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Tucholsky: Zum Werk

Falsche Tucholsky-Zitate

Kurt Tucholsky gilt als einer der meistzitierten deutschen Autoren und viele seiner pointierten Aussagen werden auch heute noch gerne verwendet. Das bestätigt unsere – wenig überraschende – tiefe Überzeugung, dass Tucholsky weiterhin aktuell ist.
Allerdings kursieren auch sehr viele Zitate und Texte, die Tucholsky zugeschrieben werden, jedoch entweder erwiesener Maßen oder aber höchstwahrscheinlich nicht von ihm stammen. Danke der äußerst verdienstvollen Tucholsky-Gesamtausgabe ist heute endgültig möglich festzustellen, dass ein bestimmtes Zitat eben nicht von Tucholsky stammt.
Aufbauend auf der Arbeit von sudelblog.de soll hier eine Sammlung versucht werden von Zitaten, die Kurt Tucholsky lediglich zugeschrieben werden, aber nicht von ihm stammen.
Sollte jedoch wider Erwarten jemand einen Nachweis dafür erbringen können, dass es sich bei einem der hier aufgeführten Beispiele tatsächlich um ein Tucholsky-Zitat handelt (und Nachweis meint hier: Mit exakter bibliographischer Angabe der Originalpublikation bzw. dem entsprechenden Stellennachweis in der Gesamtausgabe), so erhält der oder diejenige ein Exemplar unserer Tucholsky-Anthologie »Die Zeit schreit nach Satire« und eine Jahresmitgliedschaft in der Kurt Tucholsky-Gesellschaft.

  • »Als deutscher Tourist im Ausland steht man vor der Frage, ob man sich anständig benehmen muss oder ob schon deutsche Touristen dagewesen sind.«
  • »Chanson ist Welttheater in drei Minuten.«
  • »Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.«
  • »Der Horizont des Berliners ist längst nicht so groß wie seine Stadt.«
  • »Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!« (findet sich zwar in einem Tucholsky-Text (»Französischer Witz«), aber als angebliches Zitat eines französischen Diplomaten)
  • »Der Vorteil der Klugheit liegt darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger.«
    (Oder auf Spanisch: La ventaja de ser inteligente es que así resulta más fácil pasar por tonto. Lo contrario es mucho más difícil.)
  • »Deutsche – kauft deutsche Bananen!« (Das Original lautet: »Deutsche, kauft deutsche Zitronen!« Erschienen in dem Text »Europa«, in: Die Weltbühne, 12. Januar 1932, S. 73
  • »›Die Juden sind an allem Schuld‹, meinte einer. ›Und die Radfahrer…‹ sagte ich. ›Wieso denn die Radfahrer?‹, antwortete er verdutzt. ›Wieso die Juden?‹, fragte ich zurück.«
  • »Freiheit stirbt mit Sicherheit.«
  • »Gesetze sind Jungfrauen im Parlament, aber Huren vor Gericht.«
  • »Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.« (von Max Liebermann)
  • »Lasst uns das Leben genießen, solange wir es nicht begreifen.«
  • »Reisen ist die Sehnsucht nach dem Leben.«
  • »Sie dachten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung.«
  • »Toleranz ist der Verdacht, der andere könnte Recht haben.« (vgl. hierzu Hans-Georg Gadamer: »Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte«)
  • »Unterschätze nie die Macht dummer Leute die einer Meinung sind.«
  • »Was unterscheidet Geschwister von wilden Indianerstämmen? Wilde Indianer sind entweder auf Kriegspfad oder rauchen Friedenspfeife – Geschwister jedoch können gleichzeitig beides.« (Die korrekte Version lautet: Die Familie weiß alles, mißbilligt es aber grundsätzlich. Andere wilde Indianerstämme leben entweder auf den Kriegsfüßen oder rauchen eine Friedenszigarre: die Familie kann gleichzeitig beides. Aus dem Text »Familie«, in: Die Weltbühne, 12.01.1923, Nr. 2, S. 53)
  • »Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten.«
    (Wird auch Emmy Goldman zugeschrieben: »If voting changed anything they would make it illegal.«)
  • »Wer nach allen Seiten offen ist, der kann nicht ganz dicht sein.«
  • »Zur Versachlichung der Impfdebatte« – Der Text stammt von Titanic-Autor Cornelius W. M. Oettle (Paul Krieghofer hat das in seinem Projekt Zitatforschung aufgeklärt).

Zum Abschluss noch ein paar Hinweise, wie Sie mit aufgefundenen Zitaten umgehen können:
Sollten Sie auf ein Zitat ohne exakte Quellenangabe stoßen (und exakt meint: Entweder aus einer der Werkausgaben oder mit Angabe der Originalpublikation (also beispielsweise eine Nummer der Weltbühne oder der Vossischen Zeitung o.ä.)), so prüfen Sie nach, ob sie die Phrase beim Projekt Gutenberg oder bei textlog.de finden. Diese beruhen beide wesentlich auf den bereits erfolgten Editionen. Sollten Sie auch dort nicht fündig werden: Lassen Sie die Finger davon. Die Wahrscheinlichkeit, auf ein pointiertes Zitat zu stoßen, das bisher noch nicht aufgefunden und publiziert wurde, ist gering – wenn auch durchaus vorhanden: Tucholsky war ein geradezu besessener Vielschreiber, es ist durchaus möglich, dass es dort Schätze zu heben gibt. Aber, mal unter uns: Wenn jemand einen solchen Schatz hebt: Würde der oder diejenige dann nicht die Quelle angeben? Wenn Sie jedoch ganz sicher gehen wollen, dann konsultieren Sie die Gesamtausgabe, gegebenenfalls in der nächstgelegenen Bibliothek, die sie im Bestand hat.
Eine gute Übersicht geprüfter Zitate findet sich bei Wikiquote.
Tucholsky veröffentlichte sehr viele kurze, pointierte Beiträge als sogenannte »Schnipsel«. Für den Einstieg kann daher eine gezielte Suche bei textlog.de schon einige sehr beeindruckende Ergebnisse bringen. Eine schöne Fundgrube für Tucholsky-Zitate, erschlossen durch einen guten Index, ist im Übrigen auch die von Wolfgang Hering und Hartmut Urban herausgegebene Sammlung »Schnipsel«, die auch zahlreiche Zitate aus längeren Texten enthält.

Steffen Ille

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Tucholsky: Zum Werk

Juden und Radfahrer – Ein angebliches Tucholsky-Zitat

Kurt Tucholsky gilt als einer der meistzitierten deutschen Autoren und viele seiner pointierten Aussagen werden auch heute noch gerne verwendet. Das bestätigt unsere – wenig überraschende – tiefe Überzeugung, dass Tucholsky weiterhin aktuell ist.
Allerdings kursieren auch sehr viele Zitate und Texte, die Tucholsky zugeschrieben werden, jedoch entweder erwiesener Maßen oder aber höchstwahrscheinlich nicht von ihm stammen. Da die höchst verdienstvolle Tucholsky-Gesamtausgabe liegt leider noch nicht digital vor, daher ist es in vielen Fällen nicht ohne weiteres endgültig möglich, den Nachweis zu erbringen, dass ein bestimmtes Zitat eben nicht von Tucholsky stammt.
Bei sudelblog.de gibt es bereits eine Sammlung Zitate, die eher nicht von Kurt Tucholsky stammen, nichtsdestotrotz jedoch unter seinem Namen kursieren. Dies ist zwar einerseits ein sehr schöner Beweis dafür, dass Tucholskys Name auch heute einen guten Klang hat und er offenkundig populär ist, es ist aber andererseits doch die Aufgabe der Kurt Tucholsky-Gesellschaft für die Verbreitung und den Erhalt seines Werkes einzutreten – und dazu gehört dann eben auch, darauf hinzuweisen, wenn sein Name mit Texten in Verbindung gebracht wird, die eben nicht Bestandteil seines Werkes sind.
Aus verständlichen Gründen wird derzeit in den sozialen Medien ein Tucholsky zugeschriebenes Zitat intensiv geteilt. Es lautet:

„Die Juden sind an allem Schuld, meinte einer. Und die Radfahrer… sagte ich. Wieso denn die Radfahrer?, antwortete er verdutzt. Wieso die Juden?, fragte ich zurück.“

Dieses Zitat findet sich auf sehr vielen Seiten und in vielen Beiträgen (z.B. auf der beliebten, jedoch nicht übermäßig zuverlässigen Seite »gutezitate.com«)
In exakt dieser Form lässt es sich nicht mit einem bestimmten Verfasser nachweisen. Jacques Schuster erwähnt es in der Rezension des Buches »An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld« (von Avi Primor und Christiane von Korff) als alten Witz – ohne exakten Verfasser und das könnte durchaus so sein.
In Erich Maria Remarques Roman »Der schwarze Obelisk«, der in der Zwischenkriegszeit spielt und 1956 erschien, findet sich zudem eine Passage, die ganz ähnlich klingt:

»Da sehen sie es«, sagt Heinrich bitter zu Riesenfeld. »Dadurch haben wir den Krieg verloren: Durch die Schlamperei der Intellektuellen und durch die Juden.«
»Und die Radfahrer.« ergänzt Riesenfeld.
»Wieso die Radfahrer?« fragt Heinrich erstaunt.
»Wieso die Juden?« fragt Riesenfeld zurück.


