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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kurt-Tucholsky-Preis 2007 an Lothar Kusche und Otto Köhler

Lothar Kusche und Otto Köhler. Quelle: privat.
Lothar Kusche und Otto Köhler. Quelle: privat.

(in hoher Auflösung)

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft vergibt den mit 3000 € dotierten Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik zu gleichen Teilen an Lothar Kusche und Otto Köhler. Sie erhalten den Preis für ihr Lebenswerk.
Die Begründung der Jury:

Lothar Kusche, seit nunmehr sechzig Jahren Feuilletonist, Redakteur und Kabarettautor, hat die DDR 40 Jahre lang satirisch begleitet und kommentiert.
Durchaus in der Tradition Tucholskys stehend, haben Kusches urwüchsiger Humor und die spöttisch-zweifelnde Ironie des gebürtigen Berliners in zahllosen Texten und unter etlichen Pseudonymen ihren Niederschlag gefunden. Seit 1950 war er ständiger Mitarbeiter und zeitweise auch Redakteur der „Weltbühne“ und hat wesentlich zu deren misstrauisch beäugter Popularität in der DDR beigetragen. Kusche ist auch nach der Wende ein kritischer Beobachter und Kritiker unserer Zeit geblieben, dessen in zahlreichen Büchern gesammelte Feuilletons den Lesern heute wie schon vor fünfzig Jahren mehr als nur Spaß bereiten.
Otto Köhler hat die vielfach verschwiegene, verleugnete, verdrängte und gerade deswegen nicht überwundene Nazi-Vergangenheit bundesdeutscher Eliten und Institutionen aufgedeckt und damit zu einer Auseinandersetzung beigetragen, die für eine demokratische Neugestaltung der Gesellschaft unerlässlich ist. Mit seiner glasklaren, nie von Betulichkeit getrübten Sprache ist er als scharfer Sprach- und Medienkritiker in der Bundesrepublik zu einem gefürchteten und bewunderten Gesellschaftskritiker in der Nachfolge Tucholskys geworden.

Lothar Kusche
geboren am 2. Mai 1929 in Berlin-Neukölln, ist ein deutscher Feuilletonist, Schriftsteller und Satiriker.
Kusche begann seine Laufbahn 1947 bei Zeitschriften wie „Ulenspiegel“, „Fuffzehn“ und „Frischer Wind“ als Redakteur und schrieb später für den „Eulenspiegel“ zahlreiche satirische Texte. Besonders verbunden war er mit der DDR-„Weltbühne“, für die er seit 1950 schrieb und als deren stellvertretender Chefredakteur er auch für einige Zeit wirkte. Seinem Vorbild Kurt Tucholsky verpflichtet arbeitete Lothar Kusche bei der „Weltbühne“ unter verschiedenen Pseudonymen, unter denen er Texte ganz unterschiedlichen Charakters, die aber stets den satirischen Einschlag nicht verkennen ließen, veröffentlichte.
Seine Geschichten, Feuilletons und Reisereportagen erschienen in zahlreichen Sammlungen, wie Das bombastische Windei, Käse und Löcher, Überall ist Zwergenland, Die Patientenfibel, Wie man einen Haushalt aushält und Was hat Napoleon auf St. Helena gemacht?. Die Gesamtauflage seiner Bücher beträgt mehr als 2,5 Millionen. Daneben schrieb Kusche für das Berliner Kabarett Die Distel sowie Szenarien für zahlreiche Filme, in denen er gelegentlich auch mitspielte.
Seit 1998 arbeitet Lothar Kusche vorrangig für den „Weltbühnen“-Nachfolger „Ossietzky“, für den er auch unter dem inzwischen bekannten Pseudonym Felix Mantel seine sprachkritische Rubrik „Press-Kohl“ fortsetzt.
Dankesrede von Lothar Kusche.
Veröffentlichungen (Auswahl):
Quer durch England in anderthalb Stunden. Illustrationen von Elizabeth Shaw. Berlin, Aufbau Verlag, 1961
Überall ist Zwergenland. Berlin, Aufbau Verlag, 1960
Eine Nacht mit sieben Frauen. Geschichten und Feuilletons. Berlin, Aufbau Verlag, 1964
Lothar Kusche’s Drucksachen. Geschichten, Feuilletons und Satiren aus zwei Jahrzehnten. Illustrationen von Klaus Vonderwerth. Berlin, Eulenspiegel Verlag, 1976
Donald Duck siehe unter Greta Garbo. Einige Stichworte über Nordamerika. Illustrationen von Thomas Schleusing. Berlin, Eulenspiegel Verlag, 1981
Kein Wodka für den Staatsanwalt. Berlin, Aufbau Verlag, 1967
Der Mann auf dem Kleiderschrank. Geschichten und andere Späße. Berlin, Eulenspiegel Verlag, 1985
Nasen, die man nicht vergißt. Illustrationen von Elizabeth Shaw. Berlin, Eulenspiegel Verlag, 1987
Das verpaßte Krokodil. Geschichten und Feuilletons. Illustrationen von Klaus Vonderwerth. Berlin, Verlag Tribüne, 1988
Wo die Rosinenbäume wachsen, Berlin, Eulenspiegel Verlag 2004
Otto Köhler
geboren 10. Januar 1935 in Schweinfurt, ist ein deutscher Journalist und Publizist.
Köhler studierte von 1953 bis 1963 Philosophie, Germanistik, Geschichte und Volkswirtschaft in Würzburg und West-Berlin. Parallel arbeitete er für die „Andere Zeitung“, den „Vorwärts“, „konkret“, den RIAS und „Die Zeit“. Von 1963 bis 1966 war er Redakteur beim Satiremagazin „Pardon“, anschließend bis 1972 Medienkolumnist beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Danach Mitarbeiter beim Magazin „Stern“, der Gewerkschaftszeitung „metall“, dem WDR und wieder bei „konkret“ und der „Zeit.
Heute tätig für die Wochenzeitung „Freitag“ und die Tageszeitung „junge welt“ und die Zweiwochenschrift „Ossietzky“, deren Mitherausgeber er ist.
Köhler lebt bei Hamburg. Seit 1963 ist er mit der Schriftstellerin Monika Köhler verheiratet.
Auszeichnungen
Deutscher Journalistenpreis 1963 für die „Zeit“-Reportage „Würzburg, dein Lied will ich singen“
Deutscher Journalistenpreis 1983 für den „konkret“-Beitrag „IG Farben – Geschichte einer bürgerlichen Vereinigung“
Buchveröffentlichungen:
Kongo-Müller oder Die Freiheit, die wir verteidigen. Frankfurt 1966
…und heute die ganze Welt. Die Geschichte der IG Farben und ihrer Väter. Hamburg 1986
Wir Schreibmaschinentäter. Köln 1989
Die große Enteignung. Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte. München 1994
Unheimliche Publizisten. Die verdrängte Vergangenheit der Medienmacher. München 1995
Rudolf Augstein. Ein Leben für Deutschland. München 2002

