Otto Köhlers frühe Karriere von Pardon bis zum Spiegel, wo der laut Selbstauskunft »im Zweifelsfall linke Augstein« das »Sturmgeschütz der Demokratie« bediente, führte den jungen Journalisten wegen »Unternehmensfeindlichkeit« bald ins »freundliche Feuer«. Otto im Jahr 2002 in seiner berückenden Spiegel-Herausgeber-Biographie: »Ich habe mich gefreut, als mich Augstein 1966 als Kolumnisten zum Spiegel holte, ich habe mich gegrämt, als er mich 1972 entließ.« Das geht ans Herz, aber: Gräm dich nicht, Otto, wärst du im Hamburger Magazin verwittert, würde es vielleicht den Konrad-Adenauer-Preis, aber keinen Tucholsky-Preis für dich geben.
Otto Köhler, Jahrgang 1935, war als Schüler ein junger, naivgläubiger Hitlerjunge. Das ging vielen so. Heute wird gern von der Flakhelfergeneration gesprochen als sei diese selbstverschuldet. Wer produzierte deutsche Flak und verdiente daran? Als Zehnjähriger war Otto 1945 für die Flak noch zu klein. Es kommt aber darauf an, was einer später aus sich macht. Die einen schießen ohne Flak weiter. Andere mit Augsteins verbalem Sturmgeschütz. Nehmen wir das Beispiel Elisabeth Goebbels, die in Ossietzky Heft 8/ 2007 aus ihrem Liebesleben berichtet. Überschrift: »Ich, Adorno und Speer.« Sie verabscheut Adorno, der sie nicht nur mit seinen »eiskalten Augen« bedrängte, seiner eigenen Frau Liebhaber beschaffte und in intimen Dingen »widerwärtig« war. Elisabeth träumte vom charmanten Albert Speer, wachte auf und besuchte ihn, seinen Hang zur Autobiographie bestärkend, was, wie wir wissen, Joachim Fest illuminierte. Und sie erklärte Hanns-Martin Schleyer den furchtbaren Wertewandel infolge Adorno und der 68er Bewegung, wobei Schleyer ihr entsetzt und »fassungslos, mit offenem Munde« zuhörte. Was er als SS-Banause 1933 an der Heidelberger Universität bewirkt, was er als deutscher SS-Held und Industrievertreter im besetzten Prag angerichtet und später verschwiegen hatte, war offenbar kein vergleichbarer Wertewandel. Im übrigen beriet Elisabeth Adenauer und Kohl sowie die FAZ und trägt das Große Bundesverdienstkreuz. Ist das nun eine Erfindung von Otto Köhler? Nein, er erfindet nichts, sondern zitiert aus Noelle-Neumanns originalen Erinnerungen. Otto Köhler, als Kind Nazi-Lehrern ausgeliefert, fragt, was wurde aus den Lehrern? Und warum Elisabeth Goebbels statt Frau Noelle? Warum nicht, wenn es um die Jahrzehnte langen Allensbacher Häppchen im mainischen Kapitalanzeiger geht. In ihrer Dissertation schon hatte Elisabeth sich artig beim Unterstützer Goebbels bedankt. In der Anmerkung erläutert Otto nachsichtig: »Die jetzt Neunzigjährige leidet seit frühester Kindheit unter Engelserscheinungen, glaubt fest an die Astrologie und wähnte, schon mehrfach gelebt zu haben, unter anderem in Ägypten, mutmaßlich als Nofretete.« Von braven Meinungsforschern wird eben erwartet, dass sie schon im alten Ägypten den Staat samt Gottheiten vertraten wie Sieburg das Dritte Reich und Frank Schirrmacher den Papst gegen den Islam. Da sind unsere Kapitalkameraden schlicht konservativ, und so kehrt der FAZ-Lemurenklub im Schatten Noelle-Neumanns mit fliegenden Fahnen zu seinen heroischen Vorfahren von Ernst Jünger bis Carl Schmitt, Heidegger und Gottfried Benn zurück. Gegen diese präfaschistischen Kopfgeburten schrieb schon Tucholsky vergeblich an, heute begegnen wir ihnen fortwährend im feuilletonistischen Medienmarathon. Man kriegt die Sentiments der künstlich beatmeten Ganz- und Halbnazis seitenlang portionsweise geboten. 25 Prozent der Deutschen meinen, das Dritte Reich habe auch seine guten Seiten gehabt, wie dem Stern zu entnehmen ist. Dieses Umfrage-Resultat wundert nicht bei einer Presse, die das Nazimitläufertum hofiert und den leidvollen antifaschistischen Widerstand verunglimpft. Laut Frank Schirrmacher am 10. Oktober 2007 im FAZ-Leitartikel zur Frankfurter Buchmesse war Ernst Bloch »ein Mystiker, der leider später ins rote Prophetentum abglitt«. Wäre er wie Schirrmachers Vorvorgänger Friedrich Sieburg ins braune Proselytentum abgeglitten, hätte er heute eine bessere Presse, die haben nach wie vor die umlackierten Heldenkerle, sie zogen 1918 wie 1945 geschlagen nach Haus, die Enkel fechten’s heute noch dümmlicher aus. Vonwegen man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Unsere Meisterschwimmer schaffen es dreimal.