Es gibt viele Forschungsdesiderate und so ist es durchaus nicht auszuschließen, dass hier eine Referenz auf Tucholsky vorliegt, die bisher unbekannt ist. Sehr wahrscheinlich ist dies jedoch nicht. Wenn also nicht Remarque selbst der Urheber ist, so dürfte es wohl eher eines der zahlreichen »Verfasser unbekannt«-Bonmots sein.
Sollte jedoch wider Erwarten jemand einen Nachweis dafür erbringen können, dass es sich tatsächlich um ein Tucholsky-Zitat handelt (und Nachweis meint hier: Mit exakter bibliographischer Angabe der Originalpublikation), so erhält der oder diejenige ein Exemplar unserer Tucholsky-Anthologie »Die Zeit schreit nach Satire« und eine Jahresmitgliedschaft in der Kurt Tucholsky-Gesellschaft.
Zum Abschluss noch ein paar Hinweise, wie Sie mit aufgefundenen Zitaten umgehen können:
Sollten Sie auf ein Zitat ohne exakte Quellenangabe stoßen (und exakt meint: Entweder aus einer der Werkausgaben oder mit Angabe der Originalpublikation (also beispielsweise eine Nummer der Weltbühne oder der Vossischen Zeitung o.ä.)), so prüfen Sie nach, ob sie die Phrase beim Projekt Gutenberg oder bei textlog.de finden. Diese beruhen beide wesentlich auf den bereits erfolgten Editionen. Sollten Sie auch dort nicht fündig werden: Lassen Sie die Finger davon. Die Wahrscheinlichkeit, auf ein pointiertes Zitat zu stoßen, dass bisher noch nicht aufgefunden und publiziert wurde, ist gering – wenn auch durchaus vorhanden: Tucholsky war ein geradezu besessener Vielschreiber, es ist durchaus möglich, dass es dort Schätze zu heben gibt. Aber, mal unter uns: Wenn jemand einen solchen Schatz hebt: Würde der oder diejenige dann nicht die Quelle angeben? Wenn Sie jedoch ganz sicher gehen wollen, dann konsultieren Sie die Gesamtausgabe, gegebenenfalls in der nächstgelegenen Bibliothek, die sie im Bestand hat.

Steffen Ille

NACHTRAG (16.3.2016):
Ergänzend zu den oben genannten Punkten seien hier noch weitere Befunde von Friedhelm Greis angefügt:
Im Werk Tucholskys findet der »Dialog« nicht, aber der Vergleich Juden/Radfahrer in der Frage der Kriegsschuld etc. ist ein häufiger Topos in seinen Texten.

Beispielsweise in folgendem Gedicht:
Ludendorff oder Der Verfolgungswahn
Hast du Angst, Erich? Bist du bange, Erich?
Klopft dein Herz, Erich? Läufst du weg?
Wolln die Maurer, Erich – und die Jesuiten, Erich,
dich erdolchen, Erich – welch ein Schreck!
Diese Juden werden immer rüder.
Alles Unheil ist das Werk der … … Brüder.
Denn die Jesuiten, Erich – und die Maurer, Erich –
und die Radfahrer – die sind schuld
an der Marne, Erich – und am Dolchstoß, Erich –
ohne die gäbs keinen Welttumult.
(…)
Theobald Tiger, WB 6.11.1928
oder in:
‹Kulissen›
Es ist ein Jammer, daß es keinen rechtschaffenen Teufel mehr gibt. Jetzt behilft man sich da mit den Welschen, mit den Juden, mit den Radfahrern, mit dem Vertrag von Versailles … aber das Richtige ist das alles nicht. Immerhin muß einer da sein, der schuld ist. Gehts gut, dann haben wir es herrlich weit gebracht – gehts aber schief, dann wirft der Fachmann wilde Blicke um sich und sucht den Teufel. (…)
Peter Panter, WB 14.6.1932
und auch in:
Sigilla Veri
Nun aber ist, um diesen Wissenslücken abzuhelfen, gegen die Radfahrer [=Juden F.G.] endlich das große und schöne Werk erschienen, dessen wir so lange entraten haben:
Ignaz Wrobel, WB 29.9.1931
„Radfahrer“ ist bei Tucholsky zudem eine Art Synonym für den typischen deutschen Untertan: „Allerdings: nicht zu diesem Deutschen da. Nicht zu dem Burschen, der untertänig und respektvoll nach oben himmelt und niederträchtig und geschwollen nach unten tritt, der Radfahrer des lieben Gottes, eine entartete species der gens humana.“
aus der „Der Untertan“, Ignaz Wrobel, WB 20.3.1919
Allerdings war dieser Vergleich in der Weimarer Republik auch bei anderen Weltbühne-Autoren üblich:
So findet man bei Hanns-Erich Kaminski:
„Alle Frankfurter sind also goldige Krätscher. Im übrigen zerfallen sie in Juden und Radfahrer.“
bei Willy Küsters:
„Dass die Franzosen am deutschen Geburtenrückgang schuld sind, ist selbstverständlich — woran sind sie nicht schuld, sie, die Juden und die Radfahrer!“
in einer Ludendorff-Satire:
„Unterstellen wir einfach als gegeben: die Juden oder die Radfahrer haben Deutschland erst auf das Kriegsvehikel gesetzt und dann Glasscherben auf die Strasse gestreut, damit seinem Pneumatik die Luft ausgehe und Champion Ludendorff als letzter Sieger ans Ziel komme. Gut also: die Juden sind daran schuld, oder die Radfahrer. „

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Originaltexte Tucholsky: Zum Werk

