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Kurt Tucholsky: Seifenblasen

»Hänschen klein / ging allein / wollte gerne Gretchen sein …«1

seifenblasen-orig300Tucholskys Film-Travestie Seifenblasen von 1931 zum Nachle­sen.

Auch, wenn heute in Film, Literatur und Sozialwissenschaft der Begriff Transgender häufig eine Rolle spielt, so ist das Phäno­men, das er bezeichnet, nicht neu. Das Spiel mit den Ge­schlechtern, das Verkleiden, waren schon vor Tucholskys Zeiten bekannt – mal gesellschaftlich geächtet und mal akzeptiert. Travestien von Transvestiten wa­ren als Bühnengag schon vor dem 1. Weltkrieg in Cabarets und Varietés beliebt.

Peter Panter, bekanntlich in platonischer Liebe zur Kabarettistin Gussy Holl ent­flammt, schilderte 1913 einen Auftritt der Künstlerin als »Damenimitatorin«:

Aber die Höhe ist doch: die Imitation eines Damenimitators. Die Frau fühlt, wie unendlich weit es immer noch ist von jedem Mann, und sei er der wei­bischste, bis zu ihr. Wie diese Kluft doch nicht zu überspringen ist. Und so macht sie sich über die vergeblichen Anstrengungen eines Gegners lustig, den sie ja allerdings nicht mehr als Mann anerkennt, aber der doch nur ein amüsantes Zwischending ist, beileibe keine Frau. […] Am Schluß ein herrli­cher Zug: sie reißt sich anstatt der Perücke triumphierend den »Shinjong« aus und hält jubelnd die Trophäe ihrer Mannheit hoch.2

Daran muss er sich erinnert haben, als Peter Panter zu Beginn der Tonfilmzeit von Nero-Film den Auftrag für das Szenarium zu einer Filmkomödie erhielt. Ide­engeber war der der Nero-Regisseur G.W. Pabst, der als Hauptvertreter der »Neuen Sachlichkeit« im Film kein besonderes Verhältnis zu heiteren Stoffen hatte (aber mit dem Henny-Porten-Schwank Skandal um Eva seine leichte Hand bewies). Peter Panter schrieb also ein ausführliches Filmexposé von Barbara, ei­nem »Fräulein Nummer« am Varieté, das als Damenimitator zu einem umjubel­ten Star wird, in den sich viele Frauen verlieben – Frauen und ein Mann, der auf einem Wochenendausflug entdeckt, was es mit ihr auf sich hat. Dazu kommt noch eine etwas weit hergeholte Kriminalgeschichte.

Panter-Tucholsky zeigte in seinem Filmtext, daß er durchaus filmisch denken konnte. Bei ihm spielte die moderne Technik in Gestalt von Telefonen eine Hauptrolle. Er entwickelte für den damals noch ganz neuen Tonfilm bereits in seinem Szenarium dramaturgisch begründete Geräusch-Collagen. Dazu griff er auf seine Stärken zurück, den Mutterwitz und den Einsatz zahlreicher Chan­sons. Wenn die Igel in der Abendstunde, war beispielsweise für diesen Film vor­gesehen.

Tucholsky-Kennern ist diese Filmerzählung, die tatsächlich in der KT-Gesamt­ausgabe3 erstmals veröffentlicht wurde, spätestens seit der Jahrestagung über Tuchos Verhältnis zu den Medien 2005 ein Begriff. Ganz so sensationell ist also die Entdeckung des Rowohlt-Verlags nicht, aber immerhin ist es die erste Ein­zelpublikation dieses Textes. Michael Töteberg hat dazu ein Vorwort geschrie­ben, in dem er Tucholskys schwieriges Verhältnis zum Medium Film noch ein­mal referiert. Als 23jähriger hatte er für die Schaubühne erste Filmkritiken ver­fasst, in denen er dem Stummfilm mehr als kritisch gegenüberstand. Allerdings anerkannte Tucholsky schon damals technische Finessen, die nur im Film mög­lich waren und revidierte sein abschätziges Urteil über das Genre nach dem Kriege mehr und mehr – was bei Töteberg etwas zu kurz kommt.