Was Tucholsky in seinem Satireband Deutschland, Deutschland über alles, den der damalige Börsenverein übrigens mit allen Mitteln zu boykottieren suchte, für den Übergang vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg diagnostizierte, belegt Otto Köhler für den dritten Akt der Katastrophe, die zu befürchten steht, wenn die Klassen- und Kriegsherrschaft eskaliert. Tucholsky: »Wir sind zu lange still gewesen. Wer hat auf uns Rücksicht genommen? (…) Gäbe es irgendwo eine Gruppe junger Menschen, die antifaschistisch sind, so wollte ich wohl mittun.«
So etwas wird bei uns immer erst nach der jeweiligen Niederlage wahrgenommen. Neulich rechnete die FAZ mit den SS-Offizieren und Judenjägern im BKA erstaunlich radikal ab und sagte auch warum: Die alten Kameraden sind inzwischen verstorben. Solange die braunen Typen in Amt und Würden lebten, überließ man die Distanzierung anderen. So schrieb Otto Köhler z. B. über SS-Hauptsturmführer Theo Saevecke, bei der Bonner Sicherungsgruppe staatsbeamtet und versichert, obwohl in Turin zu lebenslänglich verurteilt.
Ich sage Köhler und meine Otto, nicht Horst. Wäre Otto Horst, setzte es Reden mit Substanz. Warum wurde Horst Bundespräsident und nicht Otto? Der dürfte nicht mal nach dem dritten verlorenen Weltkrieg.
1961 freute er sich als Berliner Student, als neben dem Publizistik-Professor und Hitler-Lobredner Dovifat die damals 44jährige Leiterin des Allensbacher Instituts Vorlesungen hielt. Es war aber keine Alternative. Nachzulesen in Köhlers Buch Unheimliche Publizisten, Untertitel: Die verdrängte Vergangenheit. Die Verdrängung begann schon zu Weimars Zeiten. Warum wurden Tucholsky und Ossietzky nicht in der Frankfurter Zeitung gedruckt? In einer kleinen Glosse für die Zeitschrift Ossietzky notierte ich vor Zeiten: Stell dir vor, wir hätten in Deutschland keine Zensur. Eckart Spoo gäbe die Bild-Zeitung heraus, Otto Köhler leitartikelte in der Welt und Dietrich Kittner dürfte regelmäßig in der ARD auftreten.
Stell Dir vor, Tucholsky hätte sich nicht das Leben genommen, die Bundeswehr klagte ihn wegen »Soldaten sind Mörder« an und Rolf Gössner verteidigte unseren Mann vorm Reichsgericht.
Stell dir vor, Hitler hätte sich schon 1933 erschossen, und Hindenburg verschenkte seinen Helm samt Bart an das präsidiale Sprachgenie Horst Köhler. Stell dir vor, Hitlers Mama hätte ihn abgetrieben, dann wäre Joachim Fest arbeitslos geblieben mit Hartz IV und Albert Speer spielte sein Leben lang im Kölner Karnevals-Dreigespann die Jungfrau. Stell dir vor, das alles stünde im einem FAZ– Artikel und stammte von mir. Dann gäbe es sogar Honorar dafür.