Kurt Tucholsky: An Walter Hasenclever

Zürich, Florhofgasse

4.3.33

Lieber Max, schönen Dank für Ihre beiden Schreiben vom 28.2. und vom 2.3. Entschuldigen Sie meinen letzthinnigen diktierten, ich war ganz herunter und hatte solche Ohrenschmerzen, daher war er so unpersönlich. Item:
Krankheit geht so, Dank der Nachfrage. Ich mache noch eine Inhalationskur, die besonders billig ist, man muß sehr viel Geduld haben. Nochmals, gehe ich so, schwach und schwer gehandicapt, unter Leute, dann mache ich mir alles kaputt. Lieber abwarten, anderswo wachsen jetzt auch keine goldenen Blümlein. Ich hoffe aber doch sehr, daß wir uns denn doch einmal in Mitteleuropa in die Arme sinken werden. Ich habe nicht genau lesen können, wohin Sie nach Paris gehn. Südfrankreich? Mentone?/Natürlich ist die Schweiz kein erfreuliches Land. Die Ostschweizer sind wie die Boches, sehr hochmütig, ekelhaft saturiert, grauslich./
Jetzt muß ich aber vor Rührung einen Absatz machen.
Lieber Max, daß Sie mir da Ihre Hilfe in dieser schweren Zeit anbieten, hat mich auf das tiefste gepackt. Es wird nicht erforderlich sein, daß ich sie annehme – aber daß Sie es überhaupt tun, das werde ich Ihnen nicht vergessen. Händedruck, alter Bursche.
Das Haus in Schweden habe ich noch, ich will auch, wenn auch nur leise hergestellt, zurück und da arbeiten. ›Weltbühne‹ … da ist die Frau J. in Wien, berät, ob Wien oder Zürich. Hierzu wie zur ganzen Lage:
Ich glaube nach wie vor nicht an extrem blutige Sachen in Deutschland. Es kann aufflackernde kommunistische Putsche geben, die werden blutig unterdrückt, 80 Tote, und 80 nutzlose Tote. Dann aber Totenstille. Dann setzt etwas viel, viel Schlimmeres ein: nach dem Spiel »Das dürfen die Leute ja gar nicht!« kommt das Spiel: »Ich weiß gar nicht, was Sie wollen – so schlimm ist es nun auch wieder nicht!« Das möchte ich nicht mitspielen, und ich werde es nicht mitspielen.
An einer etwa einsetzenden deutschen Emigrationsliteratur sollte man sich unter keinen Umständen beteiligen. Lieber Max, erstens wird es keine große Emigration geben, weil, anders wie damals bei der russischen, 1917, Europa nicht aufnahmefähig für solche Leute ist. Sie verhungern. Zweitens zerfallen sie, wie jede Emigration, und nun noch deutsche, in 676 kleine Grüppchen, die sich untereinander viel mehr bekämpfen werden als etwa alle zusammen Adofn (dem wir das L nun endgültig wegnehmen wollen, wir brauchen es ja für Eckner, Hei Adof!). Drittens sollte man es nicht tun, weil es den Charakter verdirbt, man bekommt Falten um die Mundwinkel und wird, bei allem Respekt, eine leicht komische Figur. Lieber Freund, ich kann das nicht vergessen, wie damals im Salon der Frau Ménard-Dorian das ganze durchgefallene Europa da war: der unsägliche Kerenski, Nitti, Karolyi, die Italiener – und alle hatten recht, nur leider eben bloß im Salon. Und da fragte jemand den Nitti: »Qu’est-ce que vous faites à Paris, Monsieur Nitti?« – Und da sagte der, und der Satz ist mir als Lehre eingebrannt: »J’attends«“ Und wenn er nicht gestorben ist, dann wartet er heute noch. Und das wollen wir nicht mitmachen.
Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, lieber Max, daß ich nicht inzwischen die »aufbauwilligen Kräfte im Nationalsozialismus« entdeckt habe. Ich werde nie einen Finger breit abgehn. Aber ich muß nicht meine Kraft und meine Arbeit an eine Sache setzen, die mir nicht einmal in der Negation wert ist, mich nach ihr herumzudrehn. Ich habe dazu kaum noch Beziehungen; es ist möglich, daß ich nichts mehr zu fressen habe, aber daß ich mich mit den Konvulsionen von Kru-Negern abgeben soll, also ich nicht. Die Leute wollen das ja so, im Grunde. Die letzte Tat des Reichsbanners ist ein Werbemarsch für den Wehrsport gewesen, die SPD versichert heute noch, sie sei doch aber patriotisch und ruhrkämpferisch, fast alle erkennen die von Adof gesetzten Kategorien an und streiten sich nur um ihre Einordnung, niemand hat den Mut zu sagen: Der Wert eines Menschen hängt nicht von seinem Soldbuch ab. Und damit soll ich mich befassen? Nein, lieber Herr. Mich geht das nichts an, nur eben als Zeichen der Zeit, in der wir ja leben. Aber sonst – ohne mich.
Vorgestern haben wir hier einen Radio installiert und Adof gehört. Lieber Max, das war sehr merkwürdig. Also erst Göring, ein böses, altes blutrünstiges Weib, das kreischte und die Leute richtig zum Mord aufstachelte. Sehr erschreckend und ekelhaft. Dann Göbbeles mit den loichtenden Augen, der zum Vollik sprach, dann Heil und Gebrüll, Kommandos und Musik, riesige Pause, der Führer hat das Wort. Immerhin, da sollte nun also der sprechen, welcher … ich ging ein paar Meter vom Apparat weg und ich gestehe, ich hörte mit dem ganzen Körper hin. Und dann geschah etwas sehr Merkwürdiges.
Dann war nämlich gar nichts. Die Stimme ist nicht gar so unsympathisch wie man denken sollte – sie riecht nur etwas nach Hosenboden, nach Mann, unappetitlich, aber sonst gehts. Manchmal überbrüllt er sich, dann kotzt er. Aber sonst: nichts, nichts, nichts. Keine Spannung, keine Höhepunkte, er packt mich nicht, ich bin doch schließlich viel zu sehr Artist, um nicht noch selbst in solchem Burschen das Künstlerische zu bewundern, wenn es da wäre. Nichts. Kein Humor, keine Wärme, kein Feuer, nichts. Er sagt auch nichts als die dümmsten Banalitäten, Konklusionen, die gar keine sind – nichts.
Ceterum censeo: ich habe damit nichts zu tun.
Marginalie: Ossietzky unbegreiflich. Man hat mir erzählt, daß man ihm seinen Paß nach Tegel gar nicht wiedergegeben habe. Ob das wahr ist, weiß ich nicht – er schreibt ja keine Briefe. Dieser ausgezeichnete Stilist, dieser in der Zivilcourage unübertroffene Mann, hat eine merkwürdig lethargische Art, die ich nicht verstanden habe, und die ihn wohl auch vielen Leuten, die ihn bewundern, entfremdet. Es ist sehr schade um ihn. Denn dieses Opfer ist völlig sinnlos. Mir hat das mein Instinkt immer gesagt: Märtyrer ohne Wirkung, das ist etwas Sinnloses. Ich glaube keinesfalls, daß sie ihm etwas tun, er ist in der Haft eher sicherer als draußen. Nur bei einem wenn auch mißglückten Attentat auf Adof kann etwas passieren, dann würde die SA die Gefängnisse stürmen und von den Wärtern an nichts gehindert werden. Sonst aber kommt er nach zwei, drei Wochen, denke ich, heraus. (Wenn nicht Konzentrationslager gemacht werden!)
Kurz: ich lebe in keinerlei Panik. Und mein Pessimismus setzt genau da ein, wo der der andern aufhört, etwas zu dem Zeitpunkt, wo das Zentrum mitmacht. „Es wird ihnen die Kanten abschleifen!“ sagen die falschen Propheten. An Schmarrn. Dann, erst dann, ist diese neue Herrschaft ganz totensicher fundiert, dann ist gar nichts mehr zu machen. Und wer wird und soll etwas machen? Man kann für eine Majorität kämpfen, die von einer tyrannischen Minorität unterdrückt wird. Man kann aber nicht einem Volk das Gegenteil von dem predigen, was es in seiner Mehrheit will (auch die Juden). Viele sind nur gegen die Methoden Hitlers, nicht gegen den Kern seiner „Lehre“. Und wenn es die Opposition nicht von innen her geschafft hat, so werden wir es nie schaffen, wenn in Paris ein paar Käsblätter erscheinen. Ich werde das nicht mitmachen.
Ceterum censeo: Ihr Hindenburggeburtstags-Artikel sollte von den Kanzeln verlesen werden.
Lieber Max, hoffentlich lassen sie Rutchen heraus, er ist so schön und dick, und wir wollen ihn noch ins Krematorium tragen, wenn er tot ist, und dann trinken wir mit der Leiche einen Apéritif.
Hallo, lieber Max, das ist ein langer Brief geworden. Nie wieder Korreschpondanx. Kommt noch solche nach Hindås? Ich habe inzwischen nichts bekommen. Mögen Sie –!
[…] lesen Sie auf alle Fälle ›Voyage au Bout de la Nuit‹. Es lohnt sich.
In Treue fest
Ihr alter Mitkolumbus
Edgar, formalz Adof.
Verfasser broschierter und gebundener Werke.
Ehemal. Mitglied der deutschen Republik
aufgehörter Dichter
Böse Enttäuschungen werden wir nun an unsern berliner Freunden erleben. Es wird sehr übel werden.


Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 20. Briefe 1933-1934
ders.: Politische Briefe. Hrsg. von Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1969, S. 11 ff.