Bekanntlich wurden die Seifenblasen nicht realisiert, möglicherweise, weil der einzig interessierte Regisseur Pabst die Nero-Film 1932 verließ. In einem seiner Schnipsel zeigte sich der Autor enttäuscht:

Es war einmal ein Vertrag zwischen einer Filmgesellschaft und einem Au­tor, der wurde von der Gesellschaft anständig und sauber erfüllt. Das war kurz vor der Erfindung der Fotografie.4

Der Stoff wurde kurz darauf von der Ufa aufgegriffen. Chefdramaturg Robert Liebmann – den Tucholsky wegen Vielschreiberei mit Sarkasmus bedachte – schrieb zusammen mit anderen die Film-Travestie Viktor und Viktoria, in dem der damalige Publikumsliebling Renate Müller einen Damenimitator spielte. (Der Stoff bot 1982 die Grundlage für den Hollywood-Film Victor/Victoria mit July Andrews.)

Tucholskys einziger Film in der Weimarer Republik war die Verfilmung Wie kommen die Löcher in den Käse? von 1932, an der er selbst allerdings nicht mit­arbeitete.

Frank-Burkhard Habel

Kurt Tucholsky: Seifenblasen. Rowohlt rotation. Reinbek 2016, eBook, ca. 84 Seiten. ISBN 978-3-644-05391-5.

seifenblasenprint150Inzwischen hat Rowohlt auch eine gedruckte Ausgabe angekündigt:

Im Dezember 2016 erscheint eine Hardcover-Ausgabe im Geschenkformat:

Kurt Tuchols­ky: Seifenblasen. Eine Geschichte, die ein Film werden sollte.

Rowohlt Taschenbuch Ver­lag. Reinbek 2016, 128 Seiten, gebunden, 10 €. ISBN 978-3-499-29033-6

1Peter Panter: Seifenblasen. Ein Spiel. Nach einer Idee von G.W. Pabst. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 15, [T 144], S. 401

2 Peter Panter: Gussy Holl, Schaubühne Nr. 26, 3.7. 1913, S. 688 (Tucholsky Gesamtausgabe Band 1, [T 133], S. 224ff., hier: S. 225. Online bei textlog.

3 Peter Panter: Seifenblasen. Ein Spiel. Nach einer Idee von G.W. Pabst. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 15, [T 144], S. 400-462

4 Peter Panter: Schnipsel. Die Weltbühne, 03.11.1931, Nr. 44, S. 673. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 14, [T 129], S. 435. Online bei textlog.

Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

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Schwarzwaldmuseum in Triberg wirbt mit Tucholsky

Aus »Nußbach bei Triberg« schrieb Kurt Tucholsky am 19. August 1919 einen Brief an Mary Gerold.1 Er weilte im Haus der Familie seines Hamburger Freun­des Hans Fritsch, genannt »Jakopp«, in der noch heute so benannten Villa Fritsch. Das weiß man in Triberg schon seit 1990.
Eine Tagung der Kurt Tuchols­ky-Gesellschaft im Jahre 2000 in Triberg mit Kaf­feepause im »Römischen Kaiser« in Nußbach, von dem die Familie Fritsch sei­nerzeit ihren Wein »unter der Hand« bezog, sorgte ebenfalls für lokale Auf­merksamkeit.
Mit Gastspielen und Tucholsky-Programmen mit Marlis und Wolfgang Helfritsch wurde weiter­hin die Trommel gerührt. In der Triberger Stadtchronik ist Tuchols­ky samt der Geschichte des über 100 Jahre alten Hauses festgehalten. Ebenso der mehrfa­che Besuch des amerikanischen Publizisten Ernest Hemingway in den zwanziger Jahren2.
Während Tucholsky noch die politische Ahnungslosigkeit im Schwarz­wald kari­kierte, drosch Hemingway auf die Schwarzwaldbevölkerung ein. Ledig­lich das Forellenfischen fand seine Zustimmung. Nachdem der heute noch am­tierende Bürgermeister den recht erfolgreichen Hemingway-Days nach Ein­spruch ehe­maliger Wehrmachtsangehöriger ein unrühmliches Ende setzte, wurde es still um die berühmten Besucher der Wasserfallstadt.
Der Bürgermeis­ter, Jurist wie Tucholsky, sah in einem Hemingway-Brief, in dem sich der Autor rühmte, bei der Besetzung von Paris »Krauts« eigenhändig er­schossen zu ha­ben, Schaden auf die Stadt zukommen. (Ein Gutachten der Uni­versität Hamburg kam allerdings 2008 zur Ansicht, dass die entsprechenden Passagen fiktional waren.) Das bisherige Organisationsteam sollte – so die Bür­germeister-Idee – doch auf Tucholsky-Tage umschwenken. Nach dem Einwand, dass dieser in der Weimarer Republik zu den meistgehassten Publizisten der Nationalisten gehör­te, zog der Triberger die Idee zurück.

