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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik 2015 an Jochanan Trilse-Finkelstein

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft vergibt den in diesem Jahr erstmals mit 5.000€ dotierten Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik an den Philosophen, Literatur- und Theaterwissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten Prof. Dr. Jochanan Trilse-Finkelstein.
Damit erfahren sowohl sein Lebenswerk als auch sein unvergleichliches theaterwissenschaftliches und theaterhistorisches Wirken, seine biographischen Editionen, seine umfangreiche Herausgebertätigkeit und seine unermüdliche Präsenz als Theaterkritiker eine längst verdiente Würdigung.
Der Lebensweg des Preisträgers ist von seiner Zugehörigkeit zur jüdischen Lebenswelt ebenso geprägt wie von der Erfahrung unermesslichen persönlichen Leids und einer unerschütterlichen Haltung, die von Friedenshoffnung und
Toleranz zeugt.
Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören unter anderem eine umfassende Heine-Biographie, das Lexikon Theater International und zahlreiche Beiträge etwa zur Judaik, Theaterkritiken seit über 50 Jahren sowie eine Studie zu Heine und Tucholsky (»Heinrich Heine und Kurt Tucholsky in Paris«, 2010). Zur Buchmesse 2015 erscheint aus seiner Feder eine umfangreiche Biographie zu Peter Hacks im Leipziger Araki-Verlag unter dem Titel »Ich hoff, die Menschheit schafft es. Peter Hacks – Leben und Werk«.
Die Preisvergabe findet als Höhepunkt und Abschluss der Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft am 18.10. 2015 im »Theater im Palais« Berlin statt.
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Dankesrede von Deniz Yücel

Meine Damen und Herren,
liebe Mitglieder der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
verehrte Jury,
wie Sie sich denken können, ist die Verleihung des Kurt-Tu­cholsky-Preises nur ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer Schritt für mich. Ein großer Schritt raus der Schmuddelecke des Internets und rein in die Hall of Fame der deutschen Publizistik, wo mein Name nun dank Ihnen neben so verdienten Kollegen wie He­ribert Prantl, Wolfgang Büscher oder Erich Kuby stehen darf.
Ich habe mich informiert – ich kriege ja nicht alle Tage einen Preis verliehen, um genau zu sein: Der Kurt-Tucholsky-Preis ist der erste Preis, dessen man mich für würdig befunden hat. Ich habe mich also informiert – viele Journalistenkollegen würden sagen: ich habe recherchiert; ich halte es lieber mit der wahrheitsgemäßen Formulie­rung: ich habe im Internet nachgeschaut – dieser großartigen Erfin­dung, die Ratschläge für jede erdenkliche Lebenslage bietet: Was sage ich, wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht? Was sage ich, wenn meine Frau davongelaufen ist? Oder eben: Was sage ich, wenn ich einen Preis bekomme?
Das Internet also rät: Dankbarkeit und Demut zeigen, gerne auch Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, dass es mich erwischt hat und nicht jemand anderen, der dieser Auszeichnung würdiger ge­wesen wäre. Nun, undankbar will ich nicht sein. Aber für Bescheiden­heit sehe ich auch keinen Grund. Im Gegenteil, ich finde, die Jury hat eine gute Wahl getroffen.