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Wir sind fünf Finger an einer Hand.
Der auf dem Titelblatt
und:
Ignaz Wrobel. Peter Panter. Theobald Tiger. Kaspar Hauser.
Aus dem Dunkel sind diese Pseudonyme aufgetaucht, als Spiel gedacht, als Spiel erfunden – das war damals, als meine ersten Arbeiten in der ›Weltbühne‹ standen. Eine kleine Wochenschrift mag nicht viermal denselben Mann in einer Nummer haben, und so erstanden, zum Spaß, diese homunculi. Sie sahen sich gedruckt, noch purzelten sie alle durcheinander; schon setzten sie sich zurecht, wurden sicherer; sehr sicher, kühn – da führten sie ihr eigenes Dasein. Pseudonyme sind wie kleine Menschen; es ist gefährlich, Namen zu erfinden, sich für jemand anders auszugeben, Namen anzulegen – ein Name lebt. Und was als Spielerei begonnen, endete als heitere Schizophrenie.
Ich mag uns gern. Es war schön, sich hinter den Namen zu verkriechen und dann von Siegfried Jacobsohn solche Briefe gezeigt zu bekommen:
»Sehr geehrter Herr! Ich muß Ihnen mitteilen, daß ich Ihr geschätztes Blatt nur wegen der Arbeiten Ignaz Wrobels lese. Das ist ein Mann nach meinem Herzen. Dagegen haben Sie da in Ihrem Redaktionsstab einen offenbar alten Herrn, Peter Panter, der wohl das Gnadenbrot von Ihnen bekommt. Den würde ich an Ihrer Stelle … «
Und es war auch nützlich, fünfmal vorhanden zu sein – denn wer glaubt in Deutschland einem politischen Schriftsteller Humor? dem Satiriker Ernst? dem Verspielten Kenntnis des Strafgesetzbuches, dem Städteschilderer lustige Verse? Humor diskreditiert.
Wir wollten uns nicht diskreditieren lassen und taten jeder seins. Ich sah mit ihren Augen, und ich sah sie alle fünf: Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare; Panter, einen beweglichen, kugelrunden, kleinen Mann; Tiger sang nur Verse, waren keine da, schlief er – und nach dem Kriege schlug noch Kaspar Hauser die Augen auf, sah in die Welt und verstand sie nicht. Eine Fehde zwischen ihnen wäre durchaus möglich. Sie dauert schon siebenunddreißig Jahre.
Woher die Namen stammen -?
Die alliterierenden Geschwister sind Kinder eines juristischen Repetitors aus Berlin. Der amtierte stets vor gesteckt vollen Tischen, und wenn der pinselblonde Mann mit den kurzsichtig blinzelnden Augen und dem schweren Birnenbauch dozierte, dann erfand er für die Kasperlebühne seiner ›Fälle‹ Namen der Paradigmata.
Die Personen, an denen er das Bürgerliche Gesetzbuch und die Pfändungsbeschlüsse und die Strafprozeßordnung demonstrierte, hießen nicht A und B, nicht: Erbe und nicht Erblasser. Sie hießen Benno Büffel und Theobald Tiger; Peter Panter und Isidor Iltis und Leopold Löwe und so durchs ganze Alphabet. Seine Alliterationstiere mordeten und stahlen; sie leisteten Bürgschaft und wurden gepfändet; begingen öffentliche Ruhestörung in Idealkonkurrenz mit Abtreibung und benahmen sich überhaupt recht ungebührlich. Zwei dieser Vorbestraften nahm ich mit nach Hause – und, statt Amtsrichter zu werden, zog ich sie auf.
Wrobel – so hieß unser Rechenbuch; und weil mir der Name Ignaz besonders häßlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheulich, beging ich diesen kleinen Akt der Selbstzerstörung und taufte so einen Bezirk meines Wesens.
Kaspar Hauser braucht nicht vorgestellt zu werden.
Das sind sie alle fünf.
Und diese fünf haben nun im Lauf der Jahre in der ›Weltbühne‹ gewohnt und anderswo auch. Es mögen etwa tausend Arbeiten gewesen sein, die ich durchgesehen habe, um diese daraus auszuwählen – und alles ist noch einmal vorbeigezogen … Vor allem der Vater dieser Arbeit: Siegfried Jacobsohn.
Fruchtbar kann nur sein, wer befruchtet wird. Liebe trägt Früchte, Frauen befruchten, Reisen, Bücher … in diesem Fall tat es ein kleiner Mann, den ich im Januar 1913 in seinem runden Bücherkäfig aufgesucht habe und der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat, bis zu seinem Tode nicht. Vor mir liegen die Mappen seiner Briefe: diese Postkarten, eng bekritzelt vom obern bis zum untern Rand, mit einer winzigen, fetten Schrift, die aussah wie ein persisches Teppichmuster. Ich höre das »Ja -?«, mit dem er sich am Telefon zu melden pflegte; mir ist, als klänge die Muschel noch an meinem Ohr … Was war es -?
Es war der fast einzig dastehende Fall, daß dem Gebenden ein Nehmender gegenüberstand, nicht nur ein Druckender. Wir senden unsere Wellen aus – was ankommt, wissen wir nicht, nur selten. Hier kam alles an. Der feinste Aufnahmeapparat, den dieser Mann darstellte, feuerte zu höchster Leistung an – vormachen konnte man ihm nichts. Er merkte alles. Tadelte unerbittlich, aber man lernte etwas dabei. Ganze Sprachlehren wiegt mir das auf, was er ›ins deutsche Übersetzen‹ nannte. Einmal fand er eine Stelle, die er nicht verstand. »Was heißt das? Das ist wolkig!« sagte er. Ich begehrte auf und wußte es viel besser. »Ich wollte sagen … « erwiderte ich – und nun setzte ich ihm genau auseinander, wie es gemeint war. »Das wollte ich sagen«, schloß ich. Und er: »Dann sags.« Daran habe ich mich seitdem gehalten. Die fast automatisch arbeitende Kontrolluhr seines Stilgefühls ließ nichts durchgehen – kein zu starkes Interpunktionszeichen, keine wilde Stilistik, keinen Gedankenstrich nach einem Punkt (Todsünde!) – er war immer wach.
Und so waren unsere Beiträge eigentlich alle nur Briefe an ihn, für ihn geschrieben, im Hinblick auf ihn: auf sein Lachen, auf seine Billigung – ihm zur Freude. Er war der Empfänger, für den wir funkten.
Ein Lehrer, kein Vorgesetzter; ein Freund, kein Verlagsangestellter; ein freier Mann, kein Publikumshase. »Sie haben nur ein Recht«, pflegte er zu sagen, »mein Blatt nicht zu lesen.« Und so stand er zu uns, so hat er uns geholfen, zu uns selbst verholfen, und wir haben ihn alle lieb gehabt.
Wir beide nannten uns, nach einem revolutionären Stadtkommandanten Berlins, gegenseitig: Kalwunde.
»Kalwunde!« sagtest du, wenn du dreiunddreißig Artikel in der Schublade hattest, »Kalwunde, warum arbeitest du gar nicht mehr -?« Und dann fing ich wieder von vorne an. Und wenn das dicke Kuvert mit einem satten Plumps in den Briefkasten fiel, dann hatte der Tag einen Sinn gehabt, und ich stellte mir, in Berlin und in Paris, gleichmäßig stark vor, was du wohl für ein Gesicht machen würdest, wenn die Sendung da wäre. Siehst du, nun habe ich das alles gesammelt … Und du kannst es nicht mehr lesen … »Mensch!« hättest du gesagt, »ick wer doch det nich lesen! Ich habe es ja alles ins Deutsche übersetzt –!«
Das hast du.
Und so will ich mich denn mit einem Gruß an dich auf den Weg machen.
Starter, die Fahne –! Ab mit 5 PS.


Autorenangabe: Kurt Tucholsky
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 27.12.1927, Nr. 52, S. 964
Wieder in: Mit 5 PS.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 9. Texte 1927, S. 953 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 5, S. 434 ff.

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Kurt Tucholsky: Wir Negativen

Wie ist er hier so sanft und zärtlich! Wohlseyn will er, und ruhigen Genuß und sanfte Freuden, für sich, für andere. Es ist das Thema des Anakreon. So lockt und schmeichelt er sich selbst ins Leben hinein. Ist er aber darin, dann zieht die Qual das Verbrechen und das Verbrechen die Qual herbei: Greuel und Verwüstung füllen den Schauplatz. Es ist das Thema des Aischylos.

