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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Geburtstagsgruß an Deniz Yücel

Lieber Deniz,
es fällt schwer, Dir unbelastet zum Geburtstag zu gratulieren, sehen und wissen wir doch, unter welchen Umständen Du gezwungen bist, ihn zu begehen.
Als Carl von Ossietzky für seine journalistische Arbeit 1932 ins Gefängnis geworfen wurde, schrieb Kurt Tucholsky:

Die Strafe ist und bleibt nichts als die Benutzung einer formalen Gelegenheit, einem der Regierung unbequemen Kreis von Schriftstellern eins auszuwischen […] Im geistigen Kampf werden sie auch weiterhin so erledigt werden, wie sie das verdienen. Und das muß doch gesessen haben. Denn sonst wären jene nicht so wütend und versuchten es nicht immer, immer wieder. Es wird ihnen nichts helfen.

Wir wünschen uns allen drinnen und draußen und ganz besonders Dir, dass es auch den heutigen Rechtsbeugern der Türkei nichts helfen möge. So senden wir Dir herzlichste Grüße und versichern Dir unsere ungebrochene Solidarität.
Als die Jury Dir 2011 den Kurt-Tucholsky-Preis zuerkannte, lobte sie Deinen Mut, zur Verdeutlichung der Wahrheit auch vor dem Zorn der verkappten Spießer_innen nicht zurückzuschrecken, sondern »die große, bunte Landsknechts-trommel gegen alles, was stockt und träge ist« (Tucholsky) zu schlagen.
Dein Ehrenplatz zur diesjährigen Preisverleihung wird von uns freigehalten, denn noch immer hoffen wir, Dich in Berlin begrüßen zu können: Wir wollen das Meer sehen – Deniz’i görmek istiyoruz.
Bis dahin wünschen wir Dir, was auch Tucholsky seinem Freund wünschte:

Ich wünsche ihm im Namen aller Freunde, daß er diese Haft bei gutem Gesundheitszustand übersteht.

Der Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

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Jahrestagung 2017 Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik Pressemitteilung Tagungen

Kurt Tucholsky-Gesellschaft lädt Deniz Yücel als Ehrengast ein

Seit mehreren Wochen sitzt der Kurt Tucholsky-Preisträger Deniz Yücel nun bereits in Haft. Ein Schicksal, das er mit über 150 Kolleg_innen teilt.
Inzwischen in Isolationshaft, wurde der Einspruch gegen seine Haft von den zuständigen Gerichten abgewiesen. Wir sehen diese Entwicklung mit großer Sorge, insbesondere, da wir weiterhin der festen Überzeugung sind, dass die Deniz Yücel vorgeworfenen Straftaten jeglicher Grundlage entbehren.
Vielmehr drängt sich der Verdacht auf, dass in seinem Fall – wie auch in zahlreichen anderen Fällen – versucht wird, unbequeme Gegenstimmen gegen den derzeitigen Kurs der türkischen Regierung verstummen zu lassen.
Umso dankbarer sind wir für die zahlreichen, bunten und vielfältigen Protest- und Solidaritätsaktionen, die derzeit in Deutschland und Europa die Freilassung der inhaftierten Journalist_innen fordern.
Wir begrüßen zudem die klare und deutliche Distanzierung von jeglichen »Nazi-Methoden« durch den türkischen Präsidenten. Bekanntermaßen gehörte die Bekämpfung von publizistischen Gegenstimmen durch konstruierte Vorwürfe unter Wahrung des rechtsstaatlichen Anscheins zu den von den Nationalsozialisten bereits unmittelbar nach der Machtübernahme verwendeten Methoden. Kurz: Indem man Journalismus zum Verbrechen erklärte. Kurt Tucholskys Nachfolger als Herausgeber der Weltbühne, der überzeugte Pazifist und spätere Nobelpreisträger Carl von Ossietzky starb an den Folgen dieser Praxis.
Mithin dürfen wir also davon ausgehen, dass sich die gegen Deniz Yücel erhobenen Vorwürfe in Kürze in einem fairen und rechtsstaatlichen Prozess als vollkommen haltlos erweisen werden und vielmehr festzustellen ist, dass er seiner journalistischen Arbeit und Pflicht nachgekommen ist. Und Journalismus ist kein Verbrechen.
Wir laden Deniz Yücel als Ehrengast zur diesjährigen Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises am 22. Oktober im Theater im Palais ein und freuen uns auf seinen sicher grandiosen Beitrag.