***

Die Jury hat deshalb eine gute Wahl getroffen, weil die Diskus­sion in der Leserschaft über meine WM-Kolumne »Vuvuzela« – und ebenso über die Folgereihe »Trikottausch«, die ich zur der Frauen-WM im Jahr 2011 geschrieben habe –, unmittelbar an Tucholsky an­knüpfte. »Satire darf alles«, meinten die einen; »Satire darf alles, aber…« meinten die anderen.
Wir können also festhalten: Tucholskys berühmtes Diktum ist – zumindest vordergründig – weithin akzeptiert. Natürlich gibt es Aus­nahmen, viele Muslime in aller Welt zum Beispiel, die sich in den vergangenen Jahren nur allzu oft als dauerbeleidigte Leberwürste prä­sentiert haben, damit aber nur demonstrierten, wie wenig sie auf Höhe der Zeit sind. Oder Renate Künast, die trotz des Höhenflugs ihrer Partei die Wahl in Berlin verloren hat, weil sie, im Gegensatz zu Klaus Wowereit, im Ruf stand, eine allzu humorfreie Gesellin zu sein. Wer aber heute als humorfrei gilt, rangiert damit in der öffentlichen Meinung vor Kinderschändern und AKW-Betreibern, aber noch nach den Rauchern und Pestizidessern.
Ob die katholische Kirche mit ihren Klagen gegen die Zeitschrift Titanic oder Kai Diekmann und Jürgen Klinsmann mit ihren Klagean­strengungen gegen meine Zeitung, die taz –die zumindest für dieses Land gültige Erfahrung der vergangenen Jahre lautet: Wer klagt, ver­liert. Oft vor Gericht, immer in der Gunst der Öffentlichkeit. Mehr noch: Wer gegen einen Spott vor Gericht zieht, setzt sich erst recht dem Spott aus.
Ironie, einst ein Mittel der Subversion und der Kritik an herr­schenden Verhältnissen, ist also zum Mittel dieser Verhältnisse ge­worden. Ob in der Politik oder in der Werbung, ohne Witz geht nichts mehr. Damit aber erfüllt die Ironisierung der Gesellschaft eine stabili­sierende Funktion. Wenn alles bis zur Ironie selbst ironisch gemeint ist, ist niemand mehr für irgendetwas verantwortlich. »Repressive Toleranz« hätte Herbert Marcuse gesagt.
Das heißt nicht, dass Satire heute nicht mehr subversiv wirken könne. Auch diese Gesellschaft besteht auf ihre Konventionen und Wahrheiten, die bei Lichte betrachtet ähnlich abstrus sind wie jene Wahrheiten, die vor 20, 30 Jahren beispielsweise von dort aus ver­kündet wurden, wo das erste Haus der Demokratie stand, nämlich im Büro der SED-Kreisleitung in der Friedrichstraße. Zwar verträgt diese Gesellschaft im Gegensatz zum SED-Staat Kritik. Aber ganz so auf­geklärt und ressentimentfrei, wie sie sich selbst wähnt, ist sie nicht. Man muss vielleicht nur genauer hingucken, um die ehernen Wahr­heiten zu erkennen und zu kritisieren. Und man muss vielleicht ebenso rasant wie geschmeidig mal zum Florett greifen und mal zur Streitaxt.
Ein Ausdruck der allgemeinen Ironisierung ist, dass die meisten Zeitungen und Zeitschriften, aber auch Nachrichtensendungen im Fernsehen, oft genug an prominenter Stelle, mit Rubriken zur »Auflo­ckerung« daherkommen. Routiniert vorgetragene, aber harmlose Nachrichten aus dem Ressort Vermischtes oder kunstvoll formuliertes Feuilleton über der Welten Lauf, die den Leser (oder den Zuschauer) mit den Verhältnissen aussöhnen sollen, indem sie ihnen das Gefühl vermitteln, dass alles nicht so schlimm ist. Das Problem: Es ist aber schlimm.
Satire ist etwas anderes. Sie dient nicht der Unterhaltung, sondern der Kritik. Ihr Ziel ist nicht das Amüsement, sondern die Aufklärung. Einzig zu diesem Behufe bedient sie sich des Humors, weil der här­teste Schlag oft jener ist, der die Verhältnisse der Lächerlichkeit preisgibt. Lacht kaputt, was euch kaputt macht.
Dafür muss die Satire über die Grenze des Erträglichen hinausge­hen. Die bornierteste Affirmation, die gröbste Vergewaltigung der Sprache, das Bedienen niedrigster Dienste, die krasseste Übertrei­bung, der Bruch mit allen Konventionen, auch den selbst gesetzten, derb, böse, unkorrekt – es darf, es muss sogar wehtun. Und der sub­versiven Wirkung der Satire kann es nur nutzen, wenn sie nicht in die »Witzecke« verbannt ist; wenn also eine Restunsicherheit darüber bleibt, wie das alles nun gemeint ist.
Der Satiriker ist ein Kritiker, und als solcher muss er nicht, wie zuweilen gefordert wird, konstruktiv sein. Im Gegenteil, seine Auf­gabe ist die Subversion. Dafür darf er hämisch sein und er darf urtei­len, ohne Alternativen zu präsentieren. Nur eines muss der Satiriker bei alledem bleiben: glaubwürdig. Wenn, wie Tucholsky schreibt, der Satiriker ein gekränkter Idealist ist, der die Welt gut haben will und gegen das Schlechte anrennt, muss er seine Mitschuld daran eingeste­hen, dass die Dinge so schlecht sind wie sie sind.
Dieses Eingeständnis erfolgt natürlich nicht im Stil einer öffentli­chen Bußübung, sondern mit den Mitteln der Satire selbst. Der Satiri­ker nimmt also seine Branche, seinen Berufsstand, sein eigenes Blatt, sein eigenes politisches Milieu und natürlich sich selbst nicht von der Kritik aus. Schließlich neigen diejenigen, die davon überzeugt sind, für das Gute und Wahre (viel seltener auch für das Schöne) zu kämp­fen, in viel zu vielen Fällen zu Selbstgerechtigkeit und Denkfaulheit. Die Rede ist natürlich von jenem politischen Lager, dem ich mich fast seit meiner Kindheit zugehörig fühle: der Linken. »Wer links ist, hat mit den Linken ein Problem«, hat Stefan Ripplinger einmal nicht bloß im Hinblick auf die gleichnamige Partei geschrieben. Die Satire ist links, aber sie macht sich nicht gemein. Der Satiriker ist ein Moralist im Gewand eines Nihilisten. Er ist glaubwürdig, weil er sich selbst widerspricht. Er weiß es nicht besser, aber er weiß, was falsch ist.
Dafür steht der Satire heute ein neues Medium zur Verfügung: das Internet. Ich weiß nicht, was Tucholsky zum Internet gesagt hätte, aber ich glaube zu wissen, was Flaubert gesagt hätte. Auf die Frage, was er von der Eisenbahn halte, soll Flaubert nämlich geantwortet ha­ben: »Ich bin gegen die Einführung der Eisenbahn, weil sie nur noch Menschen erlaubt, zusammenkommen, um zusammen zu dumm zu sein.«
Nun könnte man diesen kulturkonservativen Skeptizismus mit dem Hinweis ergänzen, dass die Menschen durch Eisenbahn und In­ternet ja ebenso gut zusammenkommen können, um zusammen klug zu sein. So oder so aber ist das Internet ein Medium, in dem der Sati­riker Menschen findet, die ihm freiwillig und entgeltlich einen Teil seiner Arbeit abnehmen. Und mit etwas Glück und Können kann der Satiriker seinen Gegenstand dank des Internets nicht nur einen abs­trakten Kritik unterziehen, sondern auch, gewissermaßen am lebenden Objekt, den Beweis führen, dass es um die Dinge wirklich so bestellt ist, wie er es annimmt: nicht gut.
Hieran knüpft sich eine andere Frage an: Ist es eigentlich erfreu­lich oder erschreckend, wenn sich die Realität für so schlecht erweist, wie man als Kritiker angenommen hat? Darauf weiß ich keine Ant­wort.