Das ließe sich noch konkretisieren. Warum wurde Adenauer Kanzler und nicht Martin Niemöller? Warum wurde Heuss Bundespräsident und nicht Adorno, Kogon, Gollwitzer, Abendroth, Bloch? Schaffte es aber mal ein Gustav Heinemann in Ministerämter, gab’s dort bald danach die Bleisoldaten Schily, Scharping, Fischer, Jung, Schäuble. Das sind Tornados statt Friedensdividenden. Wie wäre es mit Otto Köhler als Verteidigungsminister? Nähme man wenigstens den Eppelmann, der hat Erfahrung im Auflösen von Armeen. In Paranthese: Im Moment wird öffentlich angeregt, gegen den früheren Terroristen Rolf Clemens Wagner erneut zu ermitteln, weil er die Entführung Schleyers als richtig bezeichnet. Für einen Tucholsky-Pazifisten handelt es sich um den permanenten Konflikt zwischen zwei bewaffneten Fraktionen im Weltbürgerkrieg. Wagner bereut nicht? Hat Schleyer bereut? Tucholskys Pazifismus hält zu allen Schießprügeln Abstand, egal ob SS oder RAF. Notfalls hilft Matthäi 26/52: » … denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.«
Eben erst, am 13. Oktober 2007 war in der FAZ zu lesen, für das »Scheitern der Weimarer Republik« seien »Ernst Jünger und Kurt Tucholsky verantwortlich zu machen.« Der ehemalige FAZ-Redakteur Friedrich Karl Fromme wusste schon 1986, dass »Tucholsky (…) zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen hat«. Noch früher, am 10. Mai 1933, wussten es die Bücherverbrenner: »Gegen Frechheit und Anmaßung – für Achtung und Ehrfurcht vor dem deutschen Volksgeist – ins Feuer mit den Büchern von Tucholsky, Ossietzky …«
Im Klartext: Hätte das Deutsche Reich im 20. Jahrhundert nicht über Soldaten und Kanonen verfügt, wären Millionen von Menschen am Leben geblieben. Dazu hätte man statt Ernst Jünger jedoch Tucholsky lesen müssen. Lesen wir heute Tucholsky und Lothar Kusche und Otto Köhler!

Gerhard Zwerenz

Gehalten am 21. Oktober 2007 im Deutschen Theater in Berlin

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Laudatio für Erich Kuby zur Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises

Laudatio für Erich Kubys Tucholsky-Preis
Der Tucholsky-Preis an Erich Kuby? Lieber so spät als nie, dachte ich, als mich die Nachricht von dieser spontanen Jury-Entscheidung erreichte. Kuby gehört nicht zu jenen, die man in Deutschland mit Auszeichnungen bedenkt, und als die Stadt München ihm 1992 schließlich doch ihren Publizistikpreis zuerkannte, kommentierte der immerhin 82-Jährige: »Da hat man die Katze grad noch beim Schwanz erwischt«.
Nun also dieser Tucholsky-Preis, den er nicht mehr entgegennehmen kann, was uns heute um das Vergnügen bringt, seine Dankesrede zu hören; Kuby war nämlich ein begnadeter Redner.
Nicht nur das Redetalent verband ihn mit Tucholsky, wie jener war er ein schier unermüdlicher Journalist, der unter vielen Pseudonymen (zum Beispiel Alexander Parlach, Georg Neufforge, Wendulin) um der »Wahrheit« willen schrieb, der sagen wollte »wie es ist«. Er las Tucholsky noch in den Weimarer Jahren aus bayrischer Ferne und begann zu schreiben, als jener Anfang der dreißiger Jahre schon ein »aufgehörter Schriftsteller« und ein »aufgehörter Deutscher« war: erst nach dem Kriege aber publizierte er bisher ungezählte Aufsätze, Feuilletons, Reportagen, Glossen, Kommentare, Leitartikel, Kritiken, neben Features, Hörspielen, Drehbüchern und schließlich über dreißig Bücher. Die Anthologie Mein ärgerliches Vaterland (1989) vermittelt eine Ahnung von der Vielfalt seiner Schreibanlässe und Themen.
Wie Tucholsky »hasste« er im besonderen: das Militär, die Vereinsmeierei, Lärm und Geräusch und das nationalistische »D/Teutschland«.