Der Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

Weitere Informationen:
Kurt Tucholsky-Gesellschaft
Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft wurde 1988 gegründet, um dem facettenreichen »Phänomen Tucholsky« nachzuspüren. Sie will als literarische Vereinigung die Beschäftigung mit Leben und Werk Kurt Tucholskys pflegen und fördern und hat ihren Sitz in Tucholskys Geburtsstadt Berlin. Als Publikationsorgan der Kurt Tucholsky-Gesellschaft erscheint dreimal im Jahr ein Rundbrief. Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft gibt zudem eine eigene Schriftenreihe heraus, in der vorrangig die Dokumentationen der von ihr organisierten wissenschaftlichen Tagungen erscheinen. Den jährlichen Höhepunkt der Vereinstätigkeit bilden Tagungen mit wissenschaftlichen Kolloquien, Vorträgen, Exkursionen und kulturellen Veranstaltungen. Aller zwei Jahre vergibt sie den Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik.
Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik
Aus Anlass des 60. Todestages von Kurt Tucholsky wurde 1995 der Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik gestiftet. Alle zwei Jahre werden mit ihm engagierte deutschsprachige Publizisten oder Journalisten ausgezeichnet, die der »kleinen Form« wie Essay, Satire, Song, Groteske, Traktat oder Pamphlet verpflichtet sind und sich in ihren Texten konkret auf zeitgeschichtlich-politische Vorgänge beziehen.
Ihre Texte sollen im Sinne Tucholskys der Realitätsprüfung dienen, Hintergründe aufdecken und dem Leser bei einer kritischen Urteilsfindung helfen.
Die Auswahl der Preisträger erfolgt durch eine fünfköpfige Jury; das Preisgeld beträgt seit dem Jahr 2015 5.000 € (bis 2013: 3.000 €).
Jury-Begründung zur Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises 2011 an Deniz Yücel
In seiner Kolumne »Vuvuzela«, die während der Fußballweltmeisterschaft 2010 erschien, hat Yücel sowohl den deutschen Spießer als auch die deutsche Spießerin auf angenehme Art entlarvt. Dabei übersteigert er bewusst das nationalistische Element, riskiert lustige Wortspiele sowie einen überdeutlichen Stimmungsumschwung nach der deutschen Niederlage (»Gurkentruppe….«) Das wäre vielleicht peinlich, wenn so etwas nicht den Lebensinhalt der Sportseiten im Boulevard bildete. Deniz Yücel hat sich Tucholskys Maxime zu eigen gemacht, der 1919 geschrieben hatte: »Die Satire muss übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird.«
Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 2017
Die Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft steht im Jahr 2017 unter dem Thema »Tucholsky, Die Weltbühne und Europa«.
Die Tagung vom 20.-22. Oktober 2017 an der Humboldt-Universität zu Berlin widmet sich historischen und zeitgenössischen Dimensionen des Europa-Bildes und sucht dabei insbesondere nach Anknüpfungspunkten im Werk Tucholskys.
Als Abschluss und Höhepunkt der Tagung wird am 22. Oktober 2017 im Theater im Palais der Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik verliehen.
#Freedeniz
Neben der bewundernswürdigen Berichterstattung in zahlreichen deutschen Medien, insbesondere bei der ehemaligen publizistischen Heimat Yücels die tageszeitung und seiner aktuellen publizistischen Heimat DIE WELT sei beispielhaft auf die Solidaritätsseite des Freundeskreises Freedeniz verwiesen, die Berichte, Aktionen und Veranstaltungen bündelt.
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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief April 2017