***

Ich hatte eingangs gesagt, dass ich nicht undankbar sein möchte. Nun, da ich zum Ende komme, ist es höchste Zeit, diese Ankündigung wahrzumachen und einigen Menschen meinen ausdrücklichen Dank auszusprechen. Danken möchte ich zunächst meinen Eltern Ziya und Esma Yücel, die vieles gemacht haben; unter anderem mich zur Poli­tik, zur Literatur und zum Humor zu erziehen. Sobald ich hier von der Bühne trete, muss ich meinen Vater anrufen. Noch gestern sagte er zu mir: »Du hast mit deinen Kolumnen alle veräppelt; nicht, dass diese Leute dich jetzt veräppeln und nur so tun, als ob sie dir den Preis ge­ben wollten.« Ich bin mir nicht sicher, ob er das ernst gemeint hat. Aber: Papa, jetzt stehe ich schon auf der Bühne, dahinter kommen sie nicht mehr zurück. Hier ist der Scheck!
Ich danke ferner den Kolleginnen und Kollegen von der taz; je­nen, die mich in meinem Tun ermutigt haben und sich bereitwillig als »taz-Experten« zitieren ließen, und jenen, die mir zu verstehen gaben, dass sie mein Tun für weniger gut hielten.
Namentlich erwähnen möchte den geschätzten Dirk Knipphals, den Literaturredakteur der taz, der so freundlich war, mich für den Kurt-Tucholsky-Preis vorzuschlagen. Bereits der Vorschlag war eine Auszeichnung; wenn Sie das Feuilleton des taz kennen, werden Sie vielleicht wissen, dass der Publikumserfolg eines Films, einer Platte oder eines Romans noch lange kein Grund ist, in diesen heiligen Spalten besprochen zu werden.
Namentlich erwähnen möchte ich ferner meinem Kollegen Jan Feddersen, der viele freundlichen Worte für mich gefunden hat und dessen vornehmlichste Aufgabe als verantwortlicher Redakteur des WM-Teams darin bestand, alle externe und interne Kritik an meiner Kolumne ebenso freundlich wie bestimmt abzuwimmeln.
Erwähnen möchte ich ferner meinem Kollegen Matthias Urbach, den Verantwortlichen von taz.de, dazu bereit war, alle unumstößlichen Prinzipien von taz.de zugunsten dieses sozialen Experiments umzu­stoßen.
Erwähnen möchte ich den Kollegen Carl Ziegner, der die Texte auf taz.de produziert hat, oft genug nach Abpfiff der Spiele, also zur nachtschlafenden Zeit. Carl war stets mein erster Leser, und wenn er mir am Telefon lachte oder per Mail seine Lieblingsstelle vortrug, wusste ich: So schlecht kann’s nicht sein.
Erwähnen möchte ich schließlich Frauke Böger, die nicht nur meine liebste Kollegin ist, sondern auch sonst meine Herzallerliebste und die dieselbe Aufgabe bei meiner Kolumne »Trikottausch« über­nommen hat. Sie ist auch diejenige, die eine ganze Reihe von Fragen, die taz-Lesern immer wieder gestellt haben, mit ein und demselben Satz beantworten kann: Liest die Texte von Yücel eigentlich niemand gegen? Doch, ich! Kann überhaupt jemand in der taz-Redaktion den Yücel leiden? Doch, ich! Den Yücel will bestimmt keine haben! Doch, ich! Dafür liebste Frauke, Danke!
Danken möchte natürlich meinen Leserinnen und Lesern, die – aus freien Stücken zum Gesamtwerk Vuvuzela beigetragen haben. »Die Satire ist immer erst nach dem letzten Kommentar zu Ende«, hat ein kluger Leser mal eine Vuvuzela-Folge kommentiert. Besser kann ich es nicht sagen.
Ganz besonders danke ich natürlich der Kurt Tucholsky-Gesell­schaft und der Jury, dass sie mich des Kurt Tucholsky-Preises für würdig befunden hat. Als der eben erwähnte Kollege Dirk Knipphals mich fragte, was ich davon halten würde, wenn er mich für den Kurt-Tucholsky vorschlüge, war meine Antwort ungefähr: »Man muss vielleicht einen an der Waffel haben, um solches Zeug zu schreiben. Erst recht muss man einen an der Waffel haben, um dieses Zeug derart prominent und ohne den Hinweis ›Vorsicht: Satire‹ zu veröffentli­chen. Ganz gehörig einen an der Waffel muss man aber haben, um für dieses Zeug einen Preis zu spendieren.« Dafür, dass Sie einen an der Waffel haben, möchte Ihnen meinen Dank und meinen Respekt be­kunden.
Und last but not least danke ich Ihnen allen, dass Sie an diesem sonnigen Sonntagvormittag die Zeit gefunden haben, um mit mir zu feiern. Dafür meinen aufrichtigen, herzlichen Dank! Sağolun, varolun!

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Ein Lob dem Ätzenden – Laudatio auf Deniz Yücel

Laudatio auf Deniz Yücel, Träger des Kurt-Tucholsky-Preises 2011, gehalten am 22. Oktober 2011 im Berliner Haus der De­mokratie
Dieser Mann, das möchte ich Ihnen erzählen, ist so freundlich. Von ab­solut umgänglicher Art, er beherrscht die Umgangsformen, die man als angemessen, ja bürgerlich bezeichnet. Obwohl, und das trifft die­sen Menschen umso besser, in Wahrheit, neuen Forschungen zufolge, der zivilisatorische Habitus in Takt und Ton recht eigentlich dem proletarischen Teil aller Gemeinwesen zugerechnet werden muss: Wo es klamm ist und umständehalber materiell dauernd knarzt, ist es we­nigstens vonnöten, miteinander nicht raubauzig umzugehen; wo es ohnehin nach der Decke zu strecken gilt, muss man sich in puncto Manieren nicht auch noch auf die Nerven gehen.