Schopenhauer

Es wird uns Mitarbeitern der ›Weltbühne‹ der Vorwurf gemacht, wir sagten zu allem Nein und seien nicht positiv genug. Wir lehnten ab und kritisierten nur und beschmutzten gar das eigene deutsche Nest. Und bekämpften – und das sei das Schlimmste – Haß mit Haß, Gewalt mit Gewalt, Faust mit Faust.
Es sind eigentlich immer dieselben Leute, die in diesem Blatt zu Worte kommen, und es mag einmal gesagt werden, wie sehr wir alle innerlich zusammenstimmen, obwohl wir uns kaum kennen. Es existieren Nummern dieser Zeitschrift, die in einer langen Redaktionssitzung entstanden zu sein scheinen, und doch hat der Herausgeber mutterseelenallein gewaltet. Es scheint mir also der Vorwurf, wir seien negativ, geistig unabhängige und von einander nicht beeinflußte Männer zu treffen. Aber sind wirs? Sind wirs denn wirklich?
Ich will einmal die Schubladen unsres deutschen Schrankes aufmachen und sehen, was darinnen liegt.
Die Revolution. Wenn Revolution nur Zusammenbruch bedeutet, dann war es eine; aber man darf nicht erwarten, daß die Trümmer anders aussehen als das alte Gebäude. Wir haben Mißerfolg gehabt und Hunger, und die Verantwortlichen sind davongelaufen. Und da stand das Volk: die alten Fahnen hatten sie ihm heruntergerissen, aber es hatte keine neue.
Der Bürger. Das ist – wie oft wurde das mißverstanden! – eine geistige Klassifizierung, man ist Bürger durch Anlage, nicht durch Geburt und am allerwenigsten durch Beruf. Dieses deutsche Bürgertum ist ganz und gar antidemokratisch, dergleichen gibt es wohl kaum in einem andern Lande, und das ist der Kernpunkt alles Elends. Es ist ja nicht wahr, daß sie in der Zeit vor dem Kriege unterdrückt worden sind, es war ihnen tiefstes Bedürfnis, emporzublicken, mit treuen Hundeaugen, sich zurechtstoßen zu lassen und die starke Hand des göttlichen Vormunds zu fühlen! Heute ist er nicht mehr da, und fröstelnd vermissen sie etwas. Die Zensur ist in Fortfall gekommen, brav beten sie die alten Sprüchlein weiter, ängstlich plappernd, als ob nichts geschehen sei. Sie kennen zwischen patriarchalischer Herrschaft und einem ins Räuberhafte entarteten Bolschewismus keine Mitte, denn sie sind unfrei. Sie nehmen alles hin, wenn man sie nur verdienen läßt. Und dazu sollen wir Ja sagen?
Der Offizier. Wir haben hier nachgewiesen, warum und inwiefern der deutsche Offizier im Kriege versagt hat, und was er an seinen Leuten gesündigt. Es geht ja nicht um den Stand – Angriffe gegen eine Kollektivität sind immer ungerecht –: es geht um den schlechten Geist, der den Stand beseelte und der sich tief in das Bürgertum hineingefressen hatte. Der Leutnant und seine – sagen wir immerhin: Geistigkeit war ein deutsches Ideal, und der Reserve-Offizier brauchte keine lange Zeit, in die Uniform hineinzuwachsen. Es war die infernalische Lust, den Nebenmenschen ungestraft zu treten, es war die deutsche Lust, im Dienst mehr zu scheinen, als man im Privatleben ist, das Vergnügen, sich vor seiner Frau, vor seiner Geliebten aufzuspielen, und unten krümmte sich ein Mensch. Eine gewisse Pflichterfüllung des Offiziers (und sein Geist saß auch in vielen untern Chargen) soll nicht geleugnet werden, aber sie geschah oft nur auf der Basis der Übersättigung und der übelsten Raffgier. Die jungen Herren, denen ich im Kriege hinter die Karten gucken konnte, machten keinen hervorragenden Eindruck. Aber es geht ja nicht um die einzelnen, und wie soll je eine Besserung kommen, wenn wir es jetzt nicht sagen! Jetzt, denn später hat es keinen Sinn mehr; jetzt, denn später, wenn das neue Heer aufgebaut ist, wäre es überflüssig, noch einmal die Sünden des alten Regimes aufzublättern. Und es muß den Deutschen eingehämmert werden, daß das niemals wiederkommen darf, und es muß allen gesagt werden, denn es waren ja nicht die Sünden gewisser reaktionärer Kreise, sondern alle, alle taten mit! Das Soldatenelend – und mit ihm das Elend aller ›Untergebenen‹ in Deutschland – war keine Angelegenheit der politischen Überzeugung: es war eine der mangelnden Kultur. Die übelsten Instinkte wurden in entfesselten Bürgern wachgerufen, gab ihnen der Staat die Machtfülle eines ›Vorgesetzten‹ in die Hand. Sie hat ihnen nicht gebührt. Und dazu sollen wir Ja sagen?
Der Beamte. Was haltet ihr von einer Verwaltung, bei der der Angestellte wichtiger ist als die Maßnahmen, und die Maßnahme wichtiger als die Sache? Wie knarrte der Apparat und machte sich imponierend breit! Was war das für ein Gespreize mit den Ämtern und den Ämtchen! Welche Wonne, wenn einer verfügen konnte! Von allen andern Dienststellen – und es gab ja so viele – wurde er unterdrückt: jetzt durfte er auch einmal! Und die Sache selbst ersoff in Verordnungen und Erlassen, die kleinen Kabalen und Reibereien in den Ämtern füllten Menschenleben aus, und der Steuerzahler war wehrlos gegen sein eigenes Werk. Und dazu sollen wir Ja sagen?
Der Politiker. Politik kann man in diesem Lande definieren als die Durchsetzung wirtschaftlicher Zwecke mit Hilfe der Gesetzgebung. Die Politik war bei uns eine Sache des Sitzfleisches, nicht des Geistes. Sie wurde in Bezirksvereinen abgehaspelt und durchgehechelt, und gegen den Arbeiter standen alle andern zusammen. Vergessen war der Geist, auf dessen Grundlage man zu Vorschlägen und Gesetzen kam, vergessen die Gesinnung, die, Antrieb und Motiv in einem, erst verständlich und erklärbar machte, was man wollte. Der Diplomat alter Schule hatte abgewirtschaftet, „er besitzt keinen modernen Geist“, sagten die Leute; nun sollte der Kaufmann an seine Stelle treten. Aber der besitzt ihn auch nicht. Eine wilde Überschätzung des Wirtschaftlichen hob an. Feudale und Händler raufen sich um den Einfluß im Staat, der in Wirklichkeit ihnen beiden unter der Führung der Geistigen zukommen sollte. Und dazu sollen wir Ja sagen?
Daß der Bürger zetert, dem anständige Politik nichts ist als Geschäftsstörung, nimmt uns nicht wunder. Daß Geistige gegen uns eifern, schon mehr. Wozu führen denn letzten Endes die Erkenntnisse des Geistes, wenn man nicht ein Mal von den Höhen der Weisheit herunterklettert, ihre Ergebnisse auf das tägliche Leben anwendet und das zu formen versucht nach ihrem Ebenbilde? Nichts ist bei uns peinlicher und verhaßter als konkret gewordene Geistigkeit. Alles darfst du: die gefährlichsten Forderungen aufstellen, in abstracto, Bücherrevolutionen machen, den lieben Gott absetzen – aber die Steuergesetzgebung, die machen sie doch lieber allein. Sie haben eine unendlich feine Witterung und den zuverlässigsten Instinkt gegen alles, was ihre trübe Geschäftigkeit stören kann, ihr Mißtrauen ist unsäglich, ihre Abneigung unüberwindbar. Sie riechen förmlich, ob sich deine Liebe und dein Haß mit ihrem Kolonialwarenladen verträgt, und tun sies nicht: dann gnade dir Gott!
Hier steht Wille gegen Willen. Kein Resultat, kein Ziel auf dieser Erde wird nach dem logisch geführten Beweis ex argumentis gewonnen. Überall steht das Ziel, gefühlsmäßig geliebt, vorher fest, die Argumente folgen, als Entschuldigung für den Geist, als Gesellschaftsspiel für den Intellekt. Noch niemals hat einer den andern mit Gründen überzeugt. Hier steht Wille gegen Willen: wir sind uns über die Ziele mit allen anständig Gesinnten einig – ich glaube, was an uns bekämpft wird, ist nicht der Kampf: es ist die Taktik.