Zur Inhaftierung von Deniz Yücel

Ich kenne Deniz Yücel in meiner Funktion als 1. Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft sowie als Mitglied der Jury, die ihm 2011 den KT-Preis vergab. Er bekam die Auszeichnung für seine „taz“-Kolumne „Vuvuzela“ zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft 2010.
Diese Arbeiten bewiesen, dass Deniz ein Satiriker von Format ist, mit funkelnden Wortspielen und eigenwilligen Sprachschöpfungen. Sie zeigten ihn auch als Freund der deutschen Sprache, der diese vor Phrasendreschern der Sportberichterstattung schützen wollte. Und last not least als Gegner von billigem Hurrapatriotismus, als Kämpfer gegen den Nationalwahn, als Europäer und Weltbürger. So wurde Deniz zum würdigen Träger des Kurt-Tucholsky-Preises.
Jetzt sitzt Deniz in einem türkischen Gefängnis. Präsident Erdoğan hat ihn ohne Anklage und Urteil als Terroristen bezeichnet. Das ist Deniz garantiert nicht. Er ist kein Freund der Mächtigen – aber seine Arbeiten für die taz und Die Welt beweisen: er ist ein lupenreiner Demokrat.
Die Türkei wurde in der Zwischenkriegszeit zu einem Zufluchtsort für antifaschistische deutsche Emigranten, zu einem demokratischen Rechtsstaat. Zur Demokratie gehört der Grundsatz der freien Meinungsäußerung, zum Rechtsstaat das Prinzip „Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils“. Jetzt hat die Türkei die Chance, sich im Falle Deniz Yücel als Demokratie und Rechtsstaat zu bewähren.
Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft ist sicher, dass das Land diese Chance ergreift und Deniz als unschuldig freilassen wird. Sie lädt Deniz Yücel zur Teilnahme an der diesjährigen Kurt Tucholsky-Preisverleihung am Sonntag 22. Oktober ins Theater im Palais, Berlin ein.

Dr. Ian King, 1. Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Mein Weg zu Kurt Tucholsky

Dankesrede von Prof. Dr. Jochanan Trilse-Finkelstein anlässlich der Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik 2015 für sein Lebenswerk.

»Soll ich reden, darf ich schweigen?« Mit solchem Fragesatz hatte Thomas Mann am 14. Mai 1955 seine zweite kleine Rede im Saal des Weimarer Schlosses eingeleitet – er hatte die Festrede anlässlich des 150. Todestages von Friedrich Schiller gehalten – seine Dankesworte für ein Ehrendoktorat der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Nach Erika Mann der 14. oder 17.9.) Ich hatte die Ehre, dabei zu sein – als Assistent von Prof. Ernst Fischer, Wien, seines Zeichens nicht nur Professor, sondern auch ein begnadeter Essayist und sogar Lyriker von einigem Format.

Diese Szene ist mir unvergesslich geblieben, und nun gab sie mir sogar eine Hilfe. Ich hatte zwar einige Doktoratsverleihungen erlebt – mit Universitäten hatte ich mehr zu tun als mit Preisverleihungen – da bin ich ungeübt und musste erst einmal Umschau halten, wie das gemacht wird.

Und da war mir halt eine der ganz großen Szenen eingefallen – ich hatte Thomas Mann schon immer viel zu verdanken – freilich außer diesem Auftreten nichts Persönliches, umso mehr Literarisches, so zwischen Sinn und Handwerk.

Als Nebenbemerkung: Ich werde hier selbstredend auf außerhalb des Themas liegende Darstellungen weitfassender politisch-sozialer, gar historischer Kritikbilder und ebensolcher Visionen verzichten. Meine Bemerkungen dienen nur dem leichteren Einstieg ins Thema.

