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Originaltexte Tucholsky: Zum Werk

Kurt Tucholsky: Rosen auf den Weg gestreut

Ich resigniere. Ich kämpfe weiter, aber ich resigniere. Wir stehen hier fast ganz allein in Deutschland – fast ganz allein. […] Pathos tuts nicht und Spott nicht und Tadel nicht und sachliche Kritik nicht. Sie wollen nicht hören.

Dies schrieb Kurt Tucholsky 1919 in seinem Resümee zum Prozess gegen Otto Marloh. In diesem bemerkenswerten Text sind viele Themen und Motive seines späteren Wirkens bereits enthalten: Die Kritik an der politisch motivierten Justiz, am Korpsgeist, am Militarismus, an der Mutlosigkeit der Republik, am Untertanengeist, an der Autoritätssehnsucht seiner Zeitgenossen.
Am anderen Ende seiner Wirkungszeit, im Frühjahr 1931 schrieb er als Theobald Tiger eines seiner bittersten – und stärksten – politischen Gedichte.
In »Rosen auf den Weg gestreut« ist von der Hoffnung, die in »Prozess Marloh« noch zu erkennen ist, nichts mehr geblieben. Es ist eine bitterböse Abrechnung mit einer Republik, die es nicht geschafft hat, klare Position gegen ihre Gegner zu beziehen. Man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass seine Botschaft unserer Zeit weit weniger fern ist als sie sein sollte…

Rosen auf den Weg gestreut

Ihr müßt sie lieb und nett behandeln,
erschreckt sie nicht – sie sind so zart!

Ihr müßt mit Palmen sie umwandeln,
getreulich ihrer Eigenart!

Pfeift euerm Hunde, wenn er kläfft –:
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft!

 
Wenn sie in ihren Sälen hetzen,
sagt: »Ja und Amen – aber gern!
Hier habt ihr mich – schlagt mich in Fetzen!«
Und prügeln sie, so lobt den Herrn.

Denn Prügeln ist doch ihr Geschäft!
Küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft.

 
Und schießen sie –: du lieber Himmel,
schätzt ihr das Leben so hoch ein?
Das ist ein Pazifisten-Fimmel!
Wer möchte nicht gern Opfer sein?

Nennt sie: die süßen Schnuckerchen,
gebt ihnen Bonbons und Zuckerchen …

Und verspürt ihr auch
in euerm Bauch

den Hitler-Dolch, tief, bis zum Heft –:
Küßt die Faschisten, küßt die Faschisten,
küßt die Faschisten, wo ihr sie trefft –!

Theobald Tiger, Die Weltbühne, 31.03.1931, Nr. 13, S. 452.

Der Text in der Lesung von Steffen Ille (aus dem Hörbuch »Gruß nach vorn«)

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Ignaz Wrobel: Der bewachte Kriegsschauplatz