Aber wie sollen wir gegen kurzstirnige Tölpel und eisenharte Bauernknechte anders aufkommen als mit Knüppeln? Das ist seit Jahrhunderten das große Elend und der Jammer dieses Landes gewesen: daß man vermeint hat, der eindeutigen Kraft mit der bohrenden Geistigkeit beikommen zu können. Wenn wir andern – die wir hinter die Dinge gesehen haben, die wir glauben, daß die Welt, so wie sie ist, nicht das letzte Ziel für Menschen sein kann – keinen Exekutor unsrer geistigen Gesinnung haben, so sind wir verdammt, ewig und auch fürderhin unter Fleischergesellen zu leben, und uns bleiben die Bücher und die Tinte und das Papier, worauf wir uns ergehen dürfen. Das ist so unendlich unfruchtbar, zu glauben, man könne die negative Tätigkeit des Niederreißens entbehren, wenn man aufbauen will. Seien wir konkret. Eine Naumannsche Rede in Weimar verpflichtet zu gar nichts: der Beschluß irgendeines Gemeindekollegiums zeigt uns den Bürger in seiner Nacktheit.
Der unbedingten Solidarität aller Geldverdiener muß die ebenso unbedingte Solidarität der Geistigen gegenüberstehen. Es geht nicht an, daß man feixenden Bürgern das Schauspiel eines Kampfes liefert, aus dem sie nur und ausschließlich heraushören: dürfen wir weiter schachern, oder dürfen wir es nicht? Dürfen wir weiter in Cliquen und Klüngeln schieben, oder dürfen wir es nicht? Nur das wird gehört, und keine metaphysische Wahrheit und kein kritizistischer Irrtum.
Ist schon alles vergessen? Gleiten wir schon wieder in den behaglichen Trott hinüber, in dem Ruhe die erste und letzte Pflicht ist? Schon regt sich allerorten der fade Spruch: „Es wird nicht so schlimm gewesen sein.“ – „Ihr Herr Gemahl ist an Lungenentzündung gestorben?“ sagte jener Mann, „na, es wird nicht so schlimm gewesen sein!“
Es ist so schlimm gewesen. Und man mache ja nicht wieder den Versuch, zu behaupten, die ›Pionierarbeit des deutschen Kaufmanns‹ werde uns ›schon herausreißen‹! Wir sind in der ganzen Welt blamiert, weil wir unsre besten Kräfte tief im Land versteckt und unsre minderwertigen hinausgeschickt haben. Aber schon regen sich die Stimmen, die dem Deutschen einzureden versuchen, es werde, wenn er nur billige Ware liefere, sich alles einrenken lassen. Das wollen wir nicht! Wir wollen nicht mehr benutzt sein, weil unsre jungen Leute im Ausland alle andern unterboten haben, und weil man bei uns schuftete, aber nicht arbeitete. Wir wollen geachtet werden um unsrer selbst willen.
Und damit wir in der Welt geachtet werden, müssen wir zunächst zu Haus gründlich rein machen. Beschmutzen wir unser eigenes Nest? Aber einen Augiasstall kann man nicht beschmutzen, und es ist widersinnig, sich auf das zerfallene Dach einer alten Scheune zu stellen und da oben die Nationalhymne ertönen zu lassen.
Wir sollen positive Vorschläge machen. Aber alle positiven Vorschläge nützen nichts, wenn nicht die rechte Redlichkeit das Land durchzieht. Die Reformen, die wir meinen, sind nicht mit Vorschriften zu erfüllen, und auch nicht mit neuen Reichsämtern, von denen sich heute jeder für sein Fach das Heil erhofft. Wir glauben nicht, daß es genügt, eine große Kartothek und ein vielköpfiges Personal aufzubauen und damit sein Gebiet zu bearbeiten. Wir glauben, daß das Wesentliche auf der Welt hinter den Dingen sitzt, und daß eine anständige Gesinnung mit jeder, auch mit der schlechtesten, Vorschrift fertig wird und sie gut handhabt. Ohne sie aber ist nichts getan.
Was wir brauchen, ist diese anständige Gesinnung.
Wir können noch nicht Ja sagen. Wir können nicht einen Sinn stärken, der über den Menschen die Menschlichkeit vergißt. Wir können nicht ein Volk darin bestärken, seine Pflicht nur dann zu tun, wenn jedem Arbeitenden ein Popanz von Ehre aufgebaut wird, der sachlicher Arbeit nur im Wege ist. Wir können nicht zu einem Volk Ja sagen, das, noch heute, in einer Verfassung ist, die, wäre der Krieg zufälligerweise glücklich ausgegangen, das Schlimmste hätte befürchten lassen. Wir können nicht zu einem Land Ja sagen, das von Kollektivitäten besessen ist, und dem die Korporation weit über dem Individuum steht. Kollektivitäten sind nur ein Hilfsmittel für die einzelnen. Wir können nicht Ja zu denen sagen, deren Früchte die junge Generation darstellt: ein laues und flaues Geschlecht, angesteckt von dem kindischen Machthunger nach innen und der Gleichgültigkeit nach außen, den Bars mehr zugetan als der Bravour, von unsäglicher Verachtung für allen Sturm und Drang, den man zur Zeit nicht mehr trägt, ohne Flamme und ohne Schwung, ohne Haß und ohne Liebe. Wir sollen laufen, aber unsre Schenkel sind mit Schnüren gefesselt. Wir können noch nicht Ja sagen.
Leute, bar jedes Verständnisses für den Willen, der über die Tagesinteressen hinausheben will – man nennt das hierzulande: Realpolitiker – bekämpfen uns, weil wir im Kompromiß kein Heil sehen, weil wir in neuen Abzeichen und neuen Aktenstücken kein Heil sehen. Wir wissen wohl, daß man Ideale nicht verwirklichen kann, aber wir wissen auch, daß nichts auf der Welt ohne die Flamme des Ideals geschehen ist, geändert ist, gewirkt wurde. Und – das eben scheint unsern Gegnern eine Gefahr und ist auch eine – wir glauben nicht, daß die Flamme des Ideals nur dekorativ am Sternenhimmel zu leuchten hat, sondern sie muß hienieden brennen: brennen in den Kellerwinkeln, wo die Asseln hausen, und brennen auf den Palastdächern der Reichen, brennen in den Kirchen, wo man die alten Wunder rationalistisch verrät, und brennen bei den Wechslern, die aus ihrer Bude einen Tempel gemacht haben.
Wir können noch nicht Ja sagen. Wir wissen nur das eine: es soll mit eisernem Besen jetzt, grade jetzt und heute ausgekehrt werden, was in Deutschland faul und vom Übel war und ist. Wir kommen nicht damit weiter, daß wir den Kopf in ein schwarz-weiß-rotes Tuch stecken und ängstlich flüstern: Später, mein Bester, später! nur jetzt kein Aufsehen!
Jetzt.
Es ist lächerlich, einer jungen Bewegung von vier Monaten vorzuwerfen, sie habe nicht dasselbe Positive geleistet wie eine Tradition von dreihundert Jahren. Das wissen wir.
Wir stehen vor einem Deutschland voll unerhörter Korruption, voll Schiebern und Schleichern, voll dreimalhunderttausend Teufeln, von denen jeder das Recht in Anspruch nimmt, für seine schwarze Person von der Revolution unangetastet zu bleiben. Wir meinen aber ihn und grade ihn und nur ihn.
Und wir haben die Möglichkeit, zu wählen: bekämpfen wir ihn mit der Liebe, bekämpfen wir ihn mit Haß? Wir wollen kämpfen mit Haß aus Liebe. Mit Haß gegen jeden Burschen, der sich erkühnt hat, das Blut seiner Landsleute zu trinken, wie man Wein trinkt, um damit auf seine Gesundheit und die seiner Freunde anzustoßen. Mit Haß gegen einen Klüngel, dem übermäßig erraffter Besitz und das Elend der Heimarbeiter gottgewollt erscheint, der von erkauften Professoren beweisen läßt, daß dem so sein muß, und der auf gebeugten Rücken vegetierender Menschen freundliche Idyllen feiert. Wir kämpfen allerdings mit Haß. Aber wir kämpfen aus Liebe für die Unterdrückten, die nicht immer notwendigerweise Proletarier sein müssen, und wir lieben in den Menschen den Gedanken an die Menschheit.
Negativ? Viereinhalb Jahre haben wir das fürchterliche Ja gehört, das alles gut hieß, was frecher Dünkel auszuführen befahl. Wie war die Welt so lieblich! Wie klappte alles, wie waren alle d’accord, ein Herz und keine Seele, wie bewegte sich die künstlich hergerichtete Landschaft mit den uniformierten Puppen darin zum Preise unsrer Herren! Es war das Thema des Anakreon. Und mit donnerndem Krachen ist das zusammengebrochen, was man früher für eisern gehalten hatte, und was nicht einmal Gußeisen war, die Generale fangen an, sich zu rechtfertigen, obgleich sie es gar nicht nötig hätten, keiner will es gewesen sein, und die Revolutionäre, die zu spät kamen und zu früh gebremst wurden, werden beschuldigt, das Elend herbeigeführt zu haben, an dem doch Generationen gewirkt hatten. Negativ? Blut und Elend und Wunden und zertretenes Menschentum – es soll wenigstens nicht umsonst gewesen sein. Laßt uns auch weiterhin Nein sagen, wenn es not tut! Es ist das Thema des Aischylos.