Bild: Renate Bökenkamp
Bild: Renate Bökenkamp

Jetzt weist am Schwarzwald-Museum in Triberg ein großes Plakat auf Tuchols­kys Besuch seinerzeit hin. Im Treppenhaus hängt dazu sein Foto mit einem Zi­tat. Eine Veranstaltungsreihe im Museum begann mit Texten zum Thema Rei­sen, in denen auch Tucho-Texte verlesen wurde.

Die Villa Fritsch steht erneut zum Verkauf und das nahezu 200 Jahre alte Gast­haus »Römischer Kaiser« samt Pensionsbetrieb ist nach einem Zwischenpächter wie­de-rum geschlossen. Inwie­weit Tucholskys Besuch im Schwarz­waldmuseum weiteren Niederschlag fin­det, bleibt abzuwarten, demnächst wechselt die Lei­tung.

Renate Bökenkamp

1 Brief an Mary Gerold vom 19.8. 1919 (Tucholsky GA Bd. 17, [B 37], S. 68 ff.)

2 siehe die titelgebende Geschichte »Schnee auf dem Kilimandscharo«. Zuletzt erschienen in Neuübersetzung von Werner Schmitz: Ernest Hemingway: Schnee auf dem Kilimandscharo. Rowohlt Reinbek 2015, 224 Seiten, gebunden, 18,90 €. Taschenbuchausgabe für Dezember 2016 angekündigt (9,99 €, ISBN 978-3-499-27286-8).

Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

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Rundbrief April 2016

Liebe Freunde der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
der allfällige April-Rundbrief ist bei der Druckerei und geht den Mitgliedern in Kürze zu.
Die Webversion (wie gehabt ohne Vereinsinterna) steht aber bereits jetzt als .pdf zur Verfügung:
Rundbrief April 2016 [pdf]
Darin enthalten sind umfangreiche Rezensionen, ein Bericht zum Mindener Tucholsky-Geburtstag im Januar, ein Fundstück zu Fritz Tucholsky und weitere, hoffentlich anregende Beiträge.
Wir wünschen viel Freude bei der Lektüre.

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Laudatio auf Jochanan Trilse-Finkelstein

Hoch zu ehrender Preiskandidat, sehr verehrte Frau Barbara Roca, werte Ehren-, Vorstands und Vereinsmitglieder, verehrte Gäste, werte wohlgesinnte Förderer des Preises, liebe Tagungsteilnehmer und Gesinnungsverwandte Kurt Tucholskys, liebe Freunde und Gäste aus allen Bundesländern, Regionen und Kontinenten!

Heute, am 18. November 2015, in einer politisch bewegten und besorgten Zeit, zwischen herabrieselnden Blättern in diversen Testfarben und im Nachgang zu Kurt Tucholskys fünfter Jahreszeit, ehren wir zum 13. Male in unserer Vereinsgeschichte eine Persönlichkeit mit dem Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik.

Entsprechend der Ausschreibung werden mit diesem Titel die Autoren engagierter und sprachlich prägnanter Werke und Veröffentlichungen ausgezeichnet, die sich erkennbar auf zeitgeschichtlich-historische Vorgänge beziehen, in der Tradition des Namensgebers für Verständigung, Toleranz und ein friedliches Miteinander der Menschen eintreten und die Realität hinter vorgeschobener Fassade erhellen. Möglich sind auch Würdigungen eines Lebenswerkes, und das, verehrte Anwesende, meine Damen und Herren, ist heute zum dritten Male in der Preisgeschichte der Fall.

In der Person Prof. Dr. Jochanan Trilse-Finkelsteins verbinden sich auf individuelle, kaum vergleichbare Art Lebenswerk und Lebensweg, und die vollendete Beherrschung unterschiedlichster Facetten des literarischen Genres ist bei dem heute zu Ehrenden nicht mehr und nicht weniger als ein nahezu selbstverständliches Attribut, eine das Werk begleitende Beifügung.