Im nächsten letzten Krieg wird das ja anders sein … Aber der vorige Kriegsschauplatz war polizeilich abgesperrt, das vergißt man so häufig. Nämlich:
Hinter dem Gewirr der Ackergräben, in denen die Arbeiter und Angestellten sich abschossen, während ihre Chefs daran gut verdienten, stand und ritt ununterbrochen, auf allen Kriegsschauplätzen, eine Kette von Feldgendarmen. Sehr beliebt sind die Herren nicht gewesen; vorn waren sie nicht zu sehen, und hinten taten sie sich dicke. Der Soldat mochte sie nicht; sie erinnerten ihn an jenen bürgerlichen Drill, den er in falscher Hoffnung gegen den militärischen eingetauscht hatte.
Die Feldgendarmen sperrten den Kriegsschauplatz nicht nur von hinten nach vorn ab, das wäre ja noch verständlich gewesen; sie paßten keineswegs nur auf, daß niemand von den Zivilisten in einen Tod lief, der nicht für sie bestimmt war. Der Kriegsschauplatz war auch von vorn nach hinten abgesperrt.
„Von welchem Truppenteil sind Sie?“ fragte der Gendarm, wenn er auf einen einzelnen Soldaten stieß, der versprengt war. „Sie“, sagte er. Sonst war der Soldat ›du‹ und in der Menge ›ihr‹ – hier aber verwandelte er sich plötzlich in ein steuerzahlendes Subjekt, das der bürgerlichen Obrigkeit untertan war. Der Feldgendarm wachte darüber, daß vorn richtig gestorben wurde.
Für viele war das gar nicht nötig. Die Hammel trappelten mit der Herde mit, meist wußten sie gar keine Wege und Möglichkeiten, um nach hinten zu kommen, und was hätten sie da auch tun sollen! Sie wären ja doch geklappt worden, und dann: Untersuchungshaft, Kriegsgericht, Zuchthaus, oder, das schlimmste von allem: Strafkompanie. In diesen deutschen Strafkompanien sind Grausamkeiten vorgekommen, deren Schilderung, spielten sie in der französischen Fremdenlegion, gut und gern einen ganzen Verlag ernähren könnte. Manche Nationen jagten ihre Zwangsabonnenten auch mit den Maschinengewehren in die Maschinengewehre.
So kämpften sie.
Da gab es vier Jahre lang ganze Quadratmeilen Landes, auf denen war der Mord obligatorisch, während er eine halbe Stunde davon entfernt ebenso streng verboten war. Sagte ich: Mord? Natürlich Mord. Soldaten sind Mörder.
Es ist ungemein bezeichnend, daß sich neulich ein sicherlich anständig empfindender protestantischer Geistlicher gegen den Vorwurf gewehrt hat, die Soldaten Mörder genannt zu haben, denn in seinen Kreisen gilt das als Vorwurf. Und die Hetze gegen den Professor Gumbel fußt darauf, daß er einmal die Abdeckerei des Krieges „das Feld der Unehre“ genannt hat. Ich weiß nicht, ob die randalierenden Studenten in Heidelberg lesen können. Wenn ja: vielleicht bemühen sie sich einmal in eine ihrer Bibliotheken und schlagen dort jene Exhortatio Benedikts XV. nach, der den Krieg „ein entehrendes Gemetzel“ genannt hat und das mitten im Kriege! Die Exhortatio ist in dieser Nummer nachzulesen.
Die Gendarmen aller Länder hätten und haben Deserteure niedergeschossen. Sie mordeten also, weil einer sich weigerte, weiterhin zu morden. Und sperrten den Kriegsschauplatz ab, denn Ordnung muß sein, Ruhe, Ordnung und die Zivilisation der christlichen Staaten.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 04.08.1931, Nr. 31, S. 191.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 14. Texte 1931, S. 551 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 9, S. 253 ff.