Autorenangabe: Kurt Tucholsky
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 13.03.1919, Nr. 12, S. 279.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 3. Texte 1919, S. 110 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 2, S. 54 ff.

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Kurt Tucholsky: Rosa Bertens

Eine Dame geht hinter die Kulissen, in ihre Garderobe, schminkt sich ein wenig und kommt heraus, auf die Bühne. Ihre bürgerliche Person tritt in den Hintergrund und geht uns nichts mehr an – die Künstlerin ist imstande, uns alles und alle vorzutäuschen: die Schwatzende und die Weinende und die Hassende und die Leidende. Sie ist, wie Julius Bab vor Jahren hier sagte: der Gipfel einer distanzierenden Schauspielkunst. Sie identifiziert sich nicht mit ihren Gestalten: »Sie gibt statt eines lebendigen Menschen den Sinn eines Menschenlebens – seinen letzten Gehalt.«
Sie spielte bunte Papageien in Konversationsstücken, trauen, die sie lächerlich zu machen hatte, und das Publikum lachte denn auch, weil sie zu hastig oder durch die Nase sprach – aber sie ließ doch tiefer sehen. Durch eine Schicht von Kosmetika, die Jugend vortäuschen sollte, grinste das Alter, diese schrecklichen dreißig Jahre, die nach den ersten dreißig Jahren kommen. Sie stand da, mit einem schiefen Federhut, sie plapperte, sie lorgnettierte, sie neigte schelmisch den wohltoupierten Kopf – und konnte mit einer kleinen Senkung der Stimme zu verstehen geben, daß sie sehr wohl wußte: es half alles nichts. Tick-tack, ticktack – da war nichts zu machen.
Letzten Endes war es ja gleichgültig, ob das bewußtes Können war: ihre Kraft der Suggestion – und was andres ist Schauspielkunst? – zwang uns, zu glauben, was sie wollte. Als in ›Gabriel Schillings Flucht‹ die Weiber aufeinanderplatzten, stand die Bertens ganz allein und hatte wenig zu sprechen. Und als alle durcheinanderschrieen und riefen und tobten, da sah sie leer in die Luft. Und dann weinte sie. Man hörte keinen Laut, aber ein Strom von Schmerz ging von ihr aus, wie sie so grau und unansehnlich dastand; sie bildete in diesem Augenblick das Symbol der Trauer. Sie verhüllte eigentlich nur das Gesicht, und doch war das mehr als alle Tränen und alles Geschrei.
Und in eine Untersuchung über den distanzierenden Stil in der Schauspielkunst drängt sich ein grandioses Bild, eine Rolle, in der diese Frau noch einmal alles, alles zusammenfassen konnte: den Schmerz und den Geifer und die Tränen und – wer weiß? – vielleicht auch die Liebe. Das ist die Mutter in ›Scheiterhaufen‹.
Wind und Musik, Wind und Musik! Der Wind streicht durch das hohe Zimmer, wellt die lange Gardine vom Fenster, er klagt draußen um die Ecken mit menschlichen Tönen, und im Wind spielt jemand Klavier. Und dann ihre unvergeßliche Stimme: »Schließ die Tür, bitte!« Was war das? Sie fürchtete sich, sie erschauerte vor Furcht und Grauen. Sie saß auf einem gepolsterten Sessel und hielt sich an den Armlehnen fest. Herrschte sie noch? Sie hatte geherrscht, fünfzehn Jahre, zwanzig, vielleicht länger, und es waren bittere Jahre gewesen. Sie hatte die ganze Zeit hindurch ihre Augen offen gehabt, sie, die ungekrönte Königin einer Fünfzimmerwohnung. Da war kein Scheit Holz, kein Stück Zucker, keine Scheibe Wurst, die nicht durch ihre Hände gegangen wären. Und so gehört es sich ja wohl. »Schließ die Tür, bitte!« Wimmerte sie jetzt? Sollte sie zetern, würdevoll gebieten, flehen? Sie wußte es nicht – die Lage war zweifelhaft. Sie zitterte vor Herrschsucht, bebte vor Angst, gestürzt zu werden. Noch war sie Gebieterin. »Schließ die Tür, bitte!« Die Eysoldt hätte sich eine gefährliche Schlange zurechtgezischt und damit einen Fehler gemacht. Die Bertens ignorierte den unendlich seltenen Sonderfall und dozierte uns kühl und scharf das Paradigma der Mutter. Dies war durchaus kein Monstrum. Dies existierte zwar nicht, aber es war ein entsetzliches Mosaikbild aller Mütter. Keine hatte Milch unterschlagen, Kinder hungern lassen, Holz gestohlen. Keine hatte kriminell Strafbares begangen. Aber die Wahrheiten müssen sich aufplustern, damit wir sie recht erkennen. Hier war die ›Humbugmutter Medea‹, von der jede im Parkett ein Stückchen hatte. Das war kein Einzelwesen mehr – das war etwas viel Schrecklicheres: das war die Hölle, aber eine sehr menschliche Hölle.
Und da gab es einen toten Mann, der nicht auf dem Personenzettel stand – aber sie machte ihn leben. Ihre Augen weiteten sich vor Grauen, er könne wieder auferstehen, also war er da, spielte stumm und unsichtbar mit, schaukelte auf dem leeren Schaukelstuhl und geisterte im Zimmer umher. Sie ließ sein Bild von der Wand reißen, sie wirbelte mit dem Zugwind herum, klapperte und wühlte in allen Schubladen zugleich – er war da! er war da!
Sie sprach nicht sehr ausführlich von ihm, und doch hatten wir da die ganze Ehe. »Es gibt höllische Ehen in der Welt zwischen Ehegatten, welche inwendig die bittersten Feinde, äußerlich aber die herzlichsten Freunde sind«, sagt Swedenborg und zählt die Gründe für diese »ehelichen Verstellungen auf«, die ihm lobenswert scheinen: die Erhaltung der Ordnung im Hauswesen, einmütige Sorge für die Kinder, der häusliche Frieden, der gute Ruf, allerhand pekuniäre Vorteile. So mochte es anfangs um sie gestanden haben. Aber dann kam doch der Krieg, der niederträchtige Kleinkrieg.
»Der eigentliche Grund, weshalb die Frauen zur Herrschaft gelangen, liegt darin, daß der Mann aus dem Verstande handelt und das Weib aus dem Willen, und daß der Wille sich verhärten kann, nicht aber der Verstand.« Oh, er verhärtete sich! »Es wurde mir gesagt«, fährt Swedenborg fort, »daß die schlimmsten dieser Sorte, welche vom Streben nach Herrschaft ganz durchdrungen sind, an ihren eigensinnigen Forderungen bis zum letzten Atemzuge festhalten können.« Bis zum letzten Atemzuge. (Der Germane scherzte hierüber wohl noch gutmütig in seinen Volksschwänken; der Jude hatte einen schmachvollen Frieden geschlossen, denn sein Autoritätsgefühl der Frau gegenüber ist größer, groß bis zur Furcht.)