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kein Tucholsky heute

1965 war Kurt Tucholsky seit dreißig Jahren tot; er wäre, hätte er sich nicht aus politischem Kummer in Schweden umgebracht, 75 Jahre alt geworden. Er gehörte nicht zu meinen Hausheiligen, aber daß wir, des erheblichen Rangunterschiedes ungeachtet, Wahlverwandte im Geiste waren und sind, will ich nicht bestreiten. Es mag sein, daß es auch von anderen in etwa so gesehen wurde. Jedenfalls konnte ich in den Münchner Kammerspielen an drei aufeinanderfolgenden Tagen über Tucholsky reden; im Februar im Auditorium maximum der Universität Hamburg:
Er konnte gut schreiben. Er konnte sehr gut schreiben. Was heißt das? Was könnte es heißen? Die Sprache ein Stück weiterbringen. Nach Goethe konnte man deutsch nicht mehr so schreiben wie vor Goethe. Nach Nietzsche nicht mehr so wie vor ihm. Nach Thomas Mann nicht mehr so wie nach Nietzsche. Mit diesen Namen sind Quantensprünge unserer Sprachentwicklung in moderner Zeit etwa bezeichnet. Hat Tucholsky in dieser Reihe seinen Platz? Ich glaube: nein. Er hat keine durchaus neue Dimensionen des Sagbaren geschaffen. Wohl aber hat er wie Heine der Sprache Goethens, dem Deutsch des 20. Jahrhunderts einen Dienst geleistet: er hat den lesenden Teil des Volkes auf neuesten Stand gebracht. Unter Verwendung des gerade geschaffenen Instrumentariums der Sprache haben er und Heine so getan, als sei es selbstverständlich, als sei gar nichts dabei, es zu verwenden. Bei Goethe, Nietzsche, Thomas Mann weiß jedes Kind: es handelt sich um Literatur – und das bedeutet, in einem unliterarischen Volk wie dem unseren eine Trennwand aufrichten: hier das Leben, dort der Zauberberg. Hingegen denkt bei Heine oder Tucholsky leicht einer: das kann ich auch. Denkste! Gleichviel, der Irrtum, durch den des Lesers pures Vergnügen seine Ehrfurcht tilgt, setzt ihn, den Leser, instand, seine Gegenwart anzunehmen, und das bedeutet schon mehr als viele erreichen, die sich im Vorgestern integrieren und dabei stehen bleiben. Es ist also, meine ich, Tucholskys Sprachleistung mehr sozialpädagogischer als literarischer Art. Aber auch das ist ja wunderbar und seltsam, weil selten.
Seine Wirkung war lebenslänglich, und bis heute an das Vergnügen gebunden, das er formal dem Leser bereitete. Diese Erkenntnis bereitet ihm Pein.
Nicht nur seine Taten tun nicht Tucholskys Geschäft – dadurch, daß sich seine Gesinnungspredigten so herrlich lasen; dadurch, daß er seine Sprache beherrschte, wurde er in der deutschen Öffentlichkeit zu einer durch und durch unseriösen Erscheinung. Man hätte ihm Rheinsberg und Gripsholm in gutem Deutsch noch hingehen lassen. Daß aber sogar die Sätze, mit denen er den Militarismus kritisierte, fehlerlos und klingend waren, verzieh man ihm nicht.
30 oder 40 Jahre später ist das anders. Jetzt lobt man ihn gerade für die formale Schönheit seiner Bekenntnisse. Um dessentwillen ist er der Wohlstandsgesellschaft teuer, daß er Dinge, die sich inzwischen als zutreffend herausgestellt haben, auch treffend ausdrückte. Auf eine erstaunliche Weise ist er uns teuer geworden. ARGUS, das Ausschnittbüro, vermochte aus Anlaß dieses 75. Geburtstages ein paar hundert Artikel über ihn zu sammeln.
Vom Hamburger Abendblatt bis zum Neuen Deutschland wird Tucholsky gefeiert, jenes ein Hausblatt Springers, dieses ein Hofblatt Ulbrichts. Soviel gesamtdeutsche Einigkeit macht stutzig. Alle, alle loben sie ihn wegen seiner politischen Haltung über den grünen Klee. »Wir dachten daran«, steht im Abendblatt, »wie sehr er unserer Zeit, die so empfindlich gegen Kritik ist, als Wachhund der Freiheit fehlt.« Neues Deutschland aber schreibt: »Tucholsky ist für die heute in Westdeutschland herrschende Klasse so mißliebig wie ehemals.« Geht man davon aus, daß unsere Zeitungsverleger und -redakteure zur herrschenden Klasse gehören, dann muß man sagen: hier irrt Neues Deutschland. Es ist nicht wahr – unsere herrschende Klasse findet Tucholsky einen äußerst liebenswerten Sohn ihres liebenswerten Volkes. Die Öffentliche Meinung ist darüber einer Meinung, repräsentiert von der bürgerlichen Presse eines 52-Millionen-Volkes, die von der Soldatenzeitung bis zum Neuen Vorwärts mit Tucholsky, der kein Marxist, aber entschieden links war, nicht einmal mehr Spurenelemente sozialistischer Ethik und Gesinnung gemeinsam hat. Liegt hier ein Mißverständnis oder tiefere Einsicht vor?
Sagen wir zunächst, daß diese Lobhudelei auf einen ebenso geistig schlichten wie politisch durchsichtigen Schwindel zurückzuführen ist, der seinen verbalen Ausdruck beispielsweise darin findet, daß nicht wenige dieser Erinnerungsaufsätze sich an ein Wort Tucholskys klammern, das da lautet: »es gibt zwei Deutschland, eins ist frei, das andere ist knechtisch.« Diesem empfindlichen Linken wird unterstellt, daß er, lebte er noch, einen anatomischen Schnitt durch deutsche Volksseele entlang der Berliner Mauer gezogen hätte! So daß zum freien Deutschland Barzel, Hassel, Strauß, Adenauer, die Bundeswehr, die heutige Sozialdemokratie, Springer, der Atomminengürtel-Plan und die Spiegel-Justiz zählten, zum unfreien alle jene progressiven Sozialisten der DDR, von denen ich nur deshalb keinen mit Namen nennen möchte, weil das einer Denunziation gleichkäme jenen gegenüber, die natürlich auch Tucholsky zum knechtischen Deutschland gerechnet hätte. Auf so gangsterhafte Weise integriert also eine Gesellschaft, die Tucholsky widerlich fände, wenn er unter uns lebte, einen Mann, der sich dagegen nicht mehr wehren kann. Liest man ihn aber, und glaubt man ihm, was er geschrieben hat, und trotz richtiger Grammatik seiner Aussage sollte man einem Mann glauben, dem die allzu späte Erkenntnis der tatsächlichen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse um 1928 das Leben nicht mehr lebenswert erscheinen ließ – glaubt man ihm, was er über den Militarismus und das Militär, über die Bourgeoisie und den deutschen Machtkoller, über deutsche Justiz und einige andere, durchaus nicht verschwundene Phänomene unsere heutigen politischen Wirklichkeit geschrieben hat – dann dürfte man ihn füglich nicht feiern mit dem Tenor: ach, wäre er doch unter uns. Vielmehr müßte man ihm einen Lebenslauf zubilligen, der, hätte Tucholsky sich nicht umgebracht, etwa so gewesen wäre: 1945 Rückkehr aus Schweden, Mitarbeiter am 3. Programm des Norddeutschen Rundfunks unter englischen Majoren und Axel Eggebrecht, 1959 Feuilletonredakteur am L’Express in Paris, 1960 Herausgeber einer Taschenbuchreihe rororo-aktuell, 1964 Rückkehr nach Schweden, 1965, wer weiß, Selbstmord am Mälarsee.
Aber die Öffentliche Meinung feiert ihn. »Wir können nur feststellen, wie recht diese Kassandra gehabt hat«, schreibt Die Welt. Widerstand mit der Schreibmaschine – Der gar nicht tot zu kriegende Tucholsky – Tucholsky, ein prophetischer Warner – Bürger und Patriot (dies in einem Ost-Berliner Blatt) – Alte Liebe zu Tucholsky – Der das Wort wie den Degen führte – Gegen die Dummheit – Er sah das Unheil kommen – Warum uns Kurt Tucholsky fehlt – Goldenes Herz und eiserne Schnauze – so und ähnlich lauten die Überschriften der Jubiläumsartikel. Der Bürgerschreck als Bürgerliebling. Nur politische Falschmünzerei?
Nein, ich glaube, hier folgt Umwertung der Einsicht, daß dieser Mann unwirksam wäre in unserer Zeit, so daß man frère et cochon mit ihm spielen kann, und gleichzeitig die Politik treiben, die man treibt – rechts von der Mitte, und haargenau mit allen jenen Schwächen, Begierden, Illusionen, Dummheiten und Knechtsallüren, gegen die Tucholsky schrieb. Voltaire war wirklich eine Gefahr für die feudale Ordnung Frankreichs, Gorki für das Zarenreich, vielleicht sogar noch der Simplizissimus für Wilhelm II., Tucholsky aber keine Gefahr mehr für die herrschenden Klassen und die heraufdrängenden Mächte der 20er Jahre.
Warum heute nicht?
Drei der möglichen Gründe möchte ich nennen:
Der politische Kämpfer Tucholsky bediente sich des Mittels der Satire.
Voraussetzung der Wirksamkeit dieses Verfahrens war, daß die Öffentlichkeit die Überhöhung noch wahrnahm, oder anders gesagt: daß die Wirklichkeit dem Satiriker Spielraum zur Übertrei- bung ließ. Dieser Spielraum besteht nicht mehr.
Zweitens; glaube ich, hätte ein Tucholsky heute verspielt, weil seine Sprache, die literarische Sprache überhaupt, kein geeignetes Mittel mehr ist, gesellschaftliche Verhältnisse im direkten Zugriff durchsichtig zu machen. Nicht von ungefähr sind fortschriftliche Schriftsteller, wie sie etwa in der Gruppe 47 zu finden sind, entweder sprachlich ambitiös und dann politisch impotent, oder gesinnungsfreudig und dann formal von gestern. Die Ablenkung auf das absolut Unwesentliche erlaubt, im Wesentlichen unkontrolliert zu finassieren. Wesentliches herauszufinden etwa in bezug auf die Bundeswehr, es wäre nicht mehr Tucholsky-Sache, es war des Spiegels Sache – die er erledigte durch strohtrockene und durchaus kunstlose Information. Und da zeigte sich denn auch, daß das Stachelschwein doch gebissen werden kann. Es schrie auf.
Haben die Kunstsprache und die Gesinnungsbekundung emotionaler Art heute und hier keine politische Kraft mehr, so könnten doch, gäbe es der Tucholskys, die deutschen Zeitungen in wiederum 40 Jahren schreiben: wir waren zwar blöd, aber wir waren nicht alle blöd. Das sagen sie jetzt von dem Zeitraum 1920 – 1933 Tucholskys und anderer wegen, das sagen sie von dem Zeitraum 1933 – 1945, weil es die Weiße Rose gab. Alibis sind eine feine Sache – nur leider für die Vorwärtsverteidigung des Friedens ohne jeden Belang. Ein dritter Gesichtspunkt sei erwähnt: Der Einzelne vermag mit dem Wort ohne Macht überhaupt nichts mehr für oder gegen die Gesellschaft zu tun. Macht sei in doppeltem Sinne verstanden: daß der, der das Wort führt, Macht hat; oder daß das Wort derartig vervielfältigt werden kann, daß es Macht gewinnt.
Hieraus ergibt sich, was noch Wirkung verspricht: die gezielte, massenhaft verbreitete Information – der natürlich der gezielte Kommentar folgen kann. Der Kommentar allein aber reicht nicht mehr. Ein derart düpiertes Volk wie das unsere mißtraut – mit Recht – der bloßen Gesinnungsbekundung gerade dann, wenn sie die Grobheit des Massenhaften annimmt.
Tucholsky wußte immer oder doch meistens, was richtig und was falsch war. Was war, davon hatte er in aller Regel nur eine schattenhafte Ahnung. Wir müssen wissen, was ist – und eben diese Sachverhalte entziehen sich meistens der allgemein verständlichen Mitteilung, und schon ganz und gar der formal verführerischen Mitteilung.
Sie, Studenten dieser Universität, werden früher oder später einen Beruf ausüben, in dem es darauf ankommt, Sachzusammenhänge zu überschauen, Daten zu verarbeiten, Leistungen zu erzielen. Vielleicht werden Sie das großartig machen. Aber wie großartig Ihre Leistung auch sein mag, wie vollkommen Ihre Sachkenntnis – Sie sind nicht sicher davor, ob Sie sich damit nicht im negativen Raum bewegen. Mit einem Wort: es ist ebenso gefährlich, nur Experte zu sein, wie es wirkungslos ist, nur Tucholsky zu sein. Glauben Sie bitte nicht, daß ein gesellschaftlicher Fortschritt möglich sei, solange folgende Arbeitsteilung stattfindet: die einen vermögen das output eines Computers richtig zu entschlüsseln, die andern verstehen davon nichts, wollen aber drüber entscheiden, was das output wert ist für den Menschen. Das aber ist unser gesellschaftlicher Zustand, genau diese Kluft besteht zwischen Handeln und Entscheiden, und deshalb sind unsere Verhältnisse nicht nur unbehaglich, sondern ausgesprochen gefährlich. Die Trennung von Handeln und Gesinnung gibt es in einem ideologisch geschlossenen System nicht, und wenn es dort so wenig Spielraum für verändernde Kräfte gibt, so hat das unter anderem – ich sage unter anderem – auch den Grund, daß die geringste Kraft viel bewirkt. Bei uns aber rennen wir allenthalben an Gummiwände, wir sind von ihnen umgeben, und wenn Sie so wollen: wir leben derart in einer Gummizelle. Das war Tucholskys Lebensgefühl, als er sich umbrachte.
Quellenangabe:
Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Hanser, München 1989 (Lizenzausgabe Volk und Welt, Berlin 1990), S. 285-290