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Kurt Tucholsky: Start

Wir sind fünf Finger an einer Hand.
Der auf dem Titelblatt
und:
Ignaz Wrobel. Peter Panter. Theobald Tiger. Kaspar Hauser.
Aus dem Dunkel sind diese Pseudonyme aufgetaucht, als Spiel gedacht, als Spiel erfunden – das war damals, als meine ersten Arbeiten in der ›Weltbühne‹ standen. Eine kleine Wochenschrift mag nicht viermal denselben Mann in einer Nummer haben, und so erstanden, zum Spaß, diese homunculi. Sie sahen sich gedruckt, noch purzelten sie alle durcheinander; schon setzten sie sich zurecht, wurden sicherer; sehr sicher, kühn – da führten sie ihr eigenes Dasein. Pseudonyme sind wie kleine Menschen; es ist gefährlich, Namen zu erfinden, sich für jemand anders auszugeben, Namen anzulegen – ein Name lebt. Und was als Spielerei begonnen, endete als heitere Schizophrenie.
Ich mag uns gern. Es war schön, sich hinter den Namen zu verkriechen und dann von Siegfried Jacobsohn solche Briefe gezeigt zu bekommen:
»Sehr geehrter Herr! Ich muß Ihnen mitteilen, daß ich Ihr geschätztes Blatt nur wegen der Arbeiten Ignaz Wrobels lese. Das ist ein Mann nach meinem Herzen. Dagegen haben Sie da in Ihrem Redaktionsstab einen offenbar alten Herrn, Peter Panter, der wohl das Gnadenbrot von Ihnen bekommt. Den würde ich an Ihrer Stelle … «
Und es war auch nützlich, fünfmal vorhanden zu sein – denn wer glaubt in Deutschland einem politischen Schriftsteller Humor? dem Satiriker Ernst? dem Verspielten Kenntnis des Strafgesetzbuches, dem Städteschilderer lustige Verse? Humor diskreditiert.
Wir wollten uns nicht diskreditieren lassen und taten jeder seins. Ich sah mit ihren Augen, und ich sah sie alle fünf: Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare; Panter, einen beweglichen, kugelrunden, kleinen Mann; Tiger sang nur Verse, waren keine da, schlief er – und nach dem Kriege schlug noch Kaspar Hauser die Augen auf, sah in die Welt und verstand sie nicht. Eine Fehde zwischen ihnen wäre durchaus möglich. Sie dauert schon siebenunddreißig Jahre.
Woher die Namen stammen -?
Die alliterierenden Geschwister sind Kinder eines juristischen Repetitors aus Berlin. Der amtierte stets vor gesteckt vollen Tischen, und wenn der pinselblonde Mann mit den kurzsichtig blinzelnden Augen und dem schweren Birnenbauch dozierte, dann erfand er für die Kasperlebühne seiner ›Fälle‹ Namen der Paradigmata.
Die Personen, an denen er das Bürgerliche Gesetzbuch und die Pfändungsbeschlüsse und die Strafprozeßordnung demonstrierte, hießen nicht A und B, nicht: Erbe und nicht Erblasser. Sie hießen Benno Büffel und Theobald Tiger; Peter Panter und Isidor Iltis und Leopold Löwe und so durchs ganze Alphabet. Seine Alliterationstiere mordeten und stahlen; sie leisteten Bürgschaft und wurden gepfändet; begingen öffentliche Ruhestörung in Idealkonkurrenz mit Abtreibung und benahmen sich überhaupt recht ungebührlich. Zwei dieser Vorbestraften nahm ich mit nach Hause – und, statt Amtsrichter zu werden, zog ich sie auf.
Wrobel – so hieß unser Rechenbuch; und weil mir der Name Ignaz besonders häßlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheulich, beging ich diesen kleinen Akt der Selbstzerstörung und taufte so einen Bezirk meines Wesens.
Kaspar Hauser braucht nicht vorgestellt zu werden.