Immerhin waren beide antifaschistische Emigranten und entschiedene Gegner des Hitler-Faschismus und bekämpften ihn – mit literarischen Mitteln; jeder mit den ihm gemäßen – Mann aus der Ferne des andern Kontinents, der als Sieger dennoch nicht mehr heimkehrte, Tucholsky aus dem Ostseeraum, indes sich bald erschöpft habend, das Grab in Hindås vorgezogen hatte.

Dennoch bleibt die Frage: Was hatten sie miteinander zu tun? Literarisch wenig – wie sollten der Epiker großer Untergänge und Beschreiber geistköniglicher Gestalten, gar Erzähler riesiger mythischer Entwürfe des menschlichen Überlebens und der scharfsinnige Satiriker, der hochpolitisch-analytische Autor der kurzlebigen, konfliktbeladenen deutschen Republik, die so irreführender Weise den Namen Weimars trägt (nur weil die Verfassungsgeber den bandenartig an der Spree hausenden reaktionären Freikorps an die friedlichere Ilm ausweichen mussten), miteinander auskommen, genauer: nebeneinander bestehen?

Beide sind repräsentative Vertreter jener großen Epoche deutscher Literatur, die wir Historiografen heute »Literatur des antifaschistischen Exils und Widerstandes« nennen, einer der hochgradig wichtigen Kapitel der deutschen Literaturgeschichte.

Was aber hat Thomas Mann bei Kurt Tucholsky zu suchen? Sonst verbindet die beiden wenig – sie waren beide antifaschistische Emigranten und Hitlerfeinde – wie auch anders!

Sie bilden quasi Eckpfeiler jener Periode, sind Flügelkämpfer der literarischen Front, stark im Einsatz und nicht ohne Tragik.

Thomas Mann verschwindet nun von unserer Bühne – mit Dankesgrüßen für Hilfe beim Bilden jener Literaturfront, in welcher Tucho, wie wir ihn fortab nennen, eine wichtige Kraft dargestellt hatte. Thomas Mann verschwindet nun von meiner Bühne, nicht ohne Dankesgrüße, und ich suche und beschreibe meinen Weg zu Kurt Tucholsky.

Zu dem ich allerdings noch einen Umweg gebraucht habe.

Ein Lehrer, zugleich Stellvertreter des Kurators (Direktor am Theresianums Wien) hatte einmal einen Auftritt des Jura-Soyfer-Ensemblesi erlebt und mich als Sprecher dieses Ensembles wahrgenommen.

Daher ward ich nun schnell zum Sprecher des Gymnasiums gekürt. Wie im Ensemble war auch hier Karl Kraus Text-Geber.

Nun soll man nicht etwa annehmen, dass dort etwa Kraus Unterrichtsstoff im Fach deutschsprachige Literatur gewesen wäre. Da handelten müde alte Lehrer endlos ab, was sie konnten, und das waren vor allem Grillparzer und Zeitgenossen (dazu ein wenig Nestroy), und wenn es hoch kam, schafften sie es bis Anzengruber und Lauterbach. Hofmannsthal und Genossen waren böhmische Berge im Nebel.

Erst sehr viel später leuchteten sie über Frequenzen von Richard Strauss‘ großem Orchesterklang und strömendem Gesang erlesener, genauer: erhörter Sänger der ersten Klasse von der Bühne, vor allem in Salzburg und Wien, dann von Platte und CD.

An die neuere Literatur tappten wir Schüler uns selbst heran, und das waren zunächst Hofmannsthal und die Riesengestalt des Karl Kraus. Dies sei freilich nur eingeschränkt erklärt, denn viele Texte waren damals (als damals gelten die fünfziger Jahre bis in die sechziger, also die frühe Studienzeit) noch nicht bzw. noch nicht wieder veröffentlicht, und das betrifft vor allem Texte jüdischer und linker Autoren – die Nazis hatten ihre Bücherpolitik auch an die Donau gebracht. Doch, um einem alten Marx-Diktum zu folgen, auch die Büchervernichtung ward gemildert durch Schlamperei – so manches Gute fand sich wieder.