Damit komme ich, sozusagen, ganz zwanglos auf Deniz Yücel zu sprechen, der mein Kollege ist, und zwar ein von mir überaus ge­schätzter, denn er bekommt von Ihnen dieses Jahr den Kurt-Tu­cholsky-Preis für seine Kolumne namens »Vuvuzela«, die voriges Jahr angelegentlich der Fußballweltmeisterschaft der Männer in Südafrika beinahe täglich in der taz, in der papiernen wie der elektronischen Ausgabe, erschien. Und das ging auch mich was an, denn das Sonder­projekt unserer Zeitung zu diesem weltgrößten Sportereignis wurde von mir geleitet – und Deniz Yücel war ein Teil unseres Teams.
Okay, Kollege Yücel kann auch zur Last fallen. Ich fand übri­gens: auch mir. Mehr aber anderen Kollegen, denn die Allüren einer, lassen Sie es mich so sagen, Diva mit menschlichem Antlitz, sind die­sem Manne ja nicht fremd. Mir fallen zu dieser seiner Aura so viele Anekdoten ein – etwa auch die, dass er sehr mächtigen Wert darauf legt, nicht als Spross einer migrantischen Familie zu gelten, nein, er lässt sich nicht so leicht türkisieren, sondern als Kind eines Kommu­nisten, den es ins Hessische verschlagen hat. Hören Sie Deniz Yücel mal anderthalb Minuten zu – man hört aus ihm Äppelwoi und grüne Soße heraus.
Aber, Spaß und Ernst beiseite: Diese Kolumne namens »Vuvu­zela« war in meinen Augen – und ist es noch! – ein Juwel zeitgenössi­scher deutscher Kolumnistik. Von Satire oder Comedy möchte ich in diesem Zusammenhang lieber schweigen: Denn das Denken und Schreiben meines Kollegen lebt, anders als die Autoren von Zeit­schriften wie »Eulenspiegel« oder vor allem »Titanic« nicht vom Lus­tigmachen über ander Leute, von Bildungsdünkel und lippenkräuseln­der Mokanz über die Zumutungen und Anmaßungen anderer Men­schen, gern solcher, die sich nicht mit gleichen, sprachlichen Mitteln wehren können. Und Deniz Yücel passte mit seinen sprachlichen Vermögen umso schärfer zu den anderen – als einer, der es besser und, jawoll, ätzender kann.
Lebt beispielsweise der Humor der taz-Satireseite »Wahrheit« überwiegend von dem Muster: »Helmut Kohl hat Käsefüße« … wor­aufhin das Publikum, auch unser alternatives gesinntes, lacht, so muss dem Kollegen Yücel das begnadete Verdienst zuerkannt werden, dass er nur und exklusiv und ausschließlich Großmäuler, Lautsprecher, Se­xisten, Hasenpfötchen und Feiglinge zu geißeln weiß. Humor auf Kosten Schwacher? Nicht mit ihm. Die »Vuvuzela«, wie auch seine sehr ähnlich gestrickte Kolumne zur Fußballweltmeisterschaft der Frauen, die er »Trikottausch« nannte, lebten vom Spott über das, was zu grell war, zu übertrieben, zu national aufgeheizt und zu unsauber. Sein Vorbild, falls man das so sagen darf, könnte der »Bild-Zeitungs­kolumnist« F.J. Wagner sein – in Wahrheit ist dieser nur ein Kopist dessen, was Yücel schriftlich zu umreißen vermag. Anders als mein Kollege scheut Wagner nicht vor Mitteln der Hetze, der missbräuchli­chen Art und des Schmunzelns auf Kosten Schwächerer zurück. Dass er das GroßeGanze im Nationalen rechtsgedreht denkt, ist ohnehin die Sache: Aber das soll nicht kritisch gemeint sein – konservativ zu den­ken ist ja nicht strafbar.
Yücel jedenfalls wirkt mit seinen Texten subversiv, er provoziert mit ihnen heftig böse Reaktionen, er missachtet die Gebote jener Menschen, die man die politisch Korrekten nennen könnte – er bringt sie schmallippig-giftelnd zum Schäumen – und das muss man gut fin­den, denn andere Leidenschaften haben diese Menschen nicht.
Yücel, wenigstens dies auch noch, ist aber passioniert an und für sich. Nichts im Leben ist ihm einerlei, deshalb möchte ich ihn auch nicht einen Freund stumm qualmender Gemütlichkeit nennen – weder solche linker Provenienz noch die von rechts. Ihr Preisträger ist ein würdiger, denn er schludert gegen die Gedankenlosigkeit von Alliier­ten und kameraderiehafte Aspirationen von Gutmeinenden. In Wahr­heit ist Deniz Yücel ist guter Mensch – er muss ein Freund sein von allen, die es nicht bequem haben möchten, schauen sie sich wach und lustvoll die Welt an.
Herzlichen Glückwunsch diesem Preisträger!
 JAN FEDDERSEN, Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz, Pub­lizist und Buchautor in mannigfaltiger Weise, Liebhaber von Tucholsky-Filmen wie »Schloss Gripsholm« und ansonsten kein Freund allzu destruk­tiver Kritik an der Weimarer Republik. Er ist bekennender Verfassungspat­riot.