Das sind sie alle fünf.
Und diese fünf haben nun im Lauf der Jahre in der ›Weltbühne‹ gewohnt und anderswo auch. Es mögen etwa tausend Arbeiten gewesen sein, die ich durchgesehen habe, um diese daraus auszuwählen – und alles ist noch einmal vorbeigezogen … Vor allem der Vater dieser Arbeit: Siegfried Jacobsohn.
Fruchtbar kann nur sein, wer befruchtet wird. Liebe trägt Früchte, Frauen befruchten, Reisen, Bücher … in diesem Fall tat es ein kleiner Mann, den ich im Januar 1913 in seinem runden Bücherkäfig aufgesucht habe und der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat, bis zu seinem Tode nicht. Vor mir liegen die Mappen seiner Briefe: diese Postkarten, eng bekritzelt vom obern bis zum untern Rand, mit einer winzigen, fetten Schrift, die aussah wie ein persisches Teppichmuster. Ich höre das »Ja -?«, mit dem er sich am Telefon zu melden pflegte; mir ist, als klänge die Muschel noch an meinem Ohr … Was war es -?
Es war der fast einzig dastehende Fall, daß dem Gebenden ein Nehmender gegenüberstand, nicht nur ein Druckender. Wir senden unsere Wellen aus – was ankommt, wissen wir nicht, nur selten. Hier kam alles an. Der feinste Aufnahmeapparat, den dieser Mann darstellte, feuerte zu höchster Leistung an – vormachen konnte man ihm nichts. Er merkte alles. Tadelte unerbittlich, aber man lernte etwas dabei. Ganze Sprachlehren wiegt mir das auf, was er ›ins deutsche Übersetzen‹ nannte. Einmal fand er eine Stelle, die er nicht verstand. »Was heißt das? Das ist wolkig!« sagte er. Ich begehrte auf und wußte es viel besser. »Ich wollte sagen … « erwiderte ich – und nun setzte ich ihm genau auseinander, wie es gemeint war. »Das wollte ich sagen«, schloß ich. Und er: »Dann sags.« Daran habe ich mich seitdem gehalten. Die fast automatisch arbeitende Kontrolluhr seines Stilgefühls ließ nichts durchgehen – kein zu starkes Interpunktionszeichen, keine wilde Stilistik, keinen Gedankenstrich nach einem Punkt (Todsünde!) – er war immer wach.
Und so waren unsere Beiträge eigentlich alle nur Briefe an ihn, für ihn geschrieben, im Hinblick auf ihn: auf sein Lachen, auf seine Billigung – ihm zur Freude. Er war der Empfänger, für den wir funkten.
Ein Lehrer, kein Vorgesetzter; ein Freund, kein Verlagsangestellter; ein freier Mann, kein Publikumshase. »Sie haben nur ein Recht«, pflegte er zu sagen, »mein Blatt nicht zu lesen.« Und so stand er zu uns, so hat er uns geholfen, zu uns selbst verholfen, und wir haben ihn alle lieb gehabt.
Wir beide nannten uns, nach einem revolutionären Stadtkommandanten Berlins, gegenseitig: Kalwunde.
»Kalwunde!« sagtest du, wenn du dreiunddreißig Artikel in der Schublade hattest, »Kalwunde, warum arbeitest du gar nicht mehr -?« Und dann fing ich wieder von vorne an. Und wenn das dicke Kuvert mit einem satten Plumps in den Briefkasten fiel, dann hatte der Tag einen Sinn gehabt, und ich stellte mir, in Berlin und in Paris, gleichmäßig stark vor, was du wohl für ein Gesicht machen würdest, wenn die Sendung da wäre. Siehst du, nun habe ich das alles gesammelt … Und du kannst es nicht mehr lesen … »Mensch!« hättest du gesagt, »ick wer doch det nich lesen! Ich habe es ja alles ins Deutsche übersetzt –!«
Das hast du.
Und so will ich mich denn mit einem Gruß an dich auf den Weg machen.
Starter, die Fahne –! Ab mit 5 PS.