Wir Schüler gründeten – mit Unterstutzung des damals neuen Vizekurators – eine Arbeitsgruppe »Moderne Literatur«, und lernten für uns und lehrten einander. Nicht alle Schüler kamen. Aber doch, aus den drei obersten Jahrgängen (Obersekunda, Unter- und Oberprima), aus den jeweils drei parallelen Klassen waren zunächst etwa vierzig Schüler gekommen, die sich allmählich auf ca. 30 reduziert haben, und in dieser Zahl weitgehend konstant geblieben waren.

Hier befassten wir uns von Beckett und Brecht über die Manns bis zu Toller und den Zweigs, von Borchert bis Zuckmayer, mit Kraus im Besonderen und mit Soyfer, und wir lernten Gorki und Majakowski und Giraudoux und Sartre u.a.

Eigentümlicher Weise kam aber Tucholsky damals noch nicht vor. Die Anregung kam von woanders, doch als ich ihn schon etwas kannte, habe ich ihn hereingebracht, und einige seiner Texte wie etwa Der Graben u.a. im Ensemble rezitiert.

Wie sich vielleicht mancher erinnert oder einfach weiß, war Wien zwischen 1945 und 1955 (also bis zum Staats-, schließlich auch Friedensvertrag) eine Viersektorenstadt der Sieger- und Besatzungsmächte, nur eben nicht so lange. Meine Eltern und ich lebten vorrangig im sowjetischen Teil, im Besonderen als Medizinerpaar im Stadtteil Wieden (IV. Bezirk, von wo aus es in den X. (Favoriten), zur Klinik nicht allzu weit war). Und in diesem sowjetischen Sektor hatte die Besatzungsmacht ein Kulturhaus, was zu großen Teilen nicht nur der sowjetischen Seite, sondern auch der Wiener Bevölkerung zugänglich war – eine öffentliche Kulturstätte.

Es gab dort eine Bühne mit Saal, ein kleines Kammerspiel, Gesellschaftsräume unterschiedlicher Größe, nicht zuletzt eine Bibliothek beachtlicher Größe, mit einem beträchtlichen Anteil russischsprachiger Texte wie die gleiche russische Literatur in deutscher Sprache; Literatur der Alliierten, also in Englisch und französischer Sprache und eben auch eine beträchtliche Anzahl deutscher Bücher aus älteren deutschen Übersetzungen wie auch neueren, meist DDR-Ursprungs; doch auch österreichischer Herkunft – damals hatte ich Majakowski-Übersetzer Hugo Huppert kennengelernt, später Autor von mir im Berliner Henschelverlag.

Und hier verwaltete, leitete, regierte, ja fast könnte man sagen: herrschte Emmi Wolff. Seinerzeit eine berühmte Person vom Weltkrieg her; eine Heldin der Sowjetunion – das war der höchste Kriegsorden der UdSSR. Sie war Fallschirmspringerin der Roten Armee, war hinter den deutschen, also feindlichen Linien abgesprungen und hatte Brückenköpfe bzw. Igelstellungen gebildet, die der Roten Armee schnelle Angriffe und spätere Siege ermöglicht hatten.

Nun leitete diese, zu meiner Zeit etwa knapp fünfzigjährige Frau diese Kultur- und Informationsstätte als Ganzes, die Bibliothek im Besonderen – sie las und sprach in mehreren Sprachen, auch und besonders gut Deutsch, sie hatte deutsche Vorfahren. Ich versuchte dort, halbwegs Russisch zu lernen, was mich in die Lage versetzt hat, auch Majakowski und andere Dichter original zu rezitieren.