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Dankesrede zur Verleihung des Tucholsky-Preises von Lothar Kusche

Sehr geehrte Damen und Herren, geehrter diensthabender Vertreter der Feuerwehr,
auch ich begrüße Sie der Tageszeit entsprechend mit einem herzlichen (…) „Mahlzeit” allerseits!
Der Kurt-Tucholsky-Gesellschaft, die Otto Köhler und mich in diesem Jahr mit dem Tucholsky-Preis bedacht und gewissermaßen noch aufgewertet hat, danke ich herzlich.
Da kann ich für meine Person nur sagen: Zuviel der Ehre. Klingt ziemlich kokett (und das ist es auch).
Und vor der wunderbaren Gisela May mache ich einen großen Kratzfuß für ihre Laudatio. Ich bin in meinem relativ langem Leben schon oft herabgewürdigt worden, besonders von Mathematiklehrern und Kulturkritikern. Niemals aber hat mich jemand dermaßen hinaufgewürdigt. Statt eines Gänseblümchens ein Lorbeerkranz! Die Lorbeerblätter lasse ich mir nun – um ein poetisches Bild zu benutzen – genießerisch auf der Zunge zergehen.
Gelegentlich wurde ich befragt, wann und wie ich denn eigentlich Tucholskys Persönlichkeit, seine Bedeutung, seine Sendung kennen gelernt und wann ich zum ersten Mal was von ihm gelesen habe. Das ist schwer zu beantworten. Soweit ich mich erinnere, existierte Tucho schon immer in meinem Hinterkopf. Und obwohl ich manchmal nicht genau weiß, wo bestimmte Sachen in meinen stilvoll unaufgeräumten Bücherregalen stehen, hatte ich seine Bände immer griffbereit, erstens, weil ich oft darin nachschlage oder durch ausführlichere Lektüre Rat und Trost suche. Und meistens auch finde. Und zweitens sehe ich oft nach, ob mir ein Tucholsky-Band geklaut worden ist. So was passiert dann und wann. Da sieht man doch, sagen wohlmeinende Freunde, wie wertvoll diese Bücher sind. Sie meinen: waren. Bücher, die nicht mehr da sind, waren allenfalls wertvoll. Wladimir Kaminer ist mir noch nie entwendet worden.
Natürlich konnte ich Kurt Tucholsky nicht mehr in persona kennen lernen. Wie schade! Filmaufnahmen oder Schallplatten sind mir nicht bekannt. Mir begegneten Menschen aus seinem Leben: Mary Gerold-Tucholsky, Ernst Rowohlt, Ernst Busch und Hanns Eisler, Rudolf Arnheim und Kate Kühl. Und ohne solche intelligenten und gründlichen Lektoren und Editoren wie Erich Kästner, Fritz J. Raddatz, Roland Links, Walther Victor und viele andere wäre meine Generation nie so intensiv mit seinem Werk vertraut geworden. Ein besonderes Erlebnis war das legendäre Tucholsky-Programm auf dieser Bühne hier – lange her, aber unvergesslich für viele Leute: Gisela May, Ernst Busch, Horst Drinda, der Komponist und Pianist Peter Fischer – als Ansager Karl Kleinschmidt, seines Zeichens Domprediger zu Schwerin. Kleinschmidt hat auch eine kleine, etwas flüchtige, aber lustige Bildbiographie des Mannes mit den 5 PS herausgegeben. Einer der großen Darsteller des letzten Jahrhunderts (nämlich ich) sollte mal in einem Film als Kurt Tucholsky auftreten. Soweit kam es nicht. Der Regisseur wollte mich nicht haben. Ich war ihm etwas zu dick für diese Zwei-Minuten-Szene, in der K. T. irgendwo hinten vorbeigeht. Auch missfiel ihm mein leicht berlinischer Tonfall. Er hatte sich seinen Helden anders vorgestellt und besetzte die Rolle mit einem Charakterdarsteller aus Erfurt. Vergessene Anekdote!
Eine Freundin fragte mich: Wer war oder ist eigentlich größer – Tucholsky oder du? Ich konnte nur antworten: Größer ist allemal Goethe.
Wie aber klang die Stimme des Schloß-Gripsholm-Dichters?