Autorenangabe: Kurt Tucholsky
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 27.12.1927, Nr. 52, S. 964
Wieder in: Mit 5 PS.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 9. Texte 1927, S. 953 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 5, S. 434 ff.

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Ignaz Wrobel: Berlin! Berlin!

Berlin hat keine sehr gute Presse im Reich; voller Haß wird diese Stadt kopiert. Was geht da vor?
Einer der Oberschreier im Kampf der Wagen und Gesänge ist Hugenberg. Der hat sich aus den übelduftenden Restbeständen der schmutzigen wiener ›Stunde‹ ein paar Schaufensterdekorateure herangeholt, die, Bonifacio Kiesewettern gleich, die Mauern mit merkwürdigem Farbstoff beklecksen und ihr ottakringer ›Hoppauf!‹ in das gute ›Gib ihm Saures!‹ täppisch zu übertragen versuchen. Wie da Hunderttausende von Lesern sich selbst ausnehmen, wenn Berlin als radikale Lasterhöhle beschimpft wird, wie gleichzeitig der schlecht gelüftete Amtsgerichtsrat in der Provinz sein Germanentum attestiert bekommt und Berlin als bolschewistisches Judennest angeprangert wird – immer mit Ausnahme der geehrten Abonnenten, die wir besonders auf unsern Anzeigenteil verweisen –: das wäre zum Entzücken gar, wenn das Blatt nun auch noch auf Rollen gedruckt wäre. Nur Wilhelm der Zweite las dieses Papier in unzerschnittnem Zustande.
So weit Hugenberg, der ja wissen muß, wie er mit diesem ungeschickten Geschrei von der ›roten berliner Rotte‹ so ganz nebenbei die Geschäfte seiner Leute stört. Während die Stadt auf der einen Seite etwas komisch anmutende Versuche macht, einen ›Fremdenverkehr‹ zu organisieren, dabei außer acht lassend, daß sich kein Mensch auf dieser Welt für Geld gern unhöflich behandeln läßt (›vorbestraft‹ und ›Ausländer‹ sind für viele Polizeibüros Synonyme) – während Messeamt und Oberbürgermeister miteinander wetteifern, besudelt auf der andern Seite der tüchtige Hugenberg die eigne Stadt und das eigne Eiernest.
Die Provinz hat andre Motive.
Da erscheint vor allem der Gedanke unerträglich, daß ›die Leute in Berlin‹ alles besser wissen wollen, und Lokaldünkel, Unfähigkeit, weiter als bis zum nächsten Kirchenturm zu denken, und Ämterehrgeiz werden gern als ›kulturbedingte Interessen des Föderalismus‹ plakatiert. Berlin, Berlin!
Nun hats Preußen den Leuten in der Provinz nicht leicht gemacht. Dieser berliner Überlegenheitston, der die andern wie verständlich so maßlos reizt, diese törichte Attitüde, die sich aus Herrschergelüste, Überlegenheitsfimmel und Postenjägerei zusammensetzt, hat unendlich geschadet. Die Vormachtstellung Preußens muß fallen, auch, wenn seine Regierung uns heute besser zusammengesetzt scheint als die des Reiches. Hier allerdings liegt der seltene Fall vor, wo ein Land bedingungslos vor dem Reich kuscht, kapituliert, sich nicht mehr rührt – man stelle sich dasselbe etwa von Bayern vor, das ja in Wahrheit dem Reich nur lose angegliedert ist. Die Vormachtstellung Preußens muß fallen, wie die der Bundesstaaten, lächerliche Überbleibsel dynastischer Schachereien, fast ohne Kulturinhalt; denn es wird uns wohl kein Mensch im Ernst einreden wollen, daß die Grenzen der wahren Kulturkreise in Deutschland mit denen zusammenfallen, so durch Prinzessinnen-Prostitution und Landkauf festgesetzt worden sind.
Mein München lob ich mir; es ist ein Klein-Berlin und bildet seine Leute! Die Anti-Berliner, die am liebsten in der Landestracht ins Bett kriechen würden, die sich mit der Betonung der partikularistischen Eigenart gar nicht genug tun können, putzen sich nämlich brav den Mund mit Kaliklora, gurgeln mit Odol, benutzen das Reklame-Vaseline ihrer Zeitschrift, unterliegen denselben Einwirkungen der deutschen Allerweltsreklame … Denn die Wirtschaft läßt sich nichts vormachen, und da hören die heimischen Belange (sprich aus wie: Melange) lauf.
Im übrigen kopiert das Berlin, wo es nur kann. Nicht etwa, weil Berlin gar so schön und nachahmenswert sei. Aber es muß doch dem deutschen Volkscharakter sehr weit entgegenkommen … Die Diele und die Bar, die illustrierte Zeitung und die Verkehrsampel, Mode und Theater, Klamauk und Kunst: es gibt kaum eine Sache, mag sie noch so verdienstvoll oder noch so dämlich sein, die in der Provinz nicht ihren Nachahmer fände. Was die Herrschaften nicht hindert, voll heimlichen Gruselns und auf das Dümmste gegen Berlin, den verruchten Herd des Umsturzes, zu wettern. Oh, wäre es das –!