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Das pausenlose Programm

1950 beginnt meine kontinuierliche Mitarbeit an den von Eugen Kogon und Walter Dirks herausgegebenen Frankfurter Heften, die bereits im fünften Jahr erscheinen und es zu hohem Ansehen gebracht hatten. Soweit ich im folgenden aus diesen Beiträgen zitiere, sah ich mich zu extremen Kürzungen veranlaßt; unnötig zu sagen, daß damit in keinem Fall Veränderung der Aussage verbunden ist. Gespräche, die ich in Hamburg beim NWDR geführt hatte, wo einem Kreis von Journalisten Informationen über das in Vorbereitung befindliche Fernsehen vermittelt worden waren, wirkten in mir nach. Spät, aber nun eben doch, machte ich mir Gedanken darüber, daß wir mehr und mehr in einer künstlich hergestellten Schein-Wirklichkeit zu leben verdammt seien. Sie schlugen sich in einem langen, für die Frankfurter Hefte geschriebenen Beitrag nieder, aus dem die folgenden Passagen stammen.
Das Individuum will sich nicht begegnen, und es hat wirksame Mittel gefunden, sich vor sich selbst zu verstecken. Die Furcht vor der Pause ist zum Motor unseres gesamten Lebens geworden. Im Vergleich dazu ist die Furcht vor der Atombombe so gering, daß man sie leicht mit Sehnsucht nach der Atombombe verwechseln könnte. Schließlich ist ja auch die Atombombe für die von ihr Betroffenen ein absolut sicherer Schutz vor Selbsterkenntnis. Die Furcht vor der Pause ist so groß, daß sich eine moderne Verwaltung viel leichter entschließt, die Butterration zu kürzen, als die Unterhaltung einzuschränken. Der Anspruch auf Unterhaltung ist der einzige, der der Masse selbst im Finale der Diktatur nie abgesprochen wurde. Nicht der Rüstung, nicht der Kriegsführung hat die höchste Aufmerksamkeit der Führung, ihre letzte Energie, gegolten, sondern der Aufrechterhaltung der pausenlosen Unterhaltung. Niemand sollte heute glauben, daß sich daran etwas .geändert habe, nur weil die allgemeinen Umstände vorübergehend weniger dramatisch sind. Es ist neuerdings vorgekommen, daß der Radioapparat nicht mehr abgestellt wird, wenn ein Mitglied der Familie stirbt. Die liebevollen Angehörigen beabsichtigen, dem Sterbenden die letzten Stunden leicht zu machen. Mit Unterhaltung meine ich die Summe der Eindrücke und Erlebnisse, deren ein Mensch heutzutage fortwährend – ohne Unterlaß – teilhaftig wird, ohne daß bei ihm individuelles oder spezifisches Bedürfnis danach vorliegt. Seitdem wir eine bestimmte Abart der Unterhaltung, die Propaganda, so gründlich kennengelernt haben und fortwährend neu kennenlernen, sind wir nur zu leicht geneigt, die Wirkungen der unpolitischen, der scheinbar richtungslosen Unterhaltung zu unterschätzen. Sie ist nicht richtungslos, sie ist mit der Unbeirrbarkeit einer Kompaßnadel auf ein Ziel gerichtet: sie zerstört die Kultur.
Es gibt, alles in allem, zwei Methoden, das Verlangen nach Unterhaltung zu befriedigen, und man sollte sich davor hüten, zu meinen, der Unterschied zwischen ihnen sei nur ein äußerlicher: man kann den Konsumenten an den Ort der Unterhaltung verfrachten, oder man kann ihm die Unterhaltung in den Bezirk liefern, darin sich sein alltägliches Leben abspielt.
Die erste Methode ist minder gefährlich als die zweite. Erstens sind selbst einem Volk wie dem unsern, das fortwährend neue Wunder der Organisation vollbringt, dem Zusammentreiben der Massen gewisse technische Grenzen gesetzt. (Was sich hier abspielt, sind moderne Wallfahrten; genau wie die Wallfahrten alten Stils unternimmt man sie, um Kraft zu tanken.) Zweitens ist bei dieser Methode der Kulturverschleiß durch Mißbrauch gering. Drittens aber soll zugestanden sein, daß diese Methode sogar Ansatzpunkte für die Befriedigung echter Bedürfnisse und damit für eine neue Ordnung bietet. Passionsspiele, Bachwochen, selbst Fußballmeisterschaften können gelegentlich die Antwort auf echte Bedürfnisse sein.
Die Verheerungen großen Stils ergeben sich erst bei Anwendung der zweiten Methode, bei der die Unterhaltung frei Haus, frei Lebensbezirk des Individuums geliefert wird. Es handelt sich um nichts Geringeres als um die Aufhebung der Perspektive im Weltbild des Individuums. Es verliert damit seinen sicheren Standort in der Wirklichkeit, es verliert das Unterscheidungsvermögen für das subjektive Wichtige und Unwichtige auf allen Gebieten, auf denen der primitive Selbsterhaltungstrieb nicht mehr wirksam ist. Die Welt ist zum Lieferanten des pausenlosen Programms geworden. Zu seiner Durchführung sind die Bedienungsmannschaften des Apparates gezwungen, immer neue Teilausschnitte der Wirklichkeit so herzurichten, daß sie reproduzierbar werden. Die durch Überdeutlichkeit abgestumpfte Empfindlichkeit des Konsumenten reicht in vielen Fällen in der Tat nicht mehr aus, die Wirklichkeit im Original wahrzunehmen. Es vollzieht sich ganz allgemein eine Verschiebung des Interesses von den Zuständen auf die Vorgänge, denn Zustände sind kaum oder doch nur mit einem viel größeren Aufwand an Scharfsinn zu reproduzieren als Vorgänge.
Der nächste Schritt ist, die Vorgänge so ablaufen zu lassen, daß, was der Reproduktion an Vollständigkeit fehlt durch »Spannung« aufgewogen wird. Der Konsument soll dazu verleitet werden, nicht so genau hinzuschauen oder hinzuhören. Die Vorgänge finden also nicht mehr aus ihrer eigenen Gesetzlichkeit statt, sondern mit einer Tendenz. Die Verlockung ist viel zu groß, sich des »Apparates« mit einer bestimmten politischen und geistigen Tendenz zu bedienen, als daß es bei ästhetischen Fälschungsversuchen bliebe.
Der erste, der mit erstaunlicher Folgerichtigkeit erkannt hat, daß die Reproduktion überhaupt auf Originalereignisse verzichten und die »Wirklichkeit« erfinden kann, ist Goebbels gewesen. Im letzten Kriegsjahr hat das deutsche Volk im wesentlichen in einer Welt gelebt, die aus dem Nichts reproduziert, also produziert war ausschließlich zum Zwecke der Reproduktion. (Nur die Luftangriffe der Alliierten waren original.)
In dieser Richtung wird die Entwicklung weitergehen. Als in diesem Jahre im Oberammergauer Passionsspielhaus die Matthäuspassion aufgeführt wurde, war der erste Teil der ersten Aufführung für die an Ort und Stelle anwesenden Zuhörer so gut wie verloren, weil die Jagdkommandos der Reproduzenten mit ihren Apparaten, Kameras, Tonaufnahmegeräten, Mikrophonen, Scheinwerfern, Blitzlichtanlagen und so fort ständig tätig waren. Irgendwo werden später andere Zuhörer in ihren Zimmern gesessen und dort die Reproduktion der Matthäuspassion mit fein abgestimmten akustischen Valeurs gehört haben. In diesem Falle war das dem Originalereignis beiwohnende Publikum eine Störung für die Reproduktion. Häufiger sind vorläufig noch die Fälle, in denen ein Ausschnitt »Masse« zu Reproduktionsvorgängen eingeladen wird, um durch Lachen und Beifall die Akteure und die Konsumenten in Stimmung zu bringen – diesen dergestalt die Illusion vermittelnd, sie befänden sich in einer Masse, während sie tatsächlich zu Hause sitzen und Gelbe Rüben schaben. Es hat sich aber herausgestellt, daß Lachen und Beifall eines lebendigen Publikums schwerer richtig zu dosieren sind als reproduzierte Beifalls- und Lachstürme, die deshalb im Archiv in allen Schattierungen auf Lager gehalten werden.
Die Reproduktionsapparaturen, Zeitungsfirmen, Filmgesellschaften, Radiosender, Reklamefirmen haben längst eine Größe erreicht, welche die individuelle Initiative lähmt, wenn nicht aufhebt. So wie der Mensch ohne Gewohnheiten nicht zu leben vermöchte, so würden diese Apparaturen ohne Routine zum Stillstand kommen. Man sollte ihnen also nicht ohne weiteres unterstellen, daß sie lügen wollen, – sie müssen lügen. Es gibt nicht so viel Wahrheit in der Welt, um damit ein pausenloses Unterhaltungsprogramm bestreiten zu können.
Eine kluge Beobachterin, die ihre Erfahrungen in Amerika gesammelt hat, wo man alles, was hier angedeutet ist, in viel vollkommenerer Weise bereits erfüllt findet als bei uns, hat die Geschichte vom Weltuntergang geschrieben, der von der Menschheit nicht bemerkt wird, weil sie auf Grund des reproduzierten Weltbildes glaubt, es handle sich nur um einen besonders bösartigen Krieg. Die Apparaturen machen aus dem Weltuntergang die verwerflichen Handlungen des bösen Feindes. Und nur ein Negerstamm im Inneren Afrikas, zu dem die Kunde vom Krieg nicht gedrungen ist, fällt auf die Knie und betet zu Gott, weil er glaubt, die Welt gehe unter.
In dieser Geschichte ist in summa alles enthalten, wovon hier in Andeutungen die Rede war, Das eigentliche Sinnbild unserer Zeit ist nicht der mit hunderttausend brüllenden, gestikulierenden, sich fühlenden Menschen angefüllte Zementtrichter, sondern es ist das Individuum in einer fensterlosen Kammer, vor sich hinstierend auf ein reproduziertes Scheinbild der Welt. Es ist wichtig, zu wissen, daß die Reproduzenten bereits dazu übergegangen sind, spezifische Scheinbilder zu liefern. Man schafft verschiedene »Programme« in Übereinstimmung mit der verschiedenen Aufnahmefähigkeit und dem verschiedenen Geschmack der Konsumenten. Es bedarf nur einer entschlossenen Regierung, um den Spieß umzukehren und Empfangsgeräte zu schaffen, die auf ein bestimmtes Programm geeicht sind. Es werden Gesetze erlassen werden, welche den Kauf dieser Geräte von bestimmten Voraussetzungen abhängig machen. Das ist die Stufe der Entwicklung, auf der die Gefahr völlig ausgeschaltet ist, das Individuum könnte sich selbst begegnen; denn es hat keinen Anlaß mehr, über irgend etwas zu staunen.
Quellenangabe:
Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Hanser, München 1989 (Lizenzausgabe Volk und Welt, Berlin 1990), S. 83-86