Wenn er auch nicht im existentiellen Sinne unter Deutschland gelitten hat wie Tucholsky bis hin zum Tode, so war es doch aber das eigentliche Thema all seines Schreibens, er stritt und schrieb für ein anderes Deutschland, das nach 1945 einen anderen, einen »unteren« Weg hätte einschlagen können, der nicht schnurstracks in die Nato und den Kalten Krieg hätte führen müssen. Auch seine Studien und Bücher zu den italienisch-deutschen und polnisch-deutschen Beziehungen wollten die Deutschen »aufklären«.
Kuby hat sich sein Leben lang mit nichts anderem als mit diesem Land beschäftigt.
Da war er nicht allein, natürlich gab es in einem kleinen Land wie dem unseren noch andere, die aufklären wollten; es lassen sich allerlei Verbindungen ziehen: zum Beispiel zu Friedrich Sieburg, auch einer, der unter Deutschland gelitten und immer wieder darüber geschrieben hat. Er kam von der Weltbühne und war viele Jahre Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris und Autor des berühmten Buches Gott in Frankreich?; er war in den zwanziger und den ersten dreißiger Jahren mit Tucholsky befreundet – es gibt da allerlei anrührende Familien-Ausflugsphotos und Briefe. Tucholsky und andere Emigranten taten sich nach 1933 mit einem wie Sieburg, der deutscher Korrespondent blieb, natürlich schwer. Aber Sieburg hatte es auch mit Deutschland schwer: Bald nach Hitlers Regierungsübernahme schrieb in der Frankfurter Zeitung, das ging damals noch, nun komme er in eine schwierige Situation, weil er sein Land draußen gegen vieles in Schutz nehmen müsse, was er im Grunde nicht verteidigen wolle. Das hat seiner Beziehung zu den Emigranten am Ende natürlich nicht geholfen, weil er sich, ein Nationaler, von seinem Lande trotz Hitler nicht trennen mochte. Vor 1933 hatte er Hitlers Regierungsübernahme als Kostgänger Schleichers zu verhindern gesucht – und ist dann später, zur Zeit der deutschen Besatzung als Botschaftsrat in Paris doch noch ausgerutscht. Ich spreche von ihm nicht nur, weil sein Leben, seine unentschiedene Entscheidung besonders exemplarisch waren, sondern weil er es auch mit Tucholsky zu tun hatte – und er später meine Mutter heiratete, mein letzter Stiefvater war.
Ich erwähne diese seltsame Querverbindung in einem unglücklichen, kranken Land – und das ist es bis heute geblieben -, weil ich dem Erich Kuby schon begegnete, als Sieburg noch lebte – der starb 1964 -, aber ich wollte Ihnen nicht verschweigen, mit welch Seltsamem wir uns kannten, allmählich miteinander befreundet waren und uns immer wieder sahen, in Hamburg, in München, in Venedig, und auch mit Susanna und Daniel zu einem Weihnachten bei uns in Cortona.
Natürlich hatte ich Kuby schon viele Jahre gelesen, aber 1962 kam er zum Stern, dessen – freier – Redaktionsanwalt ich damals und bis zu den trostlosen Hitler-Tagebüchern 1983 war, über die und deren Hintergründe keiner so gnadenlos und richtig wie Kuby geschrieben hat. Ich habe damals meinen Beratungsvertrag gekündigt.
1962 war das Jahr der Spiegel-Affäre, als Augstein und Ahlers wegen angeblichen Landesverrats verhaftet und eingesperrt und die Redaktion – damals noch wie Zeit und Stern – im Pressehaus in Hamburg – durchsucht und auf den Kopf gestellt wurden. Man erinnere sich bitte des Aufschreis, der damals nicht gerade durchs ganze Land, aber doch durch die Medien und die Politik ging. Man erinnere sich des – allerdings vergleichsweise geringeren – Aufsehens, das 1970 bis 1976 unser Münchener Prozess der CSU gegen den Stern machte, als es um die CSU-Spielbanken-Affäre ging – wir hatten Körbe voller Zeitungsmeldungen und Kommentare – und als es später, in den achtziger Jahren in München vor Gericht darum ging, dass der Stern behauptet hatte, der bayerische Minister Gerold Tandler habe sich mit einem gefälschten Dokument ein Grundstück aus einem Nachlass herausgeholt, hat schon kaum noch einer zugehört, geschweige denn wie früher darüber geschrieben, aber – ungedruckt – gesagt, so sei das eben in unserem Lande. Die wahrhaft letzte Aufregung war die Neue-Heimat-Affäre – und auch das ist schon viele, viele Jahre her.