Sein erstes Theaterlexikon, dessen federführender Herausgeber und Autor unser Preisträger – damals noch unter dem Namen Christoph Trilse – war und das 1977 beim Henschel-Verlag herauskam, begegnete mir als Pädagogen und Kleinkunstmenschen mehrfach. Persönlich bekam ich den Autor lange nicht zu Gesicht.

Das änderte sich 1994, als meine Frau und ich auf Veranlassung Brigitte Rotherts zum ersten Male an einer Jahrestagung unserer Gesellschaft teilnahmen, und die ereignete sich im Tucholsky-verklärten Schwedenschloss Gripsholm. Diese Konferenz war es übrigens auch, die den Preis beschloss, der uns heute im Palais neben der Zelterschen Singakademie im theaterumflairten Aktionsraum am Festungsgraben zu löblichem Zwecke zusammenführt.

Einer der damaligen Tagungsteilnehmer war der Professor, der sich durch seine würdige, achtunggebietende Erscheinung im und aus dem Forum besonders heraushob.

Der Klar- und Wahrheit halber betone ich, dass ich diese sachliche Feststellung keinesfalls als Affront gegenüber den anderen damals Anwesenden verstanden wissen möchte. Mit gleichem Nachdruck konstatiere ich, dass unser Preisträger auch heute noch, rund 20 Jahre später und in einem Lebensalter, das behördlicherseits mit dem Stempel »hochbetagt« gebrandmarkt wird, nichts an äußerer Ausstrahlung verloren hat.

Auf die innere Kompetenz werden wir sowieso gleich noch zu sprechen kommen.

Eine Persönlichkeit, deren zeitkonform erschienene 650seitige Hacks-Biographie sich des Dichterzitats Ich hoff‘, die Menschheit schafft es! als Buchtitel bedient, gibt sich zugleich selbst preis.

Jochanan Trilse-Finkelsteins Lebensverlauf ist wie kaum ein anderer von tragischen Zeitereignissen und -erlebnissen bestimmt und von seiner Zugehörigkeit zum Judentum und zur jüdischen Lebensweise geprägt. Sein Weg ist von unermesslichem persönlichen Leid gezeichnet, aber auch von seiner unerschütterlichen antifaschistischen Haltung, von nicht erlahmendem Friedenswillen und von Toleranz. Es ist mit dem »Prinzip Hoffnung« verwachsen, das sich in der Vorstellung Jochanans mit den Idealen des Sozialismus verband. Die damit verknüpften Verhaltensnormen sind in unseren Tagen nicht weniger gefordert als zur Lebenszeit Tucholskys und Ossietzkys.

Jochanan Trilse-Finkelstein verlor außer den Eltern alle Angehörigen durch die Shoah, kämpfte als Kindersoldat – der Vater war Chirurg, die Mutter Krankenschwester – in Jugoslawien gegen die deutschen Nazis und ihre Kollaborateure.

Seinen humanistischen Idealen blieb er trotz schmerzhafter körperlicher Erfahrungen auch in jüngerer Zeit treu. Derlei Erfahrungen waren es auch, die ihn dazu bewogen, seinen vollständigen jüdischen Namen wieder anzunehmen.

Geboren wurde er – fast auf den Ehrungstag genau – am 10. Oktober 1932 in Breslau in einem jüdischen sozialdemokratischen Elternhaus. Sein Vater stammte aus Polen, die Mutter kam aus Galizien.

Die Emigration führte die Familie über Wien nach Prag, von dort nach Triest, nach Shanghai und illegal wiederum nach Wien und von da in die von Josip Broz Tito geführte Volksbefreiungsarmee. Nach dem Inferno des II. Weltkrieges setzte sich der Lebensweg der Familie in Wien fort.