Eines Tages fragte sie mich, ob ich einen Dichter und Schriftsteller (Sie sagte »писатель« [Schriftsteller] namens Tucholsky kenne. Der nun schon fast 24jährige Student der Literatur, inzwischen im 8. Semester, musste – durchaus beschämend – verneinen. Er hatte sich – im vermeintlichen Besitz von Kraus und als Beinahe-Leiter genannter Arbeitsgruppe »Moderne Literatur« – eigentlich sicher gefühlt in dem Bereich. Kraus ging ihm von den Lippen und Soyfer, fast der österreichische Büchner, war obendrein hinzugekommen:

Nun, da lies mal: Glänzender Schreiber, fast ein wenig zu nahe am Journalismus, doch ein Gesellschaftskennner, Kriegsgegner und Internationalist. Sagte ähnliches über Hitler wie Kraus, doch war ihm über den durchaus noch etwas mehr eingefallen. Von ihm habe ich folgenden Satz gelesen: »Die Linke spricht das Richtige – über Sachen. Die Rechte spricht das Falsche, aber an Menschen.«

Mensch, war der klug, könnte sich unsre Führung einiges abschneiden, von dem, was wir falsch machen. Dieser Mann war schon lange, bevor dem H. die Macht zugeschoben worden war, in Paris, zunächst als Pressekorrespondent, bald schon eher als Exilant im schwedischen Exil, wo er seinem Leben im Dezember 1935 ein Ende bereitet hatte, ein halbes Jahr vor Kraus, bevor der erschöpfte Schriftsteller-Gigant gestorben war (12. VI. 1936). Kannst daran üben, genau was für dich!

Womit sie keineswegs ein solches Ende gemeint hatte, sondern Lebens-und Überlebens-Hilfe, politische Praxis und Weisheit. Sie hat mir bei diesem – Anlass ein Bündel mit abgeschriebenen Texten gegeben, meist Gedichten, etwas Prosa war auch dabei, sowie den bekannten Band Mit 5 PS, ziemlich zerlesen:

Der schrieb übrigens unter fünf Namen, vier davon so sonderbare Pseudonyme mit Raubtiernamen wie Panter und Tiger, auch gab er sich den Namen des sich unwissend stellenden Schalks Kaspar Hauser. Er muss es wohl nötig gehabt haben, sich zu tarnen. Die Deutschen von damals waren schon schlimm und ziemlich blöd, sich diesem Österreicher zu unterwerfen und dann die halbe Welt, schließlich uns in den Krieg zu ziehen – na ja, von uns [UdSSR] haben sie schließlich die stärkste Prügel bekommen.

So Emmi Wolff, die Heldin!

Ich las die Texte, lernte zahlreiche auswendig, bereicherte mein Repertoire neben Soyfer, Brecht, Majakowski um die Tucholskys.

1956 hatte ich Wien und Graz verlassen, ein Semester verloren in Frankfurt/M gehungert, so zwischen geistigem Feuer Adornos und seiner Anti-Solidarität und war 1957/58 in Leipzig angekommen, in den philosophisch-literarischen Glanzzeiten von Bloch, Mayer und Markov, begleitet von Ausflügen nach Jena, um sprach-sprechwissenschaftliche Grundlagen zu festigen (bis 1958).

Eine attraktive Professorin mit weittragender Stimme und einigem Sensus studierte mit einigen wenigen, halbwegs künstlerisch veranlagten Studenten Gedichte und Prosa ein und verlangte von jedem von uns Programme. Die Weimarer Klassiker allen voran!

Schiller konnte ich einigermaßen, war mir indes zu pathetisch; Goethe nur der jüngere – »Urworte. Orphisch« und andere schwere Brocken blieben mir damals unzugänglich, weil unverständlich. Ich hatte der Dame Heine angeboten, darauf war sie eingegangen, das Programm bestand vor ihren Augen und ist Grundlage vieler späterer Leseabende geblieben. Sie wollte mehr.