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Ich über mich

Mit dem Schreiben zu dem Zweck, etwas mitzuteilen, begann ich als Sechsjähriger, als eine ausnehmend schöne Dame im Ersten Weltkrieg für ein paar Wochen auf unseren Einödhof gekommen war, um sich satt zu essen, freundschaftlich aufgenommen von meiner Mutter, die das Anwesen mit einem Dutzend »Mägden« und »Knechten« führte, indes der Vater irgendwo an der Westfront seit August 1914 mit Feldgeschützen die Franzosen ärgerte, so daß er im Kriegsjahr 1916 jene schöne Dame nicht erlebte, welche die allzu junge Witwe eines damals sehr bekannten Schriftstellers namens Otto Julius Bierbaum war, von ihm aus Florenz mitgebracht und geehelicht, was einen Schwarm Münchner Künstler nicht hinderte, sie zu umgarnen, in Öl zu malen, zu zeichnen, woraus hervorgeht, daß ich, das Kind, nicht übermäßig originell war, als ich ihr in einem Brieflein schrieb, ich wünschte, sie bliebe ganz bei uns, wie ich von meiner Mutter später erfuhr, als wir den Hof im letzten Kriegsjahr bereits verlassen hatten (törichterweise!), der so weit ab von der nächsten Volksschule lag und liegt, daß mir der Weg dorthin, ein Fußpfad durchs Blumenparadies eines Hochmoores nicht zugemutet wurde, vielmehr ein Fräulein Hagen mir das Lesen, das Schreiben und das Kleine Einmaleins beibrachte, dergestalt der Hof, Wohnhaus, Stall, »Leutehaus«, die riesige Scheune mit der steilen Auffahrt, meine Welt war, dazu all die Tiere, angefangen mit dem großmächtigen, am Nasenring aus dem Stall herausgeführten Stier bis zu den Stallhasen, die der Vater als Kriegsbeute aus Belgien in einem von zwei Urlauben mitgebracht hatte, die ihm in vier Jahren genehmigt worden waren, so daß er für mich, als er dann wieder bei uns blieb, ein ziemlich fremder Herr war, von dem ich erfuhr, wir hätten den Krieg nicht verloren, was ich ihm schon nicht mehr glaubte, sondern frühzeitig begann, mich zum schwarzen Schaf der Familie zu entwickeln, zu einem Sohn, der nur geringes Interesse bekundete, als der Vater nach dem Umzug in das nächste Kreisstädtchen – wo er eine weit kleinere Landwirtschaft erstand und betrieb – auf lokaler Ebene eine paramilitärische Organisation aufbaute, Einwohnerwehr genannt, deren Mannschaften in der nahen »Schießstätte« Schützenfeste veranstalteten, die eigentlich Schießübungen waren, und eines Tages der Vater in unserem Obstgarten sogar mit Ludendorff auf und ab ging, kurz vor dem Hitler-Putsch vom November 1923, der der »Einwohnerwehr« ein Ende setzte, so daß auch das Waffenlager in einem unserer Heustadel draußen im »Moos« beim Torfstich verschwand, das mir nicht entgangen war, und samt dem ganzen deutschnationalen, nicht eigentlich nationalsozialistischen Klimbim sicher dazu beigetragen hat, daß es der Leser mit einem Buch zu tun bekommen wird, einer Art subjektiver Zeitchronik, die gewisser autobiographischer Streiflichter nicht völlig entraten kann, geschrieben von einem, dem eigentlich lebenslänglich an dem Volk, dem er nun einmal zugehört, mehr mißfallen als gefallen hat, zumal er dieses sein Volk einen ganzen Weltkrieg lang, den zweiten, erlebt hatte als Soldat, wovon ein Buch Zeugnis ablegt, das nicht am Schreibtisch entstanden ist, sondern zwischen dem Dnjepr und der Bretagne, 1975 vorgelegt als Mein Krieg, bemerkt von hundert Kritikern, von denen einer schrieb, dieser Soldat E.K. habe 2919 Tage und Nächte lang aufgeschrieben, in was er selbst aufs engste verwickelt gewesen sei, mache aber den Eindruck, als sei er gar nicht derjenige, der das alles erlebt und mitgemacht habe – was mich davor bewahrte oder dazu verurteilte, nichts zu glauben, was geglaubt wurde von der jeweiligen Mehrheit, nichts zu erhoffen von dem, worauf sie hoffte, nicht zu fürchten, vielmehr eher zu ersehnen, was sie fürchtete, wovon eine Lebenshaltung bestimmt wurde – eine Lebenshaltung, die ihre Tücken im privaten zwischenmenschlichen Umgang hat, der Ausübung des journalistischen Handwerks jedoch durchaus zuträglich ist, und damit möge es sein Bewenden haben hinsichtlich der Bestimmung meiner Umweltbeziehung, in moralische Irrgärten sei nicht hineingewildert, der Frage, wie Gesinnung entsteht, nicht weiter nachgegangen und nur hervorgehoben, daß eine linke politische Einschulung nicht stattgefunden hat, Marx mir auf keiner Lebensstufe zum Guru geworden ist, ersetzt wurde durch die Lehren der Wirklichkeit, die so wenig dazu angetan waren und sind, Wohlwollen zu wecken für unsere deutsche Wirklichkeit, 12 Jahre lang pervertiert zur Weltvernichtungspraxis, bis ich im Juni 1945, nach kurzer amerikanischer Gefangenschaft in Frankreich, mit nunmehr 35 Jahren anfangen konnte (und mußte), zu überlegen, was ich aus meinem Leben eigentlich machen wollte. 1947 wußte ich es. Ich wurde kein Schreiber, sondern ein Aufschreiber, und ich begehre, schuld daran zu sein.

München, Venedig, im Sommer 1989

Quellenangabe:
Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Hanser, München 1989 (Lizenzausgabe Volk und Welt, Berlin 1990), S. 7-8

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Laudatio für Erich Kuby zur Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises

Laudatio für Erich Kubys Tucholsky-Preis
Der Tucholsky-Preis an Erich Kuby? Lieber so spät als nie, dachte ich, als mich die Nachricht von dieser spontanen Jury-Entscheidung erreichte. Kuby gehört nicht zu jenen, die man in Deutschland mit Auszeichnungen bedenkt, und als die Stadt München ihm 1992 schließlich doch ihren Publizistikpreis zuerkannte, kommentierte der immerhin 82-Jährige: »Da hat man die Katze grad noch beim Schwanz erwischt«.
Nun also dieser Tucholsky-Preis, den er nicht mehr entgegennehmen kann, was uns heute um das Vergnügen bringt, seine Dankesrede zu hören; Kuby war nämlich ein begnadeter Redner.
Nicht nur das Redetalent verband ihn mit Tucholsky, wie jener war er ein schier unermüdlicher Journalist, der unter vielen Pseudonymen (zum Beispiel Alexander Parlach, Georg Neufforge, Wendulin) um der »Wahrheit« willen schrieb, der sagen wollte »wie es ist«. Er las Tucholsky noch in den Weimarer Jahren aus bayrischer Ferne und begann zu schreiben, als jener Anfang der dreißiger Jahre schon ein »aufgehörter Schriftsteller« und ein »aufgehörter Deutscher« war: erst nach dem Kriege aber publizierte er bisher ungezählte Aufsätze, Feuilletons, Reportagen, Glossen, Kommentare, Leitartikel, Kritiken, neben Features, Hörspielen, Drehbüchern und schließlich über dreißig Bücher. Die Anthologie Mein ärgerliches Vaterland (1989) vermittelt eine Ahnung von der Vielfalt seiner Schreibanlässe und Themen.
Wie Tucholsky »hasste« er im besonderen: das Militär, die Vereinsmeierei, Lärm und Geräusch und das nationalistische »D/Teutschland«.
Wenn er auch nicht im existentiellen Sinne unter Deutschland gelitten hat wie Tucholsky bis hin zum Tode, so war es doch aber das eigentliche Thema all seines Schreibens, er stritt und schrieb für ein anderes Deutschland, das nach 1945 einen anderen, einen »unteren« Weg hätte einschlagen können, der nicht schnurstracks in die Nato und den Kalten Krieg hätte führen müssen. Auch seine Studien und Bücher zu den italienisch-deutschen und polnisch-deutschen Beziehungen wollten die Deutschen »aufklären«.
Kuby hat sich sein Leben lang mit nichts anderem als mit diesem Land beschäftigt.
Da war er nicht allein, natürlich gab es in einem kleinen Land wie dem unseren noch andere, die aufklären wollten; es lassen sich allerlei Verbindungen ziehen: zum Beispiel zu Friedrich Sieburg, auch einer, der unter Deutschland gelitten und immer wieder darüber geschrieben hat. Er kam von der Weltbühne und war viele Jahre Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris und Autor des berühmten Buches Gott in Frankreich?; er war in den zwanziger und den ersten dreißiger Jahren mit Tucholsky befreundet – es gibt da allerlei anrührende Familien-Ausflugsphotos und Briefe. Tucholsky und andere Emigranten taten sich nach 1933 mit einem wie Sieburg, der deutscher Korrespondent blieb, natürlich schwer. Aber Sieburg hatte es auch mit Deutschland schwer: Bald nach Hitlers Regierungsübernahme schrieb in der Frankfurter Zeitung, das ging damals noch, nun komme er in eine schwierige Situation, weil er sein Land draußen gegen vieles in Schutz nehmen müsse, was er im Grunde nicht verteidigen wolle. Das hat seiner Beziehung zu den Emigranten am Ende natürlich nicht geholfen, weil er sich, ein Nationaler, von seinem Lande trotz Hitler nicht trennen mochte. Vor 1933 hatte er Hitlers Regierungsübernahme als Kostgänger Schleichers zu verhindern gesucht – und ist dann später, zur Zeit der deutschen Besatzung als Botschaftsrat in Paris doch noch ausgerutscht. Ich spreche von ihm nicht nur, weil sein Leben, seine unentschiedene Entscheidung besonders exemplarisch waren, sondern weil er es auch mit Tucholsky zu tun hatte – und er später meine Mutter heiratete, mein letzter Stiefvater war.
Ich erwähne diese seltsame Querverbindung in einem unglücklichen, kranken Land – und das ist es bis heute geblieben -, weil ich dem Erich Kuby schon begegnete, als Sieburg noch lebte – der starb 1964 -, aber ich wollte Ihnen nicht verschweigen, mit welch Seltsamem wir uns kannten, allmählich miteinander befreundet waren und uns immer wieder sahen, in Hamburg, in München, in Venedig, und auch mit Susanna und Daniel zu einem Weihnachten bei uns in Cortona.
Natürlich hatte ich Kuby schon viele Jahre gelesen, aber 1962 kam er zum Stern, dessen – freier – Redaktionsanwalt ich damals und bis zu den trostlosen Hitler-Tagebüchern 1983 war, über die und deren Hintergründe keiner so gnadenlos und richtig wie Kuby geschrieben hat. Ich habe damals meinen Beratungsvertrag gekündigt.
1962 war das Jahr der Spiegel-Affäre, als Augstein und Ahlers wegen angeblichen Landesverrats verhaftet und eingesperrt und die Redaktion – damals noch wie Zeit und Stern – im Pressehaus in Hamburg – durchsucht und auf den Kopf gestellt wurden. Man erinnere sich bitte des Aufschreis, der damals nicht gerade durchs ganze Land, aber doch durch die Medien und die Politik ging. Man erinnere sich des – allerdings vergleichsweise geringeren – Aufsehens, das 1970 bis 1976 unser Münchener Prozess der CSU gegen den Stern machte, als es um die CSU-Spielbanken-Affäre ging – wir hatten Körbe voller Zeitungsmeldungen und Kommentare – und als es später, in den achtziger Jahren in München vor Gericht darum ging, dass der Stern behauptet hatte, der bayerische Minister Gerold Tandler habe sich mit einem gefälschten Dokument ein Grundstück aus einem Nachlass herausgeholt, hat schon kaum noch einer zugehört, geschweige denn wie früher darüber geschrieben, aber – ungedruckt – gesagt, so sei das eben in unserem Lande. Die wahrhaft letzte Aufregung war die Neue-Heimat-Affäre – und auch das ist schon viele, viele Jahre her.
Wenn Innenminister Schily heuer veranlasst, die Cicero-Redaktion zu durchsuchen, hören in diesem Lande allmählich wieder ein paar mehr Leute hin, da wird ein wenig berichtet, wie sich’s heuer gehört – aber regen sich etwa wirklich viel im Lande darüber auf, geht einer auf die Straße, um zu demonstrieren oder gar eine Fensterscheibe einzuschlagen, weil unsere Freiheit vernichtet und jeder eingeschüchtert werden soll? Wie abgestumpft und ängstlich sind nun sogar schon die Journalisten dieses Landes? Was muss passieren, damit sich noch einer aufregt wie Kurt Tucholsky oder Erich Kuby, der 1963 zur Spiegel-Affäre schrieb: »Das Volk ist in keiner Weise aufgestanden, da mache man sich nichts vor«? Sieburg schrieb gleich 1962 einen FAZ-Leitartikel, in dem es hieß: »Der Zauber ist gebrochen, oh, nicht für immer; die selbstzufriedene Stimmung in der Bundesrepublik wird sich schon wieder einstellen.« So recht hatten sie wohl beide nicht haben mögen.
Gibt es solche archaischen Typen überhaupt noch? Und hört noch einer zu? Damit sich etwas ändert? Damit nicht alles in den Graben geht? Wer will noch schreien und gehört werden, damit wenigstens das meiste so bleibt, wie es ist, damit’s nicht noch schlimmer wird? Mehr kann der Journalismus ohnehin kaum je ausrichten. Wenig genug ist es allemal. Mit gutem Grund hatte Kuby 1957 seinem Buch Das ist des Deutschen Vaterland diesen Wortwechsel von Bert Brecht vorausgeschickt:
»Sagredo: Galilei, du sollst Dich beruhigen!
Galilei: Sagredo, du sollst Dich aufregen.«
Friedrich Sieburg besprach das Kuby-Buch in der FAZ voller Achtung, war aber damals, eben 1957, von der Wirkung des »Donnerkeils« der Kubyschen »massiven Polemik« nicht überzeugt: »Die bundesdeutsche Gegenwart ist an polemischen Unternehmungen nicht reich, einmal, weil unserer Publizistik das Talent dazu abgeht, zum anderen aber, weil die totale Wirkungslosigkeit von vornherein feststeht. Der Polemiker mag schreiben, was er will, niemand, der an der Macht beteiligt ist, wird auf ihn hören, es sei denn, dass ›Unannehmlichkeiten‹ zu befürchten seien.« Aber das war der Blick aus den verschlafenen fünfziger Jahren. Mit der Spiegel-Affäre 1962 hat sich dann schon einiges verändert – Strauß musste damals zurücktreten – sonst wäre er am Ende Bundeskanzler geworden -, später, 1978 auch Filbinger – sonst wäre der wohl Bundespräsident geworden!
Man soll ja vor allem als einer der Alten nie sagen, früher sei alles besser gewesen. Aber eines war wirklich besser: es gab in den sechziger und siebziger Jahren keine oder kaum Arbeitslose – und das machte die Menschen freier, offener, sie hatten weniger Angst und wagten mehr – und in so einem Kreis fühlte sich einer wie Erich Kuby naturgemäß wohler. Kommt man heute in Redaktionen, herrscht Angst; Angepasstheit und Mittelmaß sind erschreckend. Fast alle fürchten, ihren Job zu verlieren, weil es hunderte gibt, die ihn gern hätten und bereit sind, ohne zu maulen oder gar aufzubegehren zu arbeiten – so wie es von oben gewünscht wird.
Sieburg ernannte Kuby in einer Rezension zum »Bundesnonkonformisten« – und das ist er auch geblieben. Kuby hatte wahrlich bessere journalistische Zeiten als wir sie heute vorfinden – und er hatte bessere Nerven, er nahm sich Freiheit, die freilich auch etwas mit seiner privilegierten Herkunft und seinem eigenwilligen, unbürgerlichen Leben zu tun hatten, über das man in seinem Buch Lauter Patrioten – Eine deutsche Familiengeschichte 1800-2000 viel erfährt. Wer sich traut, über seine Familie zu schreiben, der gibt sich Blößen, die, auch wenn er sie zu verbergen sucht, mehr über ihn aussagen, als ihm lieb ist. Bei Erich Kuby war das schon immer anders: Er hat sich getraut und nie gescheut, etwas von sich preiszugeben; er ist dem Leser als »Kassandra vom Dienst« mit bedingungsloser Opposition auf den Leib gerückt, indem er direkt und – wie Tucholsky – unideologisch alles aussprach, was Leser weder hören noch gar zugeben mochten. Das dokumentiert sich besonders deutlich in seinem Buch Mein Krieg aus dem Jahre 1975, das in Tagebuchaufzeichnungen schildert, wie er den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, als ewiger Gefreiter, ab September 1944 als Kriegsgefangener, immer begleitet von seiner Schreibmaschine, auf der er jeden Tag und in jeder Situation schrieb.