Lassen Sie mich, werte Teilnehmer der Würdigungsveranstaltung, die wichtigsten Daten und Fakten der Entwicklung unseres diesjährigen Preisträgers auflisten:

  • 1951 Matura am Theresianum in Wien

  • 1952 Lehre in der Forstwirtschaft

  • 1953-1956 Studium der Philosophie und der Theaterwissenschaften an der Rudolfina in Wien

  • 1957-1958 Fortsetzung des Studiums bei den Professoren Bloch, Mayer und Markov in Leipzig

  • 1959 Theaterdramaturg in Erfurt und Güstrow

  • in den 60er Jahren wissenschaftliche Tätigkeit an den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten für klassische Literatur in Weimar mit besonderer Orientierung auf Heine

  • 1966-1971 Lektor und Lektoratsleiter bildende Künste im Henschel-Theaterverlag Berlin

  • 1971/72 Promotion

  • 1972/73 Redakteur der Weimarer Beiträge im Aufbau-Verlag

  • 1973 Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR

  • seit 1973 freier Autor, Publizist und Herausgeber

  • 1977 Habilitation in Greifswald

  • 1980 Titularprofessor

  • 1990 Mitbegründer des Jüdischen Kulturvereines in Berlin, dort

  • 1992-2003 Vorstandsmitglied.

Ich fühle mich dem Autor und zugleich Ihnen, meine Damen und Herren, verpflichtet, aus der Werkbiographie Jochanan Trilse-Finkelsteins folgende Titel auszuwählen.

  • Geschichte der deutschen Schauspielkunst Berlin 1967

  • Antike und Theater heute Berlin 1975

  • Erstes Theater-Lexikon Berlin 1977

  • Das Werk des Peter Hacks Berlin 1980

  • Lexikon Theater International Berlin 1995

  • Gelebter Widerspruch – Heinrich Heine, erschienen anlässlich seines 200. Geburtstages, Berlin 1997

  • Heinrich Heine und Kurt Tucholsky in Paris: Tradition gelebter Widersprüche, gleicher Gegner und nicht eingelöster Ideale Berlin 2010.

Diese Thematik war mehrfach Vortragsgegenstand des Autors in der Kurt-Tucholsky-Bibliothek in Berlin-Prenzlauer Berg und im Tucholsky-Literatur-Museum in Rheinsberg und veranlasste mich als damaligen Vereinsvorsitzenden, Jochanan Trilse-Finkelstein für einen Vortrag im Rahmen der 20-Jahres-Tagung unserer Gesellschaft in der Maison »Heinrich Heine« im Campus der Pariser Hochschulen zu gewinnen.

Einige Vereinsmitglieder werden sich sicher erinnern: Wir hörten einen anregenden, problemhaften Vortrag, der allerdings fast einen Eklat herbeiführte, da er eine spezifische Qualität des Referenten offenlegte: seinen flexiblen Umgang mit dem Zeitfonds.

Die damalige Versammlungsleitung wird sich der dadurch entstandenen Spannungssituation entsinnen, die ich lediglich der Vollständigkeit halber erwähne.

Wesentlich wichtiger erscheint mir der Hinweis auf die Quintessenz des Heine-Tucholsky-Bandes, die der Autor auf dem Cover dokumentiert.

Beide – Heine und Tucholsky – bekämpften als Europäer Deutschland, weil sie es liebten, und sie meinten das andere, das demokratische, friedliche, gerechte, tolerante, schöpferische – das des aufrechten Ganges, das Deutschland mit allen, nicht über alles und allen, das gute Deutschland von Anmut und Mühe, Leidenschaft und Verstand und Arbeit und Güte.

Aber sie kannten das alte und krankten daran – der Andere überlitt es, der Eine starb daran. Beider Deutschlands Flucht korrespondierte auch die Judenflucht – ein schwer entwirrbares circulus vitiosus.

Weitere 100 Jahre später – sagen wir, im Oktober 2015 – sei darauf Bezug genommen: in einer Zeit, die den Flüchtlingsstrom der Kriegs- und Nachkriegszeit übertrifft, in der mögliche Unterkünfte in unserem Heimatland vorsorglich brandsaniert werden, zugleich aber auch zahlreiche Helfer unterschiedlicher sozialer Beschaffenheit und konfessioneller Bindungen von ihnen nicht verursachtes und nicht zu verantwortendes Leid zu lindern suchen.

2010 erschienen unter dem Titel Jeder Tag ein Gedenktag Jochanan Trilse-Finkelsteins jüdische Lebens- und Gesellschaftsbilder, angeregt durch das Gedenken an den Todestag Walter Benjamins. Das Vorhaben wuchs weit über die ursprüngliche Absicht hinaus und wurde zu einer einmaligen Dokumentation.