War das die Notwehr der Frauen? Die Angst vor dem Mann, dessen Überlegenheit sie erkannten, und dem sie sich doch nicht unterordnen mochten? Die Bertens legte mit grausamen Fingern dar, daß es ganz etwas andres war. Sie hockte auf ihren geretteten Scheiten Holz, die sie, vor Herrschsucht keuchend, aus dem Kamin gezogen hatte; sie stopfte sie unter das Sofa und saß knurrend da, wie ein Hund über dem Knochen. Es handelte sich gar nicht um das Holz: sie hatte ihren Willen, ihren verfluchten Willen.
Und es war nicht das Mogeln, die Nachlässigkeit in der Erziehung und der Geiz – es war nicht das. Es war die unbändige Herrschsucht der Familienglucke, die auf Küken und Hahn gleichmäßig hackte. Früher hatte die Geliebte dem Mann die Augen zugeküßt, sodaß er nichts mehr zu sehen vermochte – nun errichtete sie die heiligen Schranken der heimatlichen Hütte, worin sie regierte. Hier war ihr Reich; und der weite Horizont war verbaut. Hier herrschte sie, herrschte mit allen Mitteln. Mit Gewalt, mit Schlägen, mit der Lüge, »wenn man das Wort Lügen von jemand benutzen kann, der nicht weiß, was Wahrheit ist«. Der Familienversorger war da – Rechte hatte er nicht. (Weil er nicht die Kraft hatte, sie sich zu nehmen.) »Da waren schreibende Damen, kranke Damen, faule Damen, junge Damen, schöne Damen«, schrieb Strindberg 1886 von der Schweiz. Die Bertens spielte alle auf einmal. Sie gab einen Extrakt. »Wenn er deren Müßiggang sah, der keine Sorgen, keine Arbeit zu kennen schien, so fragte er sich: wovon leben diese Parasiten?« Und: wovon leben sie? fragen wir uns, wenn wir zänkische Weiber das Portemonnaie ziehen sehen. Seht dahinter den Mann! Den Mann auf dem Kontorbock, auf dem Kasernenhof, im muffigen Laden; und denkt an ihn!
Das Phantom, das die Bertens für ein paar Stunden leben ließ, dachte an ihn. Wie sie ihn haßte! Sie hatte ihn nötig, und es gab kein besseres Mittel, diese Abhängigkeit zu verstecken als dadurch, daß man sie negierte. Der Tölpel, die Tölpel merkten nichts.
Da war der Familientisch mit der gemütlichen Lampe. Ein Flug in die Sonne? Flieg du, wenn die Bleiklumpen der Frauen dich zur Erde ziehen. Nieder! nieder! nieder! Du sollst nicht zu den Wolken, du sollst nicht höher steigen, als wir sehen können, und wir sind kurzsichtig, das ist wahr, aber bleibe bei uns! Lache, schluchze, murre, aber unter unsrer Kontrolle; wir wollen im Nebenzimmer sitzen, wenn du lachst, schluchzt, murrst, damit wir immer wissen, was du grade treibst. Du sollst nicht allein sein, nie! Du könntest auf schlimme Gedanken kommen, am Ende gar auf die Freiheit! Wir sind die Hennen – schlupf unter!
Die Kinder? Wir lieben unsre Kinder. Wie wir sie lieben! Die Bertens hatte diesen empfindlichsten Punkt ihrer Rolle begriffen. Sie haßte ihre Kinder nicht. Sie würde sie wahrscheinlich gegen Fremde verteidigt haben. Das Muttertier liebt seine Jungen; und wenns ein Wechselbalg wird, auch den. Doch Liebe, steht geschrieben, ist nur möglich von Individualität zu Individualität. Dies aber ist eine reflexartige Verbindung, ein geistiges Verhältnis, das auf dem körperlichen basiert – alles, alles, nur keine Liebe.
Und die Resultate? Die Kinder wurden nicht für den Staat und für die Gemeinschaft, sondern immer nur für eine neue Familie erzogen, und die meisten Utopisten, wie auch Cabet, den Strindberg bejahte, bemühten sich, in ihren Mondund Sonnenreichen den engen Kreis der Familie auszudehnen. Doch das stand auf dem Papier. Die Bertens war greifbarste Wirklichkeit. Und in all dem Brodem, in all den heißen Schlachten mochte vor dem gequälten Mann wie eine Lufterscheinung das friedliche Bild jener andern so seltenen Frau auftauchen, die nicht brauchte, was seiner so bitter nötig tat: eine harte Faust und einen eisernen Willen. Diese andre gab sich so zufrieden, sie strich mit ihren schlanken Fingern dir durch das Haar, verachtete es, sich einen Sklaven zu halten, und liebte den Starken auch ohne die schimmernde Rüstung. Vielleicht war das gar keine Frau mehr? Umso besser: dann war es der beste Lebenskamerad. Und wohl dem, der eine solche Hand halten darf! Er halte sie ganz fest, denn sie ist ein Schatz, den nicht jeder findet.
Hatte er so geträumt? Vielleicht. Aber nun war er tot. Was würde geschehen? Bis dahin waren die Fenster sorgfältig verriegelt gewesen: jetzt wehte scharfe Luft von draußen herein. Es zog; aber es war immerhin keine Stubenluft. Sie hatte ihre Zeit geherrscht – sollte jetzt alles zusammenstürzen? Denn das war das Schlimmste: Magd sein, dienen müssen, einem fremden Willen gehorchen. Niemals. Und sie duckt sich und sucht durch alle Löcher zu entwischen. Noch einmal: Gewalt. Aber der Schwiegersohn ist ein Fleischhacker an Brutalität. Nun denn: Mitleid. Und wie hier die Bertens ein Leierkastenlied auf ihre Jugend, auf ihre bösen Eltern sang: das war hinreißend. Die Sympathie kippte auf ihre Seite. Der Sohn schluchzt. Sie stellt sorgfältig fest: »Hast du Mitleid mit mir?« Ja, er hats. Dann ist es gut. Und als dann die Vorwürfe der Tochter kommen, trommelt sie vergnügt, ruhig, heiter mit den Fingern auf der Stuhllehne. »Ich kann nichts dafür! Ich kann nichts dafür!« Sie hat gebeichtet, Schwächen zugegeben, Entschuldigungen gefunden – sie ist gesichert, ihr kann nichts geschehen. Und da vergißt sie sich, nunmehr ein Stück Natur im Urzustand, vergißt sich und wie alt sie ist, und wird wieder jung und singt. »Der Walzer: ›Er sagte mir‹ wird gespielt.« Und aus ihrem alten Gesicht springt das junge heraus, sie wiegt einen schwerfälligen, fetten Körper im Takt und girrt in hohen Kopftönen. Der Ekel packt einen vor dem alternden Weibchen – es ist derselbe Ekel, den man empfindet, wenn die Natur eine Achtjährige verdorben sein läßt.
Und dann zieht sich die Spirale enger und enger; sie sieht, daß es kein Entrinnen mehr gibt, und sie brüllt vor Wut wie ein gefangenes Tier. Lieber sterben als nachgeben! Sie rast ans Fenster, kauert sich zum Sprung und stürzt hinaus. Wind und Musik! Wind und Musik! Und ihr letzter Gedanke ist: »Macht! Macht!« und: »Ich! Ich!«
Ein Spiel? Gewiß. Wenn aber der Vorhang gefallen ist, blinzeln wir ins Licht, taumeln, sammeln uns und küssen der großen Spielerin ehrfurchtsvoll die Hände.

Autorenangabe: Kurt Tucholsky
Ersterscheinung: Die Schaubühne, 07.05.1914, Nr. 19, S. 520.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 2. Texte 1914-1918, S. 182 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 1, S. 219 ff.

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