Ich bot an: Kästner, Morgenstern, Ringelnatz, na ja »wenn Ihnen dieser immerhin köstliche Blödsinn reicht?» So ganz passten diese ihr nicht. Sie wollte Schwerer-Gewichtiges. Da hatte ich ihr nun Tucholsky angeboten, der so scheinbar Leichtes mit Gewichtigem verbinden gekonnt hatte. Sie kannte indes diesen Autor noch nicht. Ich besorgte die ersten DDR-Ausgaben, wesentlich die von Walther Victor, die zwar wichtig waren, aber eben noch sehr viel vermissen ließen, auch das hier bereits genannte, von ihm selbst bearbeitete Lesebuch. Die Ausgaben vor 1933 waren schwer zu haben dort, ich konnte ihr nur Mit 5 PS geben.

So ganz begeistert war die affektive Dame nicht, ließ mich das Programm indes machen. Es hatte vollen Erfolg in der Studentenschaft, sogar Interessenten zum Mitmachen. Und so ward es zur – immer wieder veränderten – Grundlage der meisten Programme, mit denen ich viele Jahre durch die Lande gezogen bin: entweder war ich allein unterwegs, da nahm ich mehr Skript zur Hand und hielt Kolleg; oder ich hatte ein vierköpfiges Ensemble, und wir machten Kunst: ein zweiter Sprecher, meist ein Schauspieler, ein Sänger (oder Sängerin) und ein Pianist.

Wir trugen meist die Eisler-Lieder vor, manchmal, wenn mir der Sänger ausgefallen war, nahm ich die Platten von Gisela May, die diese Lieder so hervorragend vortragen konnte.

Am häufigsten trug ich auf diese Art Tucho in meiner Weimarer Zeit vor, so bis 1966. Ich war damals an den Weimarer Klassik-Instituten beschäftigt und hab auch über Goethe gelernt, spätere Editionen und Texte von mir geben Zeugnis. Am meisten interessierte mich freilich die Heinrich-Heine-Säkular-Ausgabe. Mit österreichischem Pass versehen, konnte ich in Länder (selbst Israel) reisen, um Handschriften zu beschaffen, die meist in jüdischer Hand waren. Der alte Salman Schocken war lange nicht bereit, seine Handschriften an Deutschland herauszugeben – die Todesmaschinerie des NS-Staates hatte große Teile seiner Familie vernichtet. Erst als der Alte gestorben war, der Sohn Gerschom das große Erbe übernommen hatte und man in Israel erfahren hatte, dass auch Juden in Weimar arbeiten konnten, ich ihm gegenüber gesessen hatte bei erst gemeinsamem Tee, später bei tiefer wirkenden Getränken und erstklassigen Speisen, gab es auch Handschriften, und die HSA konnte erarbeitet werden.

In Weimar hatte man mir das übrigens nicht gedankt, doch habe ich zahlreiche Heine-Editionen gemacht, zwei Biografien geschrieben und eine Spezial-Edition Heinrich Heine und Kurt Tucholsky in Paris (Berlin 2010), die hier im Konferenzsaal vorliegt und auf die ich noch kurz zu sprechen komme.

Die Tucho-Programme hab ich bis in die70er Jahre vorgetragen, bis die Ärzte mir Schluss geboten, ein zweiter Infarkt durfte nicht sein. Auch war die Stimme nicht mehr so gut. Und andere Arbeiten erhielten Vorzug. Aber wie das zuletzt genannte Buch gezeigt hat, bin ich Tucho nie untreu geworden.

Abgesehen von seiner literarischen Kunst, seiner Schreibweise, seiner antikapitalistisch-antifaschistischen Haltung, seiner Exilerfahrung (meine Eltern hatten einige Texte mit), die in manchem unserer geglichen haben, – seinem säkularem Judentum (»Ich weiß, dass man aus dem Judentum nicht austreten kann«) verbindet mich mit ihm seine schöne Haltung zu Heine.

Ist dieser Satz nicht herrlich?