… Das gehauchte Berlinisch, in dem die Stimme Ruhepausen braucht, die von ‚nich‘ gebildet werden… Ein ganz einheitlicher Mensch von einundzwanzig Jahren (…) Will Verteidiger werden, sieht nur wenige Hindernisse – gleichzeitig mit der Möglichkeit ihrer Beseitigung… Zweifel an der eignen Fähigkeit zur Pose, die er sich aber von größerer Welterfahrung erhofft – endlich Angst vor einer Verwandlung ins Weltschmerzliche, wie er es an älteren Berliner Juden seiner Richtung bemerkt hat, allerdings spürt er vorläufig gar nichts davon… Er wird bald heiraten.
(Aus Franz Kafkas Tagebuch, 1911)

Neben dem gehauchten Berlinisch, das Kafka bei Tucholsky wahrnahm, schrieb und sprach der von uns schon als Schülern bewunderte Mann auch ein bestimmtes und sehr klares Deutsch wie in diesem Peter-Panter-”Schnipsel” (Weltbühne, Dezember 1930):

Die stupide Anschauung Ernst Jüngers, Kampf sei das Primäre, das Eigentliche, wofür allein zu leben sich verlohne, steht auf ähnlichem Niveau wie die eines falschen Friedensfreundes, der jeden Kampf verabscheut und für Kamillentee optiert. Weder ewiger Kampf ist erstrebenswert noch ewige Friedfertigkeit. Nur Krieg … das ist eine der dümmsten Formen des Kampfes, weil er von einer recht unvollkommenen Institution und für sie geführt wird.

Das muß laut gesagt werden, damit es auch gehört wird. Freunde und ich lasen Mitte der vierziger Jahre, um dem Krieg unseren Krieg zu erklären, in Berliner Klubs, Schulen und anderswo einschlägige Texte von Wolfgang Borchert und natürlich auch von Tucho vor.
In jenen Tagen hatten wir Kontakt zu Heinz Kraschutzki, einem Mann ganz nach unserem Geschmack. Kraschutzki, geboren 1891 in Danzig, Kapitänleutnant a.D., 1932 nach Spanien emigriert, wo er bald ausgebürgert und inhaftiert wurde (…). Uns gefiel er als verdienstvoller Organisator der Internationale der Kriegsdienstgegner. Ihm verdankte ich die Möglichkeit, einmal in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee Borchert und Tucholsky zu rezitieren. Die Insassen des wenig gastlichen Hauses begrüßten meinen Besuch, weil sie endlich mal aus ihren Zellen heraus in einen Vortragsraum geführt wurden. Ich schwitzte sehr. Bekanntlich ist es viel einfacher, in einen Knast reinzukommen als wieder aus ihm rauszukommen. Draußen wartete aufgeregt meine Begleiterin. Nun war ich wieder da . (Vielleicht hatte sie mit dem Gedanken gespielt, man würde mich für längere Zeit in der JVA festhalten? Das weiß ich heute nicht mehr so genau.)
Ungefähr 43 Jahre war ich Bühnenarbeiter, und zwar bei der „Weltbühne”, die im so genannten 1000-jährigen Reich nur in Exil-Ausgaben erscheinen konnte und 1946 von der Witwe Carl von Ossietzkys, Maud von Ossietzky, und Hans Leonard neu herausgegeben wurde. Ich hatte Sympathien für die Zeitschrift; für mich war sie ja Tuchos Blatt. 1951 erschien dort meine erste Glosse, und ich blieb ein treuer Mitarbeiter mit Marginalien, Kommentaren, Kritiken, Satiren, vertrug mich ziemlich gut mit den Redakteuren Hans Leonard, Ursula Madrasch, Hermann Budzislawski, Peter Theek – bis ein neuer Gesellschafter, Immobilienhändler aus Frankfurt am Main, die mittlerweile lauwarme „Weltbühne” fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Wie viele Journalisten konnte ich mir das Schreiben nicht plötzlich abgewöhnen.
Als Eckart Spoo vor zehn Jahren ein „Weltbühnen”-Nachfolge-Blatt namens „Ossietzky” ins Leben rief, holte er mich dazu. Im Kreis solcher Kollegen wie Ulla Jelpke, Daniela Dahn, Susanna Böhme-Kuby, Otto Köhler, Matthias Biskupek, Gerhard Zwerenz, Thomas Kuczynski und so weiter fühlt man sich wohl. Ich hatte nebenher ungefähr 40 Bücher und Bücherchen veröffentlicht. Die sind alle vergriffen.
Mit Kurt Tucholsky gabs mal ein kleines Problem. Keine Frage, dass ich ein Verehrer von Kurt Tucholsky war und bin (…). Die Umbenennung der alten Berliner Artilleriestraße in Tucholskystraße erfüllt mich noch heute mit Freude (…). Als noch jungem Menschen war mir die Ehre zuteil geworden, im VEB Kühlautomat zu Berlin-Johannisthal einen Vortrag über die „Weltbühne” im allgemeinen und Tucholsky im besonderen zu halten (…). Vorm Eingang zum Klubraum wurde ich von einigen netten jungen Männern (damals war ich auch noch so eine Art junger Mann) mit freundlichen Zurufen empfangen: „Imma mit die Ruhe, Kleena, jetzt brauchste noch nich rinjehn. Tanz fängt erstens frühestens inne Stunde an. Vorher hält erst noch eena ne Rede, na bitte, wennet sein sehnlichsta Wunsch is – aber ohne uns, wah!”
So was braucht jeder Referent zur seelischen Einstimmung. Das Furchtbare ereignete sich erst in der nachfolgenden Diskussion. Nach meinem profunden Vortrag über Tucholsky fragte einer dieser grauhaarigen Typen, die auf allen Versammlungen hauptsächlich deshalb anwesend sind, um die Referenten auf diesem Weg zur Hölle genügend zu beheizen: „Na schön, junger Mann, aber wie war das denn nun mit Theodor Tagger? Sie haben hier alle möglichen oder unmöglichen Tucholsky-Pseudonyme bemüht, sind aber nie auf Theodor Tagger gekommen.” Ich versuchte ohne nennenswerten Erfolg diesen Mann davon zu überzeugen, dass Theodor Tagger der wirkliche Name des erfolgreichen Theaterleiters und -autors Ferdinand Bruckner (1891–1958) gewesen sei. Der Bursche glaubte mir kein Wort. Oder er tat so. Wir debattierten zwanzig Minuten lang erfolglos. Und das war meine erste Tucholsky-Produktion. In seinem fernen Grab möge Tucho auch dies seinem Nachahmer verzeihen.
Mit meinen vielen Erinnerungen an ungezählte große (und kleine) Theater-Größen, die mich seit mehr als fünfzig Jahren – mit Unterbrechungen und Pausen (versteht sich) bezauberten, möchte ich das geduldige Publikum höflicherweise verschonen. Auf dieser Bühne, die für mich natürlich nicht nur aus ein paar Brettern besteht, sondern aus jenen speziellen Spundbrettern, welche die Welt bedeuten, saß ich auch mal mit meinem Freund Hans Bunge – da vorne noch vor dem eisernen Vorhang (aus Sicherheitsgründen? Keine Ahnung), als wir etwas über den schwierigen Umgang mit dem schwierigen Ernst Busch in einem Matinee-Gespräch zu erklären versuchten. Der Regisseur, Autor und Dokumentarist Bunge betreute damals auch ein nicht mehr existierendes kleines Theater mit 99 Sitzplätzen – die Kleine Komödie, befindlich unter den Kammerspielen. Ein hübscher und behaglicher Raum war das.
Bunge arrangierte dort neben vielen andren Sachen auch die Vorstellung einer damals neu erschienenen Märchensammlung Die Rettung des Saragossameers. Unter den sehr vielen Märchentanten und –onkels war auch ich mit einem auffallend kurzen Text. Der lautete so: Minutenmärchen Nr. 3. Es war einmal ein richtiger alter Deutscher, der hatte einen Fehler gemacht. Und nun will ich euch erzählen, liebe Kinder, was er danach tat: Er ghab den fehler zu. Peng, aus.
Der Einfachheit halber kriegte jeder von uns das gleiche Honorar. 150 Mark, glaube ich. Na immerhin.
Ein anderer meiner DT-Freunde, der Germanist, Schauspieler und Regisseur Ernst Kahler, Augen- und Ohrenzeuge des Events (den Ausdruck gabs seinerzeit noch nicht) offenbarte seine Talente als Rechenkünstler, indem er uns hinterher in der Kantine sein kleines feines Buch Eine himmlische Rolle mit folgender Widmung schenkte: Lothar und Ingelott überreicht an dem Tage, als Lothar für einen Stundenlohn von 72.000 Mark 1 Märchen erzählte. 5. Oktober 1976.
Das waren noch Zeiten!
Erinnern sich die Berliner etwa mit einem Denkmal an ihren früheren Mitbürger Kurt Tucholsky? Das wäre eine widersinnige Hoffnung. Niemand denkt wirklich an eine Figur, die ihn von einem sogenannten Denk-Mal herunter anglotzt. Wäre es anders, so müssten die Bewohner mancher deutschen Stadt täglich an Bismarck denken oder an Kaiser Willem. Oder Menschen auch aus kleineren Siedlungen hätten zu Sowjet-Zeiten rund um die Uhr an Väterchen Stalin gedacht. Das haben sie vielleicht sogar getan, aus gewissen Gründen, nicht wegen der Denkmäler.
In Berlin gibt’s indes eine Tucholskystraße. Ganz in der Nähe dieses Theaters. Diese Straße hieß früher Artilleriestraße, weil in der Gegend mal eine Kaserne für Artilleristen war. Diese Straße verläuft vom Spreeufer bis zur Torstraße. Auf der einen Seite befindet (oder befand?) sich die Charitéklinik für natürliche Heilweisen, worinnen einst der Professor Paul Vogler auf natürliche Weise heilte. Hauptsächlich mit Wasser. Daher nannte man den Professor auch „Plansche-Paule”. Auf der anderen Seite wohnte zeitweilig ein prominentes DT-Mitglied namens Eberhard Esche. Die Torstraße hieß früher Wilhelm-Pieck-Straße. Kleiner Hinweis für Gäste aus älteren oder exotischen Ländern: Pieck war mal DDR-Präsident.
Apropos: Der amtliche „Reichsanzeiger und Preußische Staatsanzeiger” gab am Freitag, dem 25. August 1933, bekannt, wem die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt wurde: dem Dr. Tucholski, Kurt, geschrieben mit i. Und übrigens auch dem Pieck, Wilhelm.
Dazu möchte ich folgendes sagen: Gar nichts.
Gehalten am 21. Oktober 2007 im Deutschen Theater in Berlin