Kuby kam aus einer bürgerlichen Familie, in der Intellektuelle allerdings nicht vorkamen, wohl aber Metzger, Reeder, Bankiers, Weinhändler, Beamte, Richter und Ärzte. Kubys Vater hatte sich 1901 ein Gut in Westpreußen gekauft, nach einem Jahr aber schon alles verwirtschaftet. Er zog nach München zurück und wollte seine Stimme ausbilden lassen. Dort traf er Dora Süßkind, eine Opernsängerin. 1910 kam Sohn Erich zur Welt. Ab 1913 lebte die Familie im bayerischen Voralpenland, wo sein Vater ein Gut übernahm. Im Jahr darauf zog er mit all den patriotischen Bürgern, die sich nicht vorstellen konnten, dass »da oben« etwas nicht stimmte, in den Krieg. Als er zurückkehrte glaubte er an den »Dolchstoß« und nahm Erich 1923 zu dem im Weilheimer Bezirksamt festgesetzten Hitler mit, sprach mit seinem darob verstörten Sohn indessen nie darüber. Der bekam bei einem jüdischen Gymnasiallehrer indes anderen, wirksamen Unterricht: »Sie machen Hitler zu groß, sagte Lamm (der Lehrer). Solche Hitlers haben auch andere Völker, aber sie bleiben Randfiguren. Hier nicht. Er erzieht nicht das Volk, das Volk hat ihn erfunden. Haben Sie mir nicht gesagt, Ihr Vater habe noch im Sommer 1918 den Krieg nicht für verloren gehalten? Verrückt? Keine Spur, ein ganz normaler Deutscher.« Das konnte Erich Kuby nicht vergessen.
Er studierte Volkswirtschaft, wurde Werfthilfsarbeiter bei Blohm & Voss in Hamburg und schrieb seine ersten Texte über die Arbeitswelt, die er dort erlebte. 1933 forderte ihn seine jüdische Freundin auf, mit ihr das Land zu verlassen. Das tat er zwar, per Fahrrad, kehrte aber schon nach wenigen Monaten zurück: »Ich wollte nicht nur aus der Ferne an der Entwicklung teilnehmen, ich wollte dem Selbstfindungsprozess meines Volkes, der ein Fäulnisprozess gewesen ist, nahe sein, ihn riechen und schmecken.« 1938 heiratete er die Tochter des Berliner Nationalökonomen Hermann Schumacher, des Gegenspielers von Werner Sombart, nachdem er 1936 in Berlin begonnen hatte, für den Scherl-Verlag zu arbeiten. Die Schwester seiner Frau war mit dem Physiker Werner Heisenberg verheiratet. Kuby war überzeugt, die Einberufung zur Wehrmacht sei für ihn selber gerade im rechten Moment gekommen – er wollte sich die Hände nicht schmutzig machen, und im zivilen Leben hätte er sich nicht länger tarnen können.
Nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft arbeitete er zunächst als Berater der »Information Control Division« in München, zuständig für die Lizenzvergabe. 1947 wurde er Chefredakteur der legendären Zeitschrift Der Ruf, nachdem die US-Militärregierung die ersten Herausgeber Alfred Andersch und Hans Werner Richter abgesetzt hatte. Aber Kuby teilte bald das Schicksal seiner Vorgänger: Schon nach einem Jahr wurde er gefeuert, weil er Texte und vor allem einen Leserbrief veröffentlicht hatte, die den Lizenzträgern gar nicht gefielen, so dass sie, wie Kuby schreibt, »mit der Absicht umgingen, jemand für den Ruf zu finden, der ihrer stinkbürgerlichen Gesinnung eher entsprach«. So kam Erich Kuby zur Süddeutschen Zeitung, wo er unablässig und erbittert gegen die Wiederbewaffnung und die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen wetterte.
Wirklich richtig berühmt wurde Kuby 1958 durch seine Idee und das Drehbuch für den Film Rosemarie, des deutschen Wunders liebstes Kind, den Rolf Thiele mit Nadja Tiller drehte. Der daraus entstandene Roman wurde in siebzehn Sprachen übersetzt – damit wurde Kuby der Émile Zola der deutschen Wirtschaftswunderjahre, denn er schilderte die Bundesrepublik der Mittfünfziger Jahre so gnadenlos, dass einem der Geschmack an CDU, Wirtschaftswunder und dem »Wir sind wieder wer« vollends verging – und man sich fragte: Waren wir je »wer« oder haben wir in den beiden Weltkriegen nur unsere nicht enden wollenden Minderwertigkeitskomplexe überkompensiert, weil wir es in bald dreihundert Jahren zu nichts mehr gebracht hatten? Das merke ich jetzt besonders eindrucksvoll, seit ich in London lebe und täglich spüre, wie viel angenehmer und beruhigender es ist, dreihundert Jahre die Welt regiert zu haben als in einem Jahrhundert zwei Weltkriege anzufangen – und verloren zu haben.
In jenem Jahr, 1958, landete Kuby, dessen journalistische Unabhängigkeit sich durch die Jahrzehnte erweisen sollte, für eine Weile bei der Welt, verließ sie aber bald wieder, nachdem sich das Blatt, ja der ganze Verlag nach Axel Springers und Hans Zehrers Moskau-Reise in eine Kampftruppe des Kalten Krieges verwandelt hatten. 1962, ich erwähnte es schon, kam Kuby zum Stern, wo er aber auch seine Probleme hatte: Als Chefredakteur Henri Nannen 1964 Franz Josef Strauß eine vierzehntägige Kolumne angeboten hatte, schmiss Kuby alles hin und ging zum Spiegel, kam aber nach anderthalb Jahren wieder zum Stern zurück.
Und er schrieb ein Buch nach dem anderen, vor allem eines, das auch sein privates Leben veränderte: Für den Stern recherchierte er Ende der siebziger Jahre, wie die Deutschen nach dem Badoglio-Putsch 1943 in Italien gehaust hatten. Da er kein Italienisch sprach und der wissenschaftlichen Assistenz bedurfte, suchte und fand er die Mitarbeit einer jungen, in Italien lebenden Germanistin, Susanna Böhme. Der Stern druckte die Italien-Geschichte nicht. Kuby schied endgültig aus der Redaktion aus und war mit 70 Jahren wieder ein freier Mann, dessen »Schreibmaschine überall stehen konnte«, wie er es ausdrückte. Geblieben sind ihm aus dieser umfangreichen Arbeit das sehr erfolgreiche und für die Deutschen gar nicht angenehme Buch Verrat auf deutsch – wie das Dritte Reich Italien ruinierte, und Susanna, die dann seine zweite Frau wurde und mit der er 1982 noch einen Sohn, Daniel, hatte, sein sechstes Kind. Bücher halten ja sehr lange, aber entgegen der Erwartung mancher hielt auch diese Ehe – bis zu seinem Tod.
Kuby lebte mit Frau und Sohn in Venedig, in einer Ecke, die von Touristen nicht überschwemmt wird – und dort schrieb er bis in die neunziger Jahre hinein Bücher, fast jedes Jahr eins, die längst nicht alle so wahrgenommen worden sind, wie sie es verdient hätten, ich denke nur an seine Warnungen in Bezug auf den Preis der Einheit (1990) oder Deutsche Perspektiven (1992). Seit 1993 schrieb er dann noch 10 Jahre lang für den Freitag, dessen Mit-Herausgeber der im vergangenen Jahr zu früh und unersetzlich gestorbene Günter Gaus war. Der »Zeitungsleser« Kuby faxte damals eine wöchentliche Presseschelte aus Venedig nach Berlin, die seine nach wie vor unbestechliche Urteilskraft dokumentierten. Tempi passati.
Man muss ja nicht gleich Ernst Jünger übertreffen – in gar keiner Hinsicht. Aber Erich Kuby hätte es zeitlich beinahe schaffen können, er hat bis zum Schluss noch gemalt, eine Tätigkeit, die ihn – wie sein Musizieren – lebenslang begleitet hat. Wir werden ja allmählich fast alle viel zu alt – aber den Erich Kuby hätten wir dennoch gerne noch eine Weile unter uns gehabt. Dann hätte er sich auch über diesen Preis freuen können.
Als wir noch jünger starben, gab’s ein paar Alte, die über die Vergangenheit sagen konnten, was sie wollten, weil keiner mehr da war, der hätte widersprechen können. Kuby hätte sich das mit seinen 95 Jahren auch leisten können, aber was hätte er erfinden sollen, was er nicht schon formuliert hatte? Vor allem nichts, um sich nach vorne zu lügen und Aufmerksamkeit zu bekommen – die war ihm ohnehin sicher.
Manche, gar viele, die nicht wissen, wovon sie reden, manche, die nicht richtig lesen können, hielten und halten Kuby für einen Linksintellektuellen, gar für einen Kommunisten. Er war hingegen ein freier, unabhängiger Mensch, fern aller Ideologie, auch darin Tucholsky vergleichbar, der sich, diesen paraphrasierend, als »Anti-Antikommunisten« hätte bezeichnen können. Beide nahmen sich immer das Recht, ihre Meinung zu sagen, auch wenn sie in kein Schema passte – und danach auch zu handeln: zum Beispiel in den endsechziger Jahren einen Hamburger Studenten-Revoluzzer wochenlang in Kubys Wohnung in der Parkallee unterzubringen, weil er vom Staatsschutz gesucht wurde. Weil er Unabhängigkeit – in seinem journalistischen Leben, wie im Privaten – dokumentierte, die manche fast wie Arroganz anmutete, haben ihn nicht wenige angefeindet, fast gehasst – und doch auch beneidet und respektiert. Er hat sich nie auf faule Kompromisse eingelassen.
Vor allem nicht auf die Verdrängung und Verharmlosung der Nazizeit, die doch in Wahrheit die Zeit der größten deutschen Selbstverwirklichung war, wie er nicht nur einmal formulierte. Nach 1945 aber »sind sie aus ihrer Geschichte ausgestiegen, haben aufgehört ein Volk zu sein. Tagtäglich werden wir Zeugen hilfloser Bemühungen, aus einer gestaltlosen, kulturlosen, demoralisierten Masse wieder ein Volk zu machen, als ließe sich das mit Feuilletons, Büchern und Ministerreden bewerkstelligen und von einer politischen Klasse, die mit nichts anderem beschäftigt ist, als die nächsten Wahlen zu gewinnen«, schrieb er 1996 am Schluss von Lauter Patrioten.
Wir ehren hier und heute einen Widerspenstigen, einen Aufsässigen, einen Herren, der nie wegschaute, sondern immer alles aufschrieb, was er gesehen hatte, gleichgültig, ob es ihm, seiner Redaktion oder seinen Lesern gefiel. Er war unbarmherzig auch mit sich, wenn er formulierte – und er fand bis zum Schluss immer wieder jemanden, der ihn druckte. Kuby war nicht etwa kompromissunfähig, aber er hatte instinktiv sichere Grenzen, die er nicht zu überschreiten bereit war; dann ging er sofort. Deshalb ist er auch der richtige Preisträger für Tucholsky – das sind zwei, die zusammenpassen. Es wird schwer werden, in Zukunft einen zu finden, der da mithalten kann.