»Ich verstehe nicht, wie man in seinem Alter noch so radikal sein kann!« sagte einst Goethe, grade als er wieder einmal den Ernst Ritter von Possart spielte. Es goethelt sich da etwas zurecht in deutschen Landen. Bis an den Hals mit jener Sucht gefüllt, dem andern um Gottes willen eine Spirale weit vorauf zu sein, lächeln diese Kulturbadewärter leise und vornehm auf die ›berliner Radikalen‹ herunter. Ich spreche gar nicht einmal von den dummen völkischen Zeitschriften, die für sich alle paar Monate ein neues teutsches Genie entdecken, einen Bildhauer, der keusches Blond knetet, heiligen Mutterschoß und betenden Krieger; einen Maler, der von alten Kirchenbildern klaut, was ihm erreichbar ist; zur Zeit haben sie Hans Grimm beim Wickel, einen falschen Frenssen, und der echte war schon Tomback … Also von denen wollen wir uns gar nicht unterhalten.
Aber ihre Terminologie, ihre dumme Verachtungspose gibt es noch ein andres Mal, jene matten Gesten, die immer den Eindruck erwecken, als habe man einem lebhaften Ostjuden während der Rede die Hände festgebunden, und nun wedelt er nur noch leise mit dem Charakter … alles das gibt es zum zweiten Male bei den falschen Konservativen des Geistes.
Zu blutarm, um von der Zeit aufgepeitscht zu werden, zu bequem, etwas zu riskieren, sehen sie vornehm überlegen auf die windigen, die altmodischen, die berliner Radikalen.
Zu leugnen, daß es auch unter diesen des Unliebsamen, des Monomanen, des Abzulehnenden genug gibt, hieße, den deutschen Fehler begehn: alles sündhaft zu heißen, nur die eigne Gruppe nicht. Die dekorativen Philosophen, die unter ›Berlin‹ einen Radikalismus verstehn, der ihnen peinlich ist, können noch nicht einmal treffen, wenn sie schießen: Soll ich einmal -? Ich kann denen erzählen, wie oft tönende Stimme und geistiges Format im Mißverhältnis stehn, eine Erscheinung, die mein lieber Freund O. C. einmal ›Schreib-Riesen‹ getauft hat; wie snobistisch vieles ist, wie unglücklich sich diese entwurzelten Bürger, nicht wieder angewachsenen Proletarier fühlen; wie sie anlehnungsbedürftig, im Winde schwanken … Aber der letzte Schwätzer dieser ›berliner Radikalen‹ ist mir immer noch lieber als irgend eines Kaufmanns gesättigter Schwiegersohn, der maßvollgebildet historisches Fachwissen, chinesische Wandsprüche und die Kenntnis von wiener Porzellan gegen das auszuspielen versucht, was uns bewegt.
Vor dem Kriege vertrat Oscar A. H. Schmitz den Typus des Philosophen mit Bai und allem Komfort – heute haben wir deren viele. Das gedeiht besonders unter Privatdozenten. Aber wenn man näher hinblickt, was sie denn zu so vornehmer Ruhe befähigt, wie sie denn dazu kommen, so fein das Gewissen der andern zu analysieren, leise abzuwinken, wenn draußen auf der Straße geschossen oder auch nur geprügelt wird –: es ist immer, immer dasselbe. Sie sind vornehm, still und leise, weil Papa ein gutgehendes Papiergeschäft hat; weil die Zeitung, die sie anstellt, gute Inseratengeschäfte macht; weil da eine Rente mit einer Tante ist; weil sie gut gegessen haben, sauber gebadet sind, es friert sie nicht –: von sicherm Port läßt sich gemächlich raten. Aber dann doch lieber den entwurzelten Bürgerssohn, der das Maul zu weit aufreißt, dessen Lebensführung mit seinen Theorien nicht in Einklang steht –: er fühlt wenigstens, was da leidet auf der Welt; er hat ein Ohr, zu hören, ein Herz, das schlägt … „Man muß protestieren.“
Ich liebe Berlin nicht. Seine Wendriners hat Gott in den Mund genommen und sofort wieder ausgespien; seine Festlichkeiten sind sauber ausgerichtet; seine Dächer sagen nicht zu mir: „Mensch! Da bist da ja!“ Ich liebe diese Stadt nicht, der ich mein Bestes verdanke; wir grüßen uns kaum. Aber wenn man diese Kulturtrottel in allen Orten des Reiches sieht, ist zu sagen:
Es ist ein kindliches Spiel, die Angst vor der Aufteilung der Bankkonten, Angst vor Unbequemlichkeit, Kasteneitelkeit und unfruchtbare Bildung, die mit dem Blick auf Laotse über den mißhandelten Zuchthäusler nicht einmal stolpert, auf eine Schießbudenfigur ›Berlin‹ zu pappen und nun nach der Scheibe zu schießen. Scheibe. Verfaule in deiner faulen Bildung, Gebildeter. Versauf in feinen Formulierungen, Brillenkerl. Lächle überlegen – ach, bist du kultiviert!
Wenn das Berlin ist: Radikalismus in Militärfragen, Unbedingtheit gegen den Stahlund Kohlen-Patriotismus; Haß gegen Verblödung durch die Pfarrer Mumm und Pfarrer Heuss; Sabotage der Vorbereitungen zum nächsten Schlachten durch Kriegsminister Geßler, Judikatur und Schule, wenn das alles ›Berlin‹ ist –: dann sind wir und unsre Freunde im ganzen Reich, in Hagen und an der Wasserkante, in der Mark und im sächsischen Industriebezirk, dann sind wir für diese Stadt, in der immerhin Bewegung ist und Kraft und pulsierendes rotes Blut. Für Berlin.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 29.03.1927, Nr. 13, S. 499.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 9. Texte 1927, S. 397 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 5, S. 188 ff.