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Dankesrede zur Verleihung des Tucholsky-Preises

»Der Krieg ist aber unter allen Umständen tief unsittlich«. Das ist das Motto dieser Tagung. Das sagt Kurt Tucholsky. Und das ist uns Deutschen zehn Jahre nach seinem Tod ganz selbstverständlich geworden.
Aber ich doch nicht. Ich konnte 1945 als zehnjähriger Dorfbewohner – in einem kleinem Nest bei Bad Kissingen, wo Bismarck immer kurte und wo er sein Kissinger Diktat zur Lösung der Balkankrise entwarf – ich konnte nicht verstehen, daß unser Krieg verloren sein soll. Ich glaubte, noch gut zwei Jahre, daß der Führer lebt und daß unsere Wehrmacht mit ihren Wunderwaffen aus dem Untergrund aufstehen und den Feind schlagen wird. Und hätte ich nicht die Gnade der allzu späten Geburt gehabt, in der Waffen-SS wäre ich auch noch gelandet.
Der Abscheu der Deutschen vor dem Krieg hielt bis nahezu zum Ende des Jahrhunderts an. Bis zum Beginn der rot-grünen Reformkoalition. Da, um 1998/99 stellte sich für uns Deutsche heraus, daß Krieg durchaus nicht unsittlich sein muß. Tucholsky ist seither widerlegt.
Es war Gerhard Schröder, der als erster deutscher Kanzler seit Adolf Hitler wieder Krieg führte. Der Kriegsgrund war zutiefst sittlich. Es war ein Ritus der Adoleszenz, der Reife, der Deutschland aus seiner 1945 selbstverschuldeten Unmündigkeit befreite, der Deutschland endlich wieder erwachen ließ, erwachsen machte. Es war der Gründungsmythos der Berliner Republik.
Schröders Außenminister Joseph Fischer hat dies auf den Punkt gebracht. Weil der serbische Hitler Adolf Milosevic den Balkan in ein – da kennen wir uns aus – neues Auschwitz verwandelt hatte, verwandelte sich die bis dahin gültige Doppelparole »Nie wieder Auschwitz«, »Nie wieder Krieg« in eine saubere Alternative.
Mit dem Schlachtruf »Nie wieder Auschwitz« stürzten wir uns in den Krieg.
Zuvor war Verteidigungsminister Rudolf Scharping – Sie erinnern sich: der heutige Präsident der manchmal ehrlichen Radfahrer – an der Spitze einer uniformierten Bundeswehrkompanie in die Gedenkstätte Auschwitz einmarschiert, um sich mit Hilfe eines dort niedergelegten Kranzes die Weihe für diesen Krieg zu verschaffen.
Es ging auch gar nicht anders: Nach der vollzogenen Wende war Krieg notwendig. In seinen soeben erschienenen Memoiren unterrichtet Joseph Fischer das deutsche Volk, wie man sich so einen Krieg holt. Noch nicht im Amt, bat er seinen FDP-Vorgänger Klaus Kinkel, ich zitiere, »um den aktuellen Sachstand in der Frage Kosovo und NATO über die Mobilisierungsentscheidung der militärischen Kräfte (Act.Ord). Danach würde der konkrete Einsatzbefehl allein beim NATO-Oberbefehlshaber liegen, und würde dieser den Befehl – nach einem Anruf aus Washington erteilen, dann hieße dies Krieg.« (S.106)
Eine Seite weiter in seinen Memoiren hat Fischer sich – auch für uns – entschieden: »Innerhalb weniger Minuten hatte ich, ohne Abstimmungsmöglichkeit mit Partei und Fraktion, eine der weitreichendsten Entscheidungen in meinem Leben zu treffen gehabt, nämlich die über Krieg und Frieden…« (S.107)
Joseph Fischer wählte den Krieg. An der Seite der USA. Aber er wählte frei und gern. Denn es war im Grund ein alter deutscher Krieg. Der Krieg zur Vernichtung Jugoslawiens, den Deutschland 1941 führte, der damals – ohne Kriegserklärung – mit der Bombardierung Belgrads begann, und 1999 ebenso. Und der auch schon 1914 als Krieg gegen Serbien, begangen wurde, gegen Serbien, das sich Österreichs Sühneforderungen für den Mord von Sarajewo unterworfen hatte. Doch weil Deutschland sich an Österreichs Seite stellte, sollte »Serbien sterbien« wie der Kriegsruf damals hieß.
Dann wurde 1999 aus Jugoslawien das neue Auschwitz, gegen dessen Urheber wir, das erwachsene Deutschland, Krieg führen mußten.
Es lief alles wie im Ersten Weltkrieg. »Nichts, nicht einmal die Feldpost, hat in diesem Krieg so kläglich versagt wie der deutsche Geist«, schrieb im November 1914 der deutsche Schriftsteller Gustav Landauer, den fünf Jahre später deutsche Freikorps auf viehische Weise lynchten.
Ich, der ich als dummer kleiner Junge in Euerdorf, ja so hieß das Nest, schon einmal auf so was reingefallen war, schämte mich, daß unser neuer deutscher Gegenwartsgeist am Ende des Jahrhunderts schon wieder Feldpost spielte – eine liebreizende Kollegin trampte mit ihrem Hund im Bundeswehrpanzer durch das zerschlagene Jugoslawien.
Vorletzte Woche hat auf der Frankfurter Buchmesse die katalanische Schriftstellerin Nuria Ama gesagt: »Wir wissen, dass es Sache der Politiker ist, mit Lügen zu manipulieren, und die der Schriftsteller wie Kafka, Wahrheiten aufzudecken.«
Nun haben wir zwar keinen richtigen Kafka im deutschen PEN, und er selber ist auch nie irgendwo PEN-Mitglied gewesen, aber Schriftsteller zum Aufdecken hätten wir in unserem Verein doch die Menge, dachte ich, nach Josef Fischers Krieg. Und so – ich will jetzt mal ins Plaudern geraten – stellte ich zusammen mit Christoph Hein, dem gerade ausgeschiedenen Präsidenten des Deutschen PEN auf unserer Mitgliederversammlung im Jahr 2000 einen Antrag.
Er ist mit der überwältigenden Mehrheit des im PEN versammelten Geistigen Deutschland abgelehnt worden.
Und so können sie ganz gewiß sein, meine Damen und Herren: der Deutsche Geist, die Deutschen Intellektuellen, die Deutschen Schriftsteller haben nichts, aber auch gar nichts mit den folgenden Sätzen aus dem Jahr 2000 zu tun, die ich Ihnen genau deshalb nicht ersparen will:

Ein Jahr nach dem dritten deutschen Krieg im 20. Jahrhundert bedauert die Mitgliederversammlung des PEN-Zentrums Deutschland, daß Schriftsteller dazu bereit waren, sich hinter die Friedenspolitik der deutschen Bundesregierung zu stellen, die eine Politik des Krieges war.
Heute, nach den Untersuchungen des ehemaligen Brigadegenerals und Leiters des Zentrums für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr, Heinz Loquai, scheint dies festzustehen: Das »Massaker von Racak«, mit dem wir kriegsbereit gemacht werden sollten, war mit hoher Sicherheit eine (leider normale) Schießerei zwischen Bürgerkriegsgegnern. Und der »Hufeisenplan« zur Vertreibung aller Kosovoalbaner, mit dem Verteidigungsminister Scharping die Bombardierung Jugoslawiens rechtfertigte, war eine Erfindung des Bundesverteidigungsministeriums, um die erst nach der NATO-Bombardierung einsetzenden großen Flüchtlingsströme zu begründen.
Wir wissen heute, daß es 1999 entgegen der Behauptung von Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping in der Kosovohauptstadt Pristina kein serbisches KZ gab. Wohl aber gab es 1944 an diesem Ort ein deutsches KZ, in dem mit Hilfe von kosovoalbanischen SS-Leuten Juden, Serben und Roma ermordet wurden.
Wir wissen, daß im jugoslawischen Bürgerkrieg von allen Seiten schwere Verbrechen begangen wurden, Verbrechen, die es aber nicht rechtfertigen, mit der Parole »Nie wieder Auschwitz« (Außenminister Joseph Fischer) zugunsten einer Seite einzugreifen, die schon im Zweiten Weltkrieg auf der Seite Großdeutschlands stand.
Schon im Ersten Weltkrieg haben berühmte deutsche Schriftsteller und Professoren sich in gemeinsamen Erklärungen und Aufrufen hinter ihre Regierung gestellt und die deutsche Propaganda unterstützt. Wir warnen vor Fortsetzung in einer Zeit, in der die Bundeswehr als Krisenreaktionsstreitmacht fähig gemacht werden soll, jederzeit und an jedem Punkt der Welt militärisch einzugreifen. Die – entschieden selektive – Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen in den Staaten, die wir zu Recht oder zu Unrecht als Schurkenstaaten betrachten, kann keine Rechtfertigung dafür sein, daß von deutschem Boden wieder Krieg ausgeht. Wir fordern Mißtrauen gegenüber allen deutschen Regierungen, die sich so leichtfertig wie das gegenwärtige Kabinett zu kriegerischen Einsätzen bereit finden.
Wir fordern die deutschen Medien auf, sich nach dem Vorbild der französischen Presse bei ihren Lesern, Hörern und Zuschauern für die Fehlinformationen zu entschuldigen, die ungewollt erfolgten, da man der Desinformation und Propaganda der Regierung geglaubt hatte.