Heinrich Senfft

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kurt-Tucholsky-Preis an Erich Kuby

Die Jury des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik verleiht den Preis im Jahr 2005 an Erich Kuby.
Aus der Begründung der Jury:

„Die Jury ehrt damit das Lebenswerk eines leidenschaftlichen, zornigen, klarsichtigen Journalisten und Schriftstellers. Erich Kuby hat gegen die personellen und strukturellen Erbschaften des Nationalsozialismus geschrieben; er war ein unnachsichtiger Beobachter der Schattenseiten des Wirtschaftswunders und der Wirtschaftsmacht. Seine Schärfe und Lakonie speisten sich aus dem Leiden an Deutschland, seine Energie und sein Humor aus der Liebe zu dessen besten Traditionen. Kuby war ein unabhängiger Geist, erfolgreich, aber nicht zu vereinnahmen. Er war so frei zu gehen, wenn er nicht schreiben durfte, was er erfahren hatte. Bis zu seinem Tod war er ein aufmerksamer, gelegentlich bitterer Kritiker eines vom Markt ausgedünnten, von Interessen zensierten und neugierlosen Journalismus.“

Die Jury entschied einstimmig. Ihr gehörten an: Volker Braun, Daniela Dahn, Mathias Greffrath und Jan Eik.
Erich Kuby
geboren am 28. Juni 1910 in Baden-Baden, gestorben am 10. September 2005 in Venedig.
Der im September 2005 im Alter von 95 Jahren gestorbene Journalist und Schriftsteller Erich Kuby galt vielen als die letzte große Figur des deutschen Nachkriegsjournalismus. Kubys journalistische Karriere hatte 1947 begonnen, als er von der amerikanischen Besatzungsbehörde zum Chefredakteur der Zeitschrift „Der Ruf“ bestimmt worden war. Vom „Ruf“ gelangte er über die „Süddeutsche Zeitung“ und die „Welt“ zu den Magazinen „Stern“ und „Der Spiegel“. Großen Erfolg hatte er gegen Ende der fünfziger Jahre mit Buch und Drehbuch über den Fall der ermordeten Prostituierten Rosemarie Nitribitt. In seiner scharfen und unnachsichtigen Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungen schreckte er auch vor Zerwürfnissen mit seinen Verlegern nicht zurück, was jeweils zum Abschied beim „Stern“ und „Spiegel“ führte. Im Zweifel schätzte er seine persönliche Unabhängigkeit höher als die berufliche Karriere ein. Seine Gesellschaftskritik trug ihm von Seiten Heinrich Bölls den Titel „Netzbeschmutzer von Rang“ ein. Der Journalist Friedrich Sieburg bezeichnete ihn als „Bundesnonkonformisten“.
Aus seiner ersten Ehe mit Edith Schumacher (bis 1971) gingen fünf Kinder hervor. Von 1982 an lebte Erich Kuby mit seiner Frau Susanna Böhme-Kuby und ihrem gemeinsamen Sohn in Venedig. Bis 2003 begleitete er noch in der „Freitag“-Kolumne „Der Zeitungsleser“ die politische Entwicklung.
Erich Kuby erhält den Tucholsky-Preis 2005 postum für Gesamtwerk.
Anmerkung: Erich Kubys Ehefrau Susanna Böhme-Kuby, die ebenfalls als Jurorin des Tucholsky-Preises nominiert ist, hatte aufgrund des Todesfalles darum gebeten, sie in diesem Jahr aus der Jury-Arbeit zu entlassen. Sie war daher an der Entscheidungsfindung nicht beteiligt. Ebenfalls hat Susanna Böhme-Kuby auf eine Auszahlung des Preisgeldes verzichtet, das somit für die kommende Preisvergabe wieder zur Verfügung steht.
Laudatio:
Die Laudatio von Heinrich Senfft
Textauswahl:
(bei der Preisverleihung vorgetragen)
Ich über mich (1989)
Das pausenlose Programm (1950)
Kein Tucholsky heute (1965)
Veröffentlichungen:
(A. P.) Demidoff oder von der Unverletzlichkeit des Menschen. München 1947
Das Ende des Schreckens. Dokumente des Untergangs im Januar/Mai 1945. München 1955
Das ist des Deutschen Vaterland – 70 Millionen in zwei Wartesälen. Stuttgart 1957
Rosemarie, des deutschen Wunders liebstes Kind. Stuttgart 1958
Nur noch rauchende Trümmer. Das Ende der Festung Brest. Reinbek 1959
Alles im Eimer. Siegt Hitler bei Bonn? Ein politischer Monolog 1944–1960. Stuttgart 1960
Sieg! Sieg! Reinbek 1961
Im Fibag-Wahn. Oder: Sein Freund, der Herr Minister. Reinbek 1962
Richard Wagner & Co. Zum 150. Geburtstag des Meisters. Hamburg 1963
Franz Josef Strauß. Ein Typus unserer Zeit. Wien, München 1963
Die Russen in Berlin 1945, München 1965
Die deutsche Angst. Zur Rechtsdrift in der Bundesrepublik Deutschland. Bern, München 1970
Mein Krieg. Aufzeichnungen aus 2129 Tagen. München 1975
Verrat auf deutsch. Wie das Dritte Reich Italien ruinierte. Hamburg 1982
Die Deutschen in Amerika. Von den ersten Siedlern bis heute. München 1983
Der Fall »Stern« und die Folgen. Hamburg 1983
Aus schöner Zeit. Vom Carepaket zur Nachrüstung: Der kurze deutsche Urlaub. Hamburg 1984
Als Polen deutsch war 1939-1945. München 1986
Oh Ludwig. Imaginäre Rede an König Ludwig II. München 1986
Der Spiegel im Spiegel. Das deutsche Nachrichten-Magazin. München 1987
Deutsche Schattenspiele. München 1988
Mein ärgerliches Vaterland. München 1989
Der Preis der Einheit. Ein deutsches Europa formt sein Gesicht. Hamburg 1990
Deutsche Perspektiven. Hamburg 1993
Lauter Patrioten. Eine deutsche Familiengeschichte. München 1996
Der Zeitungsleser. In Wochenschritten durch die politische Landschaft 1993-1995. Hamburg 1996
Links:
Biographie Erich Kubys in der Wikipedia
Nachruf von Otto Köhler im „Freitag“
Peter O. Chotjewitz zum 95. Geburtstag Kubys im „Freitag“
Nachruf von Heinrich Senfft in der „taz“
Erich Kubys Werke im Katalog der „Deutschen Bibliothek“