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Ignaz Wrobel: Was darf die Satire?

Frau Vockerat: »Aber man muß doch seine Freude haben können an der Kunst.«
Johannes: „Man kann viel mehr haben an der Kunst als seine Freude.«

Gerhart Hauptmann

Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.
Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: »Nein!« Eine Satire, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist.
Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den.
Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.
Die Satire eines charaktervollen Künstlers, der um des Guten willen kämpft, verdient also nicht diese bürgerliche Nichtachtung und das empörte Fauchen, mit dem hierzulande diese Kunst abgetan wird.
Vor allem macht der Deutsche einen Fehler: er verwechselt das Dargestellte mit dem Darstellenden. Wenn ich die Folgen der Trunksucht aufzeigen will, also dieses Laster bekämpfe, so kann ich das nicht mit frommen Bibelsprüchen, sondern ich werde es am wirksamsten durch die packende Darstellung eines Mannes tun, der hoffnungslos betrunken ist. Ich hebe den Vorhang auf, der schonend über die Fäulnis gebreitet war, und sage: »Seht!« – In Deutschland nennt man dergleichen ›Kraßheit‹. Aber Trunksucht ist ein böses Ding, sie schädigt das Volk, und nur schonungslose Wahrheit kann da helfen. Und so ist das damals mit dem Weberelend gewesen, und mit der Prostitution ist es noch heute so.
Der Einfluß Krähwinkels hat die deutsche Satire in ihren so dürftigen Grenzen gehalten. Große Themen scheiden nahezu völlig aus. Der einzige ›Simplicissimus‹ hat damals, als er noch die große, rote Bulldogge rechtens im Wappen führte, an all die deutschen Heiligtümer zu rühren gewagt: an den prügelnden Unteroffizier, an den stockfleckigen Bürokraten, an den Rohrstockpauker und an das Straßenmädchen, an den fettherzigen Unternehmer und an den näselnden Offizier. Nun kann man gewiß über all diese Themen denken wie man mag, und es ist jedem unbenommen, einen Angriff für ungerechtfertigt und einen anderen für übertrieben zu halten, aber die Berechtigung eines ehrlichen Mannes, die Zeit zu peitschen, darf nicht mit dicken Worten zunichte gemacht werden.
Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.
Aber nun sitzt zutiefst im Deutschen die leidige Angewohnheit, nicht in Individuen, sondern in Ständen, in Korporationen zu denken und aufzutreten, und wehe, wenn du einer dieser zu nahe trittst. Warum sind unsere Witzblätter, unsere Lustspiele, unsere Komödien und unsere Filme so mager? Weil keiner wagt, dem dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend.
Nicht einmal dem Landesfeind gegenüber hat sich die deutsche Satire herausgetraut. Wir sollten gewiß nicht den scheußlichen unter den französischen Kriegskarikaturen nacheifern, aber welche Kraft lag in denen, welch elementare Wut, welcher Wurf und welche Wirkung! Freilich: sie scheuten vor gar nichts zurück. Daneben hingen unsere bescheidenen Rechentafeln über U-Boot-Zahlen, taten niemandem etwas zuleide und wurden von keinem Menschen gelesen.
Wir sollten nicht so kleinlich sein. Wir alle – Volksschullehrer und Kaufleute und Professoren und Redakteure und Musiker und Ärzte und Beamte und Frauen und Volksbeauftragte – wir alle haben Fehler und komische Seiten und kleine und große Schwächen. Und wir müssen nun nicht immer gleich aufbegehren (›Schlächtermeister, wahret eure heiligsten Güter!‹), wenn einer wirklich einmal einen guten Witz über uns reißt. Boshaft kann er sein, aber ehrlich soll er sein. Das ist kein rechter Mann und kein rechter Stand, der nicht einen ordentlichen Puff vertragen kann. Er mag sich mit denselben Mitteln dagegen wehren, er mag widerschlagen – aber er wende nicht verletzt, empört, gekränkt das Haupt. Es wehte bei uns im öffentlichen Leben ein reinerer Wind, wenn nicht alle übel nähmen.
So aber schwillt ständischer Dünkel zum Größenwahn an. Der deutsche Satiriker tanzt zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen Eiertanz. Das ist gewiß recht graziös, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint.
Was darf die Satire?
Alles.


Autorenangabe: Ignaz Wrobel
Ersterscheinung: Berliner Tageblatt, 27.01.1919, Nr. 36.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 3. Texte 1919, S. 82 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 2, S. 42 ff.

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