Wenn Innenminister Schily heuer veranlasst, die Cicero-Redaktion zu durchsuchen, hören in diesem Lande allmählich wieder ein paar mehr Leute hin, da wird ein wenig berichtet, wie sich’s heuer gehört – aber regen sich etwa wirklich viel im Lande darüber auf, geht einer auf die Straße, um zu demonstrieren oder gar eine Fensterscheibe einzuschlagen, weil unsere Freiheit vernichtet und jeder eingeschüchtert werden soll? Wie abgestumpft und ängstlich sind nun sogar schon die Journalisten dieses Landes? Was muss passieren, damit sich noch einer aufregt wie Kurt Tucholsky oder Erich Kuby, der 1963 zur Spiegel-Affäre schrieb: »Das Volk ist in keiner Weise aufgestanden, da mache man sich nichts vor«? Sieburg schrieb gleich 1962 einen FAZ-Leitartikel, in dem es hieß: »Der Zauber ist gebrochen, oh, nicht für immer; die selbstzufriedene Stimmung in der Bundesrepublik wird sich schon wieder einstellen.« So recht hatten sie wohl beide nicht haben mögen.
Gibt es solche archaischen Typen überhaupt noch? Und hört noch einer zu? Damit sich etwas ändert? Damit nicht alles in den Graben geht? Wer will noch schreien und gehört werden, damit wenigstens das meiste so bleibt, wie es ist, damit’s nicht noch schlimmer wird? Mehr kann der Journalismus ohnehin kaum je ausrichten. Wenig genug ist es allemal. Mit gutem Grund hatte Kuby 1957 seinem Buch Das ist des Deutschen Vaterland diesen Wortwechsel von Bert Brecht vorausgeschickt:
»Sagredo: Galilei, du sollst Dich beruhigen!
Galilei: Sagredo, du sollst Dich aufregen.«
Friedrich Sieburg besprach das Kuby-Buch in der FAZ voller Achtung, war aber damals, eben 1957, von der Wirkung des »Donnerkeils« der Kubyschen »massiven Polemik« nicht überzeugt: »Die bundesdeutsche Gegenwart ist an polemischen Unternehmungen nicht reich, einmal, weil unserer Publizistik das Talent dazu abgeht, zum anderen aber, weil die totale Wirkungslosigkeit von vornherein feststeht. Der Polemiker mag schreiben, was er will, niemand, der an der Macht beteiligt ist, wird auf ihn hören, es sei denn, dass ›Unannehmlichkeiten‹ zu befürchten seien.« Aber das war der Blick aus den verschlafenen fünfziger Jahren. Mit der Spiegel-Affäre 1962 hat sich dann schon einiges verändert – Strauß musste damals zurücktreten – sonst wäre er am Ende Bundeskanzler geworden -, später, 1978 auch Filbinger – sonst wäre der wohl Bundespräsident geworden!
Man soll ja vor allem als einer der Alten nie sagen, früher sei alles besser gewesen. Aber eines war wirklich besser: es gab in den sechziger und siebziger Jahren keine oder kaum Arbeitslose – und das machte die Menschen freier, offener, sie hatten weniger Angst und wagten mehr – und in so einem Kreis fühlte sich einer wie Erich Kuby naturgemäß wohler. Kommt man heute in Redaktionen, herrscht Angst; Angepasstheit und Mittelmaß sind erschreckend. Fast alle fürchten, ihren Job zu verlieren, weil es hunderte gibt, die ihn gern hätten und bereit sind, ohne zu maulen oder gar aufzubegehren zu arbeiten – so wie es von oben gewünscht wird.