Besser wäre, die Reisebriefe Heines wären bekannter als sie sind – auch die aus den Pyrenäen – und alle seine Berichte aus Paris, in denen er sich als Jahrhundertkerl seltnen Formats, als einen Propheten und einen Allesüberschauer zeigt.ii

Wie ähnlich auch ihre jeweilige Haltung zu Paris:

Fragt sie jemand, wie ich ich mich hier befinde, so sagen Sie. Wie ein Fisch im Wasser. Oder vielmehr, sagen Sie den Leuten; daß, wenn im Meere ein Fisch den anderen nach seinem Befinden fragt, so antworte dieser: Ich befinde mich wie Heine in Paris! (1832)

Ähnlich reagierte der andere, also Tucho, im Gedicht Park Monceau:

Hier ist es hübsch. Hier kann ich träumen.

Hier bin ich Mensch – und nicht nur Zivilist. […]

Ich sitze still und lasse mich bescheinen.

Und ruh von meinem Vaterlande ausiii. (1924)

Man kann davon ausgehen, dass sie beide Brüder im Geiste sind – trotz des Jahrhunderts dazwischen. (Zum Thema verweise ich auf das angeführte Buch von 2010). Tucho hatte auch etwas an sich, was mich beunruhigt hatte: Eine überaus schlechte Meinung von Juden.

Im Moment des Ausdrückens dieses Epithetons muss ich mich auch revidieren. Gemeint ist der kleinbürgerliche, allzu assimilierte Erwerbs-Jude, der sich im deutschen Bereich aufgehoben geglaubt hatte, sich als widerstandsunfähig erwiesen hat, die minderzahligen Zionisten ausgenommen. (Zumal einst das Zinsnehmen Christen verboten war, schließlich wichtigste Erwerbsquelle vieler Juden geworden, inzwischen kein jüdisches Monopol mehr war.)

So war es schlussendlich dazu gekommen, dass ein großer Teil unseres Volkes, in besonderem Maße dieser beschriebene Typus ins Schlachthaus, sprich: Gaskammer transportiert worden ist – nur wenige haben gekämpft, zu wenige, um zu siegen. Dennoch bleibt der Warschauer Ghetto-Aufstand von 1943 als Heldenlied in unserem Gedächtnis.

Dazu noch folgende Schlussanmerkung: Das von Tucho dazu Gesagte hatte für Aufregungen unter uns Juden gesorgt – es war nicht alles richtig. Der beste Richter und Ausgleicher in diesem Fall war Arnold Zweig. Mit einigen Sätzen aus dem bekannten Brief von Anfang 1936, die Antwort auf Tuchos Abschiedsbrief vom 15. Dez. 1935, die Tucho nicht mehr erreichen konnte, will ich schließen – er ist der schönste, tiefste, der sich denken lässt; auch wenn sich das Wort »schön« angesichts des Todes, solchen Todes, eigentlich verbietet.

Ich las ihn in vielen Lesungen:

Lieber Tucholsky, schlafen Sie wohl. Wie weh tut es mir, nicht sagen zu können: auf Wiedersehen. Wieviel stille Tränen schon geschlossen, weil man Sie auf die Vermißtenliste setzen muß, die Liste derer, die wir immer vermissen werden. Sie ist schon hübsch lang, diese Liste. Nach meinen Augen fragen Sie. Wie sie auch immer seien. Sie werden sie nie mehr sehen. Aber Ihren Nachruhm und Ihr Gedächtnis und den Dank an Sie, den wohl. Wer uns so lachen und zürnen machte, und just über das Lächerliche und Empörende, wer so herrlich zu spaßen und weise zu sehen vermochte wie Sie, und alles so auf deutsch, der mag gern ausruhn wie H. Heine. Er ist ein Lebender wie er. Und somit verläßt Sie fürs erste und weitere Ihr Kamerad

i Ensemble der FÖJ mit dem Namen des jungen österreichischen linken Poeten, in Buchenwald umgekommen

ii Aus: Ein Pyrenäenbuch. Tucholsky GA Bd. 9 [T 1], S. 7-171, hier: S. 117, Z. 4033-4037

iii Theobald Tiger: Parc Monceau, Die Weltbühne 15.5.1924, Tucholsky GA, Bd. 6, [T 60], S. 141f.