Abgerundet wurde die Arbeit durch textkritische Beiträge über Gertrud Kolmar in der Anthologie Dichten wider die Unzeit.

In der von ihm mitbegründeten Reihe Internationale Dramatik gab unser Preisträger sieben Bände heraus, darunter die Stücke gegen den Faschismus.

Seine philosophischen, theaterwissenschaftlichen und biographischen Beiträge und Essays aufzulisten übersteigt bei weitem meine Kenntnis und den Rahmen einer Auszeichnungsveranstaltung.

Keinesfalls aussparen möchte ich jedoch die im Weltbühnen-Nachfolger Ossietzky von Jochanan Trilse-Finkelstein fortlaufend publizierten Stück- und Bühnenkritiken, die unser Autor unter dem gesundheitsfördernden Titel Berliner Theaterspaziergänge präsentiert.

Da die Jahre jedoch auch an einem leidenschaftlichen, altgedienten Segelsportler nicht spurlos vorbeijoggen, ist er dabei zunehmend auf die Zuhilfenahme von Taxis angewiesen.

Das vielleicht vertieft noch seine kritische Haltung, wenn er die Maßstäbe großer Theatermänner und Regisseure wie Piscator, Reinhardt und Langhoff oder seine eigenen Erwartungen zugrunde legt und aktuell feststellt, dass beispielsweise von den Intentionen des weisen Nathan in der gegenwärtigen Machart wenig verwertbare Impulse ausgehen. Das ist ein böses Manko, und das ausgerechnet im Geschehen unserer Tage.

Aber auf jeden Fall ist es ein Segen für die hauptstädtische Theaterlandschaft, dass es noch Kritiker à la Trilse-Finkelstein gibt.

Meine Damen und Herren, werte Gäste, Mitglieder und Tucholskyfreunde,

ich halte es für eine glückliche Fügung, dass das Erscheinen der Peter-Hacks-Biographie den diesjährigen Zugang wichtiger Neuerscheinungen auf der Frankfurter Buchmesse maßgeblich mitbestimmt.

Wer Hacks persönlich so gut kannte und ihm freundschaftlich so verbunden war wie Trilse-Finkelstein, ist nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, dessen Zukunftsvisionen aufzunehmen und sich mit ihnen zu infizieren und zu identifizieren, denn – ich zitiere Hacks –:

Der Künstler, der es wagt, viel und wichtige Wirklichkeit zu bewältigen, glaubt an die Humanisierbarkeit der Gesellschaft […] Ich hoff‘, die Menschheit schafft es!

Nun gehört es sich, verehrte Anwesende, eine abschließende Verbindung, eine möglichst überzeugende Gleichstimmigkeit zwischen Tucholsky und Trilse-Finkelstein, zwischen Kurt und Jochanan herzustellen.

Das versuch ich jetzt ganz profan.

Beide mochten bzw. lieben trockene Rotweine. Tucholskys Bedauern »Schade, dass man einen Rotwein nicht streicheln kann!«, hätte auch – ich kann das bezeugen – dem Kennermunde unseres Preisträgers entschlüpfen können.

Ich ziehe das Anstoßen gedanklich jetzt schon mal vor, gratuliere dem Preisträger sehr herzlich und danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind.

Dr. Wolfgang Helfritsch

Dr. Wolfgang Helfritsch war Lehrer, Schuldirektor und pädagogischer Wissenschaftler und arbeitete parallel dazu als Kabarettist, Texter und Gestalter literarisch-musikalischer Programme. Er textete für das Berliner Lehrerensemble, die Potsdamer Spottschule und das Stadtkabarett von Eisenhüttenstadt. Er leitete 18 Jahre lang das Zimmertheater Berlin-Karlshorst. Er ist regelmäßiger Autor des Weltbühnen-Nachfolgers ossietzky. Wolfgang Helfritsch gehörte von 1996-2009 dem Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft an, vier Jahre davon als 1. Vorsitzender. Er ist Sprecher der Jury für den Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik. Er erhielt 2012 die Bürgermedaille von Berlin-Lichtenberg und ist seit 2013 Ehrenmitglied der KTG.