Sieburg ernannte Kuby in einer Rezension zum »Bundesnonkonformisten« – und das ist er auch geblieben. Kuby hatte wahrlich bessere journalistische Zeiten als wir sie heute vorfinden – und er hatte bessere Nerven, er nahm sich Freiheit, die freilich auch etwas mit seiner privilegierten Herkunft und seinem eigenwilligen, unbürgerlichen Leben zu tun hatten, über das man in seinem Buch Lauter Patrioten – Eine deutsche Familiengeschichte 1800-2000 viel erfährt. Wer sich traut, über seine Familie zu schreiben, der gibt sich Blößen, die, auch wenn er sie zu verbergen sucht, mehr über ihn aussagen, als ihm lieb ist. Bei Erich Kuby war das schon immer anders: Er hat sich getraut und nie gescheut, etwas von sich preiszugeben; er ist dem Leser als »Kassandra vom Dienst« mit bedingungsloser Opposition auf den Leib gerückt, indem er direkt und – wie Tucholsky – unideologisch alles aussprach, was Leser weder hören noch gar zugeben mochten. Das dokumentiert sich besonders deutlich in seinem Buch Mein Krieg aus dem Jahre 1975, das in Tagebuchaufzeichnungen schildert, wie er den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, als ewiger Gefreiter, ab September 1944 als Kriegsgefangener, immer begleitet von seiner Schreibmaschine, auf der er jeden Tag und in jeder Situation schrieb.
Kuby kam aus einer bürgerlichen Familie, in der Intellektuelle allerdings nicht vorkamen, wohl aber Metzger, Reeder, Bankiers, Weinhändler, Beamte, Richter und Ärzte. Kubys Vater hatte sich 1901 ein Gut in Westpreußen gekauft, nach einem Jahr aber schon alles verwirtschaftet. Er zog nach München zurück und wollte seine Stimme ausbilden lassen. Dort traf er Dora Süßkind, eine Opernsängerin. 1910 kam Sohn Erich zur Welt. Ab 1913 lebte die Familie im bayerischen Voralpenland, wo sein Vater ein Gut übernahm. Im Jahr darauf zog er mit all den patriotischen Bürgern, die sich nicht vorstellen konnten, dass »da oben« etwas nicht stimmte, in den Krieg. Als er zurückkehrte glaubte er an den »Dolchstoß« und nahm Erich 1923 zu dem im Weilheimer Bezirksamt festgesetzten Hitler mit, sprach mit seinem darob verstörten Sohn indessen nie darüber. Der bekam bei einem jüdischen Gymnasiallehrer indes anderen, wirksamen Unterricht: »Sie machen Hitler zu groß, sagte Lamm (der Lehrer). Solche Hitlers haben auch andere Völker, aber sie bleiben Randfiguren. Hier nicht. Er erzieht nicht das Volk, das Volk hat ihn erfunden. Haben Sie mir nicht gesagt, Ihr Vater habe noch im Sommer 1918 den Krieg nicht für verloren gehalten? Verrückt? Keine Spur, ein ganz normaler Deutscher.« Das konnte Erich Kuby nicht vergessen.
Er studierte Volkswirtschaft, wurde Werfthilfsarbeiter bei Blohm & Voss in Hamburg und schrieb seine ersten Texte über die Arbeitswelt, die er dort erlebte. 1933 forderte ihn seine jüdische Freundin auf, mit ihr das Land zu verlassen. Das tat er zwar, per Fahrrad, kehrte aber schon nach wenigen Monaten zurück: »Ich wollte nicht nur aus der Ferne an der Entwicklung teilnehmen, ich wollte dem Selbstfindungsprozess meines Volkes, der ein Fäulnisprozess gewesen ist, nahe sein, ihn riechen und schmecken.« 1938 heiratete er die Tochter des Berliner Nationalökonomen Hermann Schumacher, des Gegenspielers von Werner Sombart, nachdem er 1936 in Berlin begonnen hatte, für den Scherl-Verlag zu arbeiten. Die Schwester seiner Frau war mit dem Physiker Werner Heisenberg verheiratet. Kuby war überzeugt, die Einberufung zur Wehrmacht sei für ihn selber gerade im rechten Moment gekommen – er wollte sich die Hände nicht schmutzig machen, und im zivilen Leben hätte er sich nicht länger tarnen können.
Nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft arbeitete er zunächst als Berater der »Information Control Division« in München, zuständig für die Lizenzvergabe. 1947 wurde er Chefredakteur der legendären Zeitschrift Der Ruf, nachdem die US-Militärregierung die ersten Herausgeber Alfred Andersch und Hans Werner Richter abgesetzt hatte. Aber Kuby teilte bald das Schicksal seiner Vorgänger: Schon nach einem Jahr wurde er gefeuert, weil er Texte und vor allem einen Leserbrief veröffentlicht hatte, die den Lizenzträgern gar nicht gefielen, so dass sie, wie Kuby schreibt, »mit der Absicht umgingen, jemand für den Ruf zu finden, der ihrer stinkbürgerlichen Gesinnung eher entsprach«. So kam Erich Kuby zur Süddeutschen Zeitung, wo er unablässig und erbittert gegen die Wiederbewaffnung und die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen wetterte.
Wirklich richtig berühmt wurde Kuby 1958 durch seine Idee und das Drehbuch für den Film Rosemarie, des deutschen Wunders liebstes Kind, den Rolf Thiele mit Nadja Tiller drehte. Der daraus entstandene Roman wurde in siebzehn Sprachen übersetzt – damit wurde Kuby der Émile Zola der deutschen Wirtschaftswunderjahre, denn er schilderte die Bundesrepublik der Mittfünfziger Jahre so gnadenlos, dass einem der Geschmack an CDU, Wirtschaftswunder und dem »Wir sind wieder wer« vollends verging – und man sich fragte: Waren wir je »wer« oder haben wir in den beiden Weltkriegen nur unsere nicht enden wollenden Minderwertigkeitskomplexe überkompensiert, weil wir es in bald dreihundert Jahren zu nichts mehr gebracht hatten? Das merke ich jetzt besonders eindrucksvoll, seit ich in London lebe und täglich spüre, wie viel angenehmer und beruhigender es ist, dreihundert Jahre die Welt regiert zu haben als in einem Jahrhundert zwei Weltkriege anzufangen – und verloren zu haben.
In jenem Jahr, 1958, landete Kuby, dessen journalistische Unabhängigkeit sich durch die Jahrzehnte erweisen sollte, für eine Weile bei der Welt, verließ sie aber bald wieder, nachdem sich das Blatt, ja der ganze Verlag nach Axel Springers und Hans Zehrers Moskau-Reise in eine Kampftruppe des Kalten Krieges verwandelt hatten. 1962, ich erwähnte es schon, kam Kuby zum Stern, wo er aber auch seine Probleme hatte: Als Chefredakteur Henri Nannen 1964 Franz Josef Strauß eine vierzehntägige Kolumne angeboten hatte, schmiss Kuby alles hin und ging zum Spiegel, kam aber nach anderthalb Jahren wieder zum Stern zurück.
Und er schrieb ein Buch nach dem anderen, vor allem eines, das auch sein privates Leben veränderte: Für den Stern recherchierte er Ende der siebziger Jahre, wie die Deutschen nach dem Badoglio-Putsch 1943 in Italien gehaust hatten. Da er kein Italienisch sprach und der wissenschaftlichen Assistenz bedurfte, suchte und fand er die Mitarbeit einer jungen, in Italien lebenden Germanistin, Susanna Böhme. Der Stern druckte die Italien-Geschichte nicht. Kuby schied endgültig aus der Redaktion aus und war mit 70 Jahren wieder ein freier Mann, dessen »Schreibmaschine überall stehen konnte«, wie er es ausdrückte. Geblieben sind ihm aus dieser umfangreichen Arbeit das sehr erfolgreiche und für die Deutschen gar nicht angenehme Buch Verrat auf deutsch – wie das Dritte Reich Italien ruinierte, und Susanna, die dann seine zweite Frau wurde und mit der er 1982 noch einen Sohn, Daniel, hatte, sein sechstes Kind. Bücher halten ja sehr lange, aber entgegen der Erwartung mancher hielt auch diese Ehe – bis zu seinem Tod.