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Dankesworte anläßlich der Entgegennahme des Kurt Tucholsky-Preises für literarische Publizistik

Ganz herzlichen Dank, lieber Egon Bahr für diese mich sehr berührende und ermutigende Laudatio. Ich danke den Schöpfern des Kabarettprogramms, Volker Kühn und seinen Schauspielern, ich danke der Jury und meinem Verlag, der ja auch Tucholskys war, und allen hinter und vor der Bühne, die Sie heute gekommen sind, um gemeinsam das Erbe des polemischsten deutschen Dichters dieses Jahrhunderts hochzuhalten.
Wie beschreibt man seine Freude und seinen Stolz, in auch nur irgend eine Art von Zusammenhang mit einem literarischen Vorbild gerückt worden zu sein, und gleichzeitig die Demut, die einen angesichts des eigenen Ungenügens gerade bei solcher Gelegenheit befällt? Gern hätte ich mir Rat beim Meister geholt, aber Tucholsky hat nie einen literarischen Preis bekommen. Und da fängt doch die ganze Ungerechtigkeit schon an.
Vermutlich hätte er an einem so symbolträchtigen Datum die Gelegenheit nicht ohne einige Attacken auf die aktuelle Situation verstreichen lassen. Was hätte der scharfzüngige Gesellschaftskritiker Ignaz Wrobel wohl zum heutigen Tag der deutschen Einheit zu sagen gehabt?
„Wenn ein neues Regime ans Ruder kommt, so vernichtet es gewöhnlich alle äußeren Spuren der Vorgänger, soweit ihm das möglich ist. So ist es bisher immer in der Weltgeschichte gewesen“, meinte er zumindest in seinem vor genau siebzig Jahren erschienenen „Deutschland, Deutschland über alles“, diesem von John Heartfield montierten Bilderbuch mit Texten, die heftigere Auseinandersetzungen und Angriffe auslösten, als alles, was Tucholsky je geschrieben hat. „Die Presse lobt – die Presse tobt“, warb der Verlag in einer Anzeige. Bei Lesungen kam es zu Tumulten und Schlägereien – auch das zeigt, wir haben heute längst nicht alle Steigerungsmöglichkeiten ausgeschöpft.
Einleitend hatte Tucholsky Hölderlin vorgeschickt: „Ich kann kein Volk mir denken, das zerissener wäre, wie die Deutschen“. Und so kam ich unter die Deutschen: Indem ich versuchte, ihre Mißverständnisse zu beschreiben. Mit dem Erfolg, daß diese offenbar nie größer waren, als zur jetzigen Zeit. Der Tonfall der westdominierten Debatten ist gereizter und aggressiver geworden, die Vorwürfe grundsätzlicher. Da aber Gereiztheit und Agressivität immer ein Anzeichen von argumentativer Schwäche sind, rückt der unvermeidliche Zusammenbruch von Klischees vielleicht näher als wir ahnen.
Schon vor Jahren war mir klar: Das Grundmißverständnis zwischen Ost und West besteht darin, daß eine Seite denkt, sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte. Immer drohender wird mit den Milliarden gefuchtelt, entziehbar wie die Mohrrübe dem lahmen Gaul, falls der gewünschte Trott ausbleibt und stattdessen weitere Fehltritte vorkommen.
Sprache verrät Denken. Der Begriff transferieren degradiert den Osten wieder zum Ausland, in das mit anderer Währung gezahlt wird. Wo aber sollen reine Westquellen nach staatlicher Vereinigung herkommen? (Gut, auch wir profitieren vom Länderfinanzausgleich. Aber nach Abzug der Kosten für die Regierungsbauten in Berlin, die dem Aufbau Ost immer untergejubelt werden, machen diese Zahlungen ganze vier Prozent des sogenannten Transfers aus. Sehr anerkennenswert, aber für einen erkauften Anspruch auf Demutsgesten nicht tauglich.) Finanziert wird der angebliche Transfer aus dem Westen vielmehr mit Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen, und mit Krediten, die verzinst und getilgt werden müssen. In all diese Töpfe zahlen natürlich auch die Ostdeutschen ein. Das heißt, der Fleischer in Güstrow, so er genausoviel verdient, wie der Bäcker in Fulda, trägt auch genausoviel zu diesem sogenannten Transfer bei. Nur die Vermögenden in West und Ost (falls es sie hier gibt), zahlen nach dem Willen des Gesetzgebers weit weniger als angemessen wäre. Da selbst der Staatshaushalt nunmal vereint ist, können übrigens den ostdeutschen Steuerzahlern die erheblichen Subventionen für die bayrischen Bauern und die Ruhrkumpel auch nicht mehr ganz gleichgültig sein.
Fazit: Es gibt – so gesehen – keinen reinen Transfer von West nach Ost, sondern es gibt von West- und Ostdeutschen erarbeitete staatliche Fördermittel für eine Region, die erst unter zentralistischer Planwirtschaft, dann unter der Schocktherapie von Währungsunion und Treuhand erheblich gelitten hat. Wofür der Kassenwart für ausgleichende Gerechtigkeit nun von beiden Seiten – vor allem aber von den nächsten Generationen – Bußgelder erhebt.
Ich stelle mir vor, wie Tucholsky auf seiner jenseitigen Wolke sitzt, mit den Beinen baumelt und sich über unsere irdischen Hahnenkämpfe belustigt. Sehr komisch und vor allem sehr deutsch müssen ihm die Vorhaltungen vorkommen, der andere habe nicht hart genug gearbeitet. Denn natürlich hat unterm Strich der besser gelebt, der weniger rackern mußte. Das ist doch der größte Luxus. Aber anstatt stolz darauf zu sein, will deutsche Tugend nicht eingestehen, daß Fortschritt meßbar ist im Wegfall von Arbeitsfron und Leistungsdruck. Tucholsky weiß, was ich meine. In einem seiner legendären, im Himmel spielenden „Nachher“-Texte, schwärmt Kaspar Hauser rückblickend auf seiner Wolke, so daß man meinen könnte, er sei im Jenseits zum Ossitum konvertiert:
„Am liebsten waren mir zeitlebens die Betriebe, die ein wenig verfault waren. Da arbeitete ich so gern. Der Chef schon etwas gaga, wie die Franzosen das nennen, mümmlig, nicht mehr ganz auf Trab, vielleicht Alkoholiker; sein Stellvertreter ein gutmütiger Mann, der nicht allzuviel zu sagen hatte. Niemand hatte überhaupt viel zu sagen – der Begriff des Vorgesetzten war eingeschlafen. Auch Vorschriften nahm man nicht so genau – sie waren da, aber sie bedrückten keinen. Diese Läden hatten immer so etwas von Morbidität, es ging zu Ende mit ihnen, ein leiser Verfall. Wissen Sie: man arbeitete, man faulenzte nicht, hatte Beschäftigung – aber es war im großen ganzen doch nur die Geste der Arbeit… Ja, es gab viele Stätten solcher Art. Beim Militär habe ich sie gefunden, in der Industrie; auf dem Lande lagen solche Güter – Operettenbetriebe. Hübsch, da zu arbeiten. Sehr nett. Und immer so eine leise kitzelnde Angst vor dem Ende, denn einmal mußte es ja kommen, das Ende – immer konnte es nicht so weitergehen.“
Alle Menschen würden wohl gleich gern in Operettenbetrieben arbeiten. Menschliche Schwächen bis zu einem gewissen Grad zuzulassen, ist eben menschlich. Gerade an der „kitzelnden Angst“ erkenne ich in Kaspar Hauser die Kapitalismus-Erfahrung. Während die Ahnungslosigkeit der Ostdeutschen darin lag, lange Zeit nicht einmal Angst vor dem Ende gehabt zu haben, weil sie sich darauf verlassen haben, daß die objektive Gesetzmäßigkeit der Geschichte sie schon nicht verkommen lassen wird. Ich weiß, längst nicht alle Arbeit war spielerisch; sogar Bücher, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, schrieben sich nicht von selbst. Doch privat ging bekanntlich überall vor Katastrophe. Und das ohne Reue – deshalb war es in den östlichen Operettenbetrieben auch noch netter… Die Utopie einer Welt als musikalisch-heiteres Gesamtkunstwerk – und nicht als Trauerspiel.
„Der Sozialismus wird erst siegen, wenn es ihn nicht mehr gibt.“ Das sind so Satznüsse, die ungeknackt herumliegen, verehrte Tucholsky-Gemeinde. Ein Mißverständnis zwischen Ost und West besteht darin, daß die eine Seite denkt, die Beigetretenen wollten so leben wie sie, während die andere Seite meint, sie sei beigetreten, damit alle anders leben.
„Wenn Revolution Zusammenbruch bedeutet, dann war es eine“, meinte Ignaz Wrobel 1919. Denn: „Der Staat hat nicht viel to seggen.“ Er wußte: „Sie dachten, sie hätten die Macht. Dabei waren sie bloß in der Regierung.“ All das ist nicht nur unverändert aktuell, sondern aktueller denn je. Das ist das Geniale an diesen Texten. Und das Deprimierende zugleich. Heute wagt nur noch der Initiator der einstigen Montagsdemonstrationen, der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, zu sagen: „Der zweite Teil der Revolution steht noch aus.“ Was ja das Schicksal beinahe aller Revolutionen war.
Wir übrigen begnügten uns damit, von der anhaltenden Notwendigkeit einer Politik-Wende zu sprechen, von Reformen und sozialen Bewegungen. Das war wohl der Bescheidenheit zuviel. In seinem Deutschlandbuch formulierte Tucholsky Rechenaufgaben:
„Eine sozialdemokratische Partei (und ich bin sicher, die hier anwesenden Sozialdemokraten billigen diese mathematische Logik) hat in acht Jahren 0 Erfolge. In wieviel Jahren merkt sie, daß ihre Taktik verfehlt ist?“
Man ist versucht, nach diesem Muster weiter zu rechnen. Zum Beispiel: Vor neun Jahren verabschiedete eine grüne Partei auf einem Sonderparteitag anläßlich des bevorstehenden Golfkrieges einen offenen Brief an die Soldaten, in dem es hieß: „Wir lehnen das Säbelrasseln der USA und ihrer Verbündeten und ihre kriegsträchtige militärische Interventionspolitik ab. Sie steht nicht im Einklang mit der UNO-Beschlußlage… Wenn ihr den Befehl bekommt, in einen Krieg irgendwo auf der Welt zu gehen, dann SAGT NEIN und BEGEHT FAHNENFLUCHT.“ Und nun die sich daraus ergebende Rechenaufgabe: Wieviel Kilo Gesinnung muß man abspecken, um machtlinienförmig zu werden?
Ist es allzu respektlos, auch Kurt Tucholsky danach zu fragen? Er hatte mit dem 1. Weltkrieg zunächst „innerlich nichts zu tun“ und gehörte nicht zu den jubelnden Hunderttausenden, die freiwillig an die Front gingen. Doch schon bald hatte er sich naheliegenderweise einen Posten als Kompanie- später sogar Stabsschreiber erobert. Die mit Gehaltserhöhungen verbundenen, reglmäßigen Beförderungen, die gute Verpflegung, der Wein, Zeit für Bücher und Mädchen – all das versöhnte ihn mit der Situation. Erfolgreich gab er die erste deutsche Fliegerzeitung heraus. Er ließ sich sogar taufen, um Offizier werden zu können. Höhepunkt seiner militärischen Karriere war wohl, als der Vizefeldwebel Tucholsky das „Verdienstkreuz für Kriegshilfe“ bekam, weil er sich in seiner Zeitung für die Kriegsanleihe eingesetzt hatte.
Später gestand er ein: „Ich habe mich dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte – und ich bedaure, daß ich nicht, wie der große Karl Liebknecht, den Mut aufgebracht habe, Nein zu sagen und den Heeresdienst zu verweigern. Dessen schäme ich mich.“ Doch sofort nach dem Krieg gründete er u.a. mit Ossietzky den Friedensbund der Kriegsteilnehmer: Krieg dem Kriege!, war seine Devise, die er in zahllosen Artikeln, Gedichten und auf Kundgebungen vertrat. Aus der Erfahrung der eigenen Verführbarkeit nahm er den moralischen Rigorismus, Fehler nicht wiederholen zu müssen. Er hat seine Schwäche mit einer Konsequenz wiedergutgemacht, vor der man nur den Hut ziehen kann. Sein aus eigener Anschauung geborener Satz „Soldaten sind Mörder“ erregt noch heute die Gemüter und Gerichte.
Es will mir scheinen, als rutschten Sie, lieber Kollege Tucholsky, bei diesem Thema ungeduldig auf Ihrer Wolke hin und her, besorgt, wir könnten versäumen auf ein Jubiläum hinzuweisen, daß Ihnen wohl mehr am Herzen liegt, als dieser ominöse Nationalfeiertag. Da will ich Sie schnell beruhigen, wie könnten wir vergessen, daß heute der 110. Geburtstag von Carl von Ossietsky ist? Sich der ›Weltbühne‹ verbunden fühlende Autoren haben nach der Wende versucht, diese Zeitschrift weiterzuführen. Der Titel gehört niemandem, aber da das nicht zu beweisen war, darf er auch von niemandem benutzt werden. Nur eine Kneipe nennt sich jetzt großspurig: Weltbühne. Und so heißt unsere westöstliche Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/und Wirtschaft eben Ossietzky. Und falls der Vertrieb bis zu Ihrer Wolke reichen sollte, so sind die hier anwesenden Autoren ziemlich zuversichtlich, daß das Blatt Ihr Wohlgefallen findet. Und ich gebe auch die Hoffnung nicht auf, die Zeitschrift werde eines Tages, vereint mit dem rein östlichen Blättchen, unter dem ursprünglichen Namen erscheinen.
All das paßte zur Festtagsstimmung, wäre da nicht jene Justizschande, nach der 1992 das Kammergericht Berlin und der Bundesgerichtshof die Chance verpaßt haben, sich von ihren Reichsgerichtskollegen zu distanzieren, die Carl von Ossietzky wegen Landesverrats verurteilt hatten. Und das, weil in seiner Zeitschrift andeutungsweise auf völkerrechtlich und strafrechtlich verbotene Aufrüstung der deutschen Luftwaffe aufmerksam gemacht wurde. Auf Verbotenes aufmerksam zu machen, darf aber nicht verboten sein. Selbst und gerade dann nicht, wenn es das Militär geheim halten will. „Es ist eine furchtbare und demütigende Vorstellung“, schrieb Thomas Mann an das Gericht, „in einem Land zu leben, wo über Erscheinungen der Unordnung gewaltsam mit Hilfe der Justiz Stillschweigen gebreitet werden soll.“ Gegen das Ossietzky-Urteil gab es damals einen weltweiten Sturm der Empörung, allein in Deutschland hatten fast 45.000 Menschen eine Petition unterschrieben – vergeblich. Ossietzky starb an den Folgen der langen KZ-Haft.
Ohne jegliches kritisches Geschichtsbewußtsein ließen die heutigen Richter den damaligen das Argument durchgehen, die verbotene Aufrüstung sei ein schützenswerter „Bestandteil des Staatswohles“ gewesen und deshalb das Urteil nachvollziehbar. Und so verwarfen beide Gerichte das Wiederaufnahmeverfahren zur Rehabilitierung des einzigen Deutschen, der während der Nazizeit den Friedensnobelpreis erhalten hat. Und unsere Zeitschrift muß mit der höchstrichterlichen Entscheidung leben, wonach sie sich nach einem Landesverräter benannt hat. Keine gute Empfehlung zum Geburtstag.
Aus derart empörenden Urteilen erwächst für Publizisten die Aufgabe, die bundesdeutsche Justiz kritisch zu begleiten. Ganz im Geiste Tucholskys, der wußte: Es gibt keinen unpolitischen Strafprozeß, weil in der Welt überhaupt nichts unpolitisch ist. Ossietzkys Inhaftierung war neben allem anderen Übel auch einer der ausschlaggebenden Gründe für Tucholskys gänzliches Verstummen.
Da haben wir Heutigen es leichter. Zum Ende kommend, will ich dennoch nicht verschweigen, daß einen Tucholsky-Preis zu erhalten natürlich auch bedeutet, mit dem Thema Anfeindung und Ausgrenzung, und schließlich mit Resignation und Scheitern konfrontiert zu werden. Der Radikaldemokrat Tucholsky wurde weder als solcher geboren, noch konnte er unter den damaligen Bedingungen diese Courage bis zum Ende durchhalten. Für sein Ende bedurfte es einer anderen Art von Mut.
Es ist ein eigenwillig Ding mit der Courage. Auch ich habe einst, wenn auch kaum Falsches verteidigt, so doch zu leise widersprochen und zu lange mitangesehen, wie das Projekt einer menschlichen Gesellschaft zuschanden kam. Und auch ich leite daraus die moralische Verpflichtung ab, mit aller Radikalität dagegen anzugehen, sich selbst diesen Vorwurf noch einmal machen zu müssen. Aber wer sich aus dem Fenster lehnt, noch dazu aus dem linken Flügel, der muß mit scharfem Gegenwind rechnen, heißt es hierzulande. Wer seine Meinungsfreiheit nutzt, um auch vor Systemkritik nicht haltzumachen, der wird erfahren, was Verleumdungsfreiheit ist.
Auf wieviel Zusammenhalt von Gleich- oder Ähnlichgesinnten darf dabei gerechnet werden? Wer unglaubwürdig gemacht werden soll, erfährt, wieviele Freunde und Sympathisanten er hat. Wer unfair angegriffen wird, weiß das Glück der Solidarität zu schätzen. Ich bin dankbar, sie bekommen zu haben. (Und ich freue mich natürlich, unter denjenigen, die sich in Auseinandersetzungen für mich eingesetzt haben, nun auch einen Nobelpreisträger zu wissen und ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, Günter Grass von hier aus sehr herzlich zu gratulieren.)
Wohl dem Land, das keine Helden braucht. Und wohl dem Menschen, der keine Solidarität braucht. Wann und wo könnte das sein? Selbst im Paradies ist der Versuch, vom Baum der Erkenntnis zu kosten, bestraft worden.
Als Tucholskys Deutschlandbuch 1964 in der Bundesrepublik erschien, war einer Besprechung in der Zeit zu entnehmen, sein (und unser) Unglück sei es gewesen, „daß er kein Maß mehr kannte“ in seiner Kritik und seiner Bitterkeit. Ein Maß wird er doch wohl gekannt haben, nämlich sein eigenes. Wessen Maß soll denn sonst das gültige sein? Am Schluß seines Buches griff er Hölderlin wieder auf: „Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil davon sind wir.“ Womit gemeint waren: Linke, Pazifisten, „Freiheitliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn ›Deutschland‹ gedacht wird“, verlangte Tucholsky. Möge es uns Angesprochenen gelingen, dabei auch künftig unser Maß zu verteidigen.

Daniela Dahn