Kuby lebte mit Frau und Sohn in Venedig, in einer Ecke, die von Touristen nicht überschwemmt wird – und dort schrieb er bis in die neunziger Jahre hinein Bücher, fast jedes Jahr eins, die längst nicht alle so wahrgenommen worden sind, wie sie es verdient hätten, ich denke nur an seine Warnungen in Bezug auf den Preis der Einheit (1990) oder Deutsche Perspektiven (1992). Seit 1993 schrieb er dann noch 10 Jahre lang für den Freitag, dessen Mit-Herausgeber der im vergangenen Jahr zu früh und unersetzlich gestorbene Günter Gaus war. Der »Zeitungsleser« Kuby faxte damals eine wöchentliche Presseschelte aus Venedig nach Berlin, die seine nach wie vor unbestechliche Urteilskraft dokumentierten. Tempi passati.
Man muss ja nicht gleich Ernst Jünger übertreffen – in gar keiner Hinsicht. Aber Erich Kuby hätte es zeitlich beinahe schaffen können, er hat bis zum Schluss noch gemalt, eine Tätigkeit, die ihn – wie sein Musizieren – lebenslang begleitet hat. Wir werden ja allmählich fast alle viel zu alt – aber den Erich Kuby hätten wir dennoch gerne noch eine Weile unter uns gehabt. Dann hätte er sich auch über diesen Preis freuen können.
Als wir noch jünger starben, gab’s ein paar Alte, die über die Vergangenheit sagen konnten, was sie wollten, weil keiner mehr da war, der hätte widersprechen können. Kuby hätte sich das mit seinen 95 Jahren auch leisten können, aber was hätte er erfinden sollen, was er nicht schon formuliert hatte? Vor allem nichts, um sich nach vorne zu lügen und Aufmerksamkeit zu bekommen – die war ihm ohnehin sicher.
Manche, gar viele, die nicht wissen, wovon sie reden, manche, die nicht richtig lesen können, hielten und halten Kuby für einen Linksintellektuellen, gar für einen Kommunisten. Er war hingegen ein freier, unabhängiger Mensch, fern aller Ideologie, auch darin Tucholsky vergleichbar, der sich, diesen paraphrasierend, als »Anti-Antikommunisten« hätte bezeichnen können. Beide nahmen sich immer das Recht, ihre Meinung zu sagen, auch wenn sie in kein Schema passte – und danach auch zu handeln: zum Beispiel in den endsechziger Jahren einen Hamburger Studenten-Revoluzzer wochenlang in Kubys Wohnung in der Parkallee unterzubringen, weil er vom Staatsschutz gesucht wurde. Weil er Unabhängigkeit – in seinem journalistischen Leben, wie im Privaten – dokumentierte, die manche fast wie Arroganz anmutete, haben ihn nicht wenige angefeindet, fast gehasst – und doch auch beneidet und respektiert. Er hat sich nie auf faule Kompromisse eingelassen.
Vor allem nicht auf die Verdrängung und Verharmlosung der Nazizeit, die doch in Wahrheit die Zeit der größten deutschen Selbstverwirklichung war, wie er nicht nur einmal formulierte. Nach 1945 aber »sind sie aus ihrer Geschichte ausgestiegen, haben aufgehört ein Volk zu sein. Tagtäglich werden wir Zeugen hilfloser Bemühungen, aus einer gestaltlosen, kulturlosen, demoralisierten Masse wieder ein Volk zu machen, als ließe sich das mit Feuilletons, Büchern und Ministerreden bewerkstelligen und von einer politischen Klasse, die mit nichts anderem beschäftigt ist, als die nächsten Wahlen zu gewinnen«, schrieb er 1996 am Schluss von Lauter Patrioten.
Wir ehren hier und heute einen Widerspenstigen, einen Aufsässigen, einen Herren, der nie wegschaute, sondern immer alles aufschrieb, was er gesehen hatte, gleichgültig, ob es ihm, seiner Redaktion oder seinen Lesern gefiel. Er war unbarmherzig auch mit sich, wenn er formulierte – und er fand bis zum Schluss immer wieder jemanden, der ihn druckte. Kuby war nicht etwa kompromissunfähig, aber er hatte instinktiv sichere Grenzen, die er nicht zu überschreiten bereit war; dann ging er sofort. Deshalb ist er auch der richtige Preisträger für Tucholsky – das sind zwei, die zusammenpassen. Es wird schwer werden, in Zukunft einen zu finden, der da mithalten kann.

Heinrich Senfft