Da hätten Sie mal, meine Damen und Herren, angesichts dieses Textes unseren Ersatz-Kafka, den damaligen Generalsekretär und heutigen Präsidenten des Deutschen PEN, Johano Strasser, erleben sollen. »Er gilt als einer der Vordenker der SPD«, las ich letzten Freitag in der Rotenburger Rundschau, dort an der Wümme las er vor dem SPD-Ortsverein aus seinen Memoiren.
Alles Quatsch, der Antrag sei unsinnig, alles längst überholt. Sein Freund Scharping habe ihm versichert, daß es den Hufeisenplan doch gebe und alles andere auch. Und im übrigen können wir nicht lang diskutieren. In zehn Minuten ist die Mitgliederversammlung zu Ende. Wenn nicht, wird das Essen kalt.
Der Deutsche Geist von 2000 hatte Hunger, stimmte rasch mit 9 gegen 78 Nein-Stimmen den ihm zugemuteten Antrag hinweg und begab sich pünktlich zum Abschiedsmahl.
Wenige Tage später aber erhob sich der Deutsche Geist in Moskau zu heftiger Kritik. Beim Internationalen PEN-Kongreß in Moskau werden wir, so sprach Generalsekretär Johano Strasser im Rundfunk, »die Möglichkeit haben, in der russischen Öffentlichkeit und in der Weltöffentlichkeit noch einmal anzusprechen, was in Tschetschenien geschehen ist und immer noch geschieht, daß dort ein Krieg geführt worden ist, nicht gegen Kombattanten ausschließlich, sondern gegen die Zivilbevölkerung mit ungeheuren Grausamkeiten, daß parallel dazu die öffentliche Meinung manipuliert worden ist, daß Journalisten unter Druck gesetzt worden sind und gehindert sind an der Berichterstattung.«
Man werde in und an die Wunde Tschetschenien rühren, versprach Johano Strasser und insbesondere bei der Eröffnungsrede von Günter Grass werde »das Thema Tschetschenien eine Rolle spielen«.
Das war der richtige Mann am richtigen Ort. Wenige Monate zuvor hatte der deutsche Dichter den Krieg der Deutschen gegen Jugoslawien bejaht und das »Herummogeln um die Notwendigkeit des Einsatzes von Bodentruppen« getadelt.
Daß der russische PEN-Club kein Geld von der Regierung bekomme, war für den deutschen Generalsekretär »in dieser Situation eher ein Vorteil«. Denn: »Die Ford Foundation hat mitfinanziert, so daß auch von der Finanzierungsseite her Unabhängigkeit garantiert ist.«
Die Ford Foundation, die einst auch mit CIA-Geldern den Kongreß für die Freiheit der Kultur finanzierte, ist eine US-Stiftung zur Verbreitung der Demokratie, eingerichtet von Henry Ford, dem Freund Hitlers und Begründer des modernen US-Antisemitismus.
In Moskau aber sprach Günter Grass: »Das immerhin leistet die Literatur: sie schaut nicht weg, sie vergißt nichts, sie bricht das Schweigen.«
Ja, es war beste deutsche Literatur, als PEN-Freund Scharping nicht schwieg, als er die Wahrheit über den Serben erzählte: daß er »Frauen ihre Kinder aus den Armen reißt und ihre Köpfe abschneidet, um mit ihnen Fußball zu spielen«, daß »ermordeten Schwangeren der Bauch aufgeschlitzt wird und der Fötus erst gegrillt und dann in den Bauch zurückgelegt wird«.
Große Erzählkunst. Günter Grass findet ihren Urheber öffentlich gut: »Ich finde es jämmerlich, wie die Presse mit so einem hervorragenden Außenminister wie Fischer und so einem hervorragenden Verteidigungsminister wie Scharping umgeht.«
Ich achte Günter Grass, wir kennen uns, meist aus der Distanz seit 45 Jahren, ich halte ihn, nicht einfach nur, weil man das zu seinem 80. Geburtstag muß, für einen der großen deutschen Schriftsteller. Ich bewundere seinen Fontane-Roman »Ein weites Feld« – wie er die Enteignung der Ostdeutschen durch die Treuhand schildert und dafür durch eine wütende westdeutsche Kritik gemaßregelt wurde.
Aber eines kann ich nicht vergessen. Vor zwei Jahren wurde von unbekannter Seite Gerhard Schröder für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Günter Grass, der selbst als Literaturnobelpreisträger kein Vorschlagsrecht für den Friedensnobelpreis hat, unterstützte öffentlich diese absurde Nominierung: Friedensnobelpreis für den ersten deutschen Kriegskanzler seit Hitler, nur weil er einmal – nicht zuletzt aus wahltaktischen Gründen – einmal einen Krieg und schon das stimmt nicht einmal ganz, ausgelassen hat, der ohnedies nie zu gewinnen ist. Der Neue Deutsche Geist – und mit ihm Günter Grass – hat durch die fröhlichen Rotweinrunden im Kanzleramt viel verloren.
Und er gewinnt auch nichts, wenn er sich heute von einem ehemaligen IWF-Präsidenten, der ganze Staaten wie Argentinien in Not und Bankrott trieb, zum Geburtstag belobhudeln läßt. Und sich dessen freut. Weil er in den letzten Jahren »viel Häme und Niedertracht« erfahren habe, »tut es mir gut«, sagt er zu der Ehrung von Horst Köhler, »wenn meine sechs Jahrzehnte währende Arbeit anerkannt wird.« Patriot ist er geworden, der sich stolz dazu bekennt, nach einem Sieg von mutmaßlich deutschen Fußballern das Deutschlandlied gesungen zu haben.
Wer anders als der in Günter Grass transsubstanziierte Deutsche Geist denkt, wird abgestraft. Da wird ein Litereraturpreis vergeben, der Preisträger ist schon gebeten, sich den Tag für die Übergabe frei zu halten – und dann erfährt er aus der Zeitung, daß er doch kein Preisträger sein darf: Peter Handke, der deutsche Schriftsteller, der das allgemeine Kriegsgeschrei nicht mitgemacht hat. Den Heine-Preis sollte er nicht bekommen, weil er sich weigert, anzuerkennen, daß Milosevic Hitlers Widergänger sei.
»Ich lebe ungern damit, dass man Schriftstellern eine Art Genie-Bonus zuspricht, der ihnen dann erlaubt, den größten und gemeingefährlichsten Unsinn mitzumachen.« So sprach Günter Grass über Peter Handke zur Wochenzeitung Die Zeit. Und das war keine Selbstkritik.
Aber nun will ich Dank sagen, Dank Dir lieber Gerhard Zwerenz für die Laudatio, die ich nicht verdient habe, Dank der Tucholsky-Gesellschaft, für den Tucholsky-Preis, den ich dennoch erhielt. Und – diese Gelegenheit will ich nutzen: Dank an Monika, der Frau, die mich vor 44 Jahren geheiratet hat, die mich seither erträgt und unterstützt – und ohne die ich längst eingegangen wäre.
Und nicht zuletzt Dank Ihnen, meine Damen und Herren, die Sie so lang mit soviel Geduld hingenommen haben.

Otto Köhler

Gehalten am 21. Oktober 2007 im Deutschen Theater in Berlin

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kurt-Tucholsky-Preis 2007 an Lothar Kusche und Otto Köhler

Lothar Kusche und Otto Köhler. Quelle: privat.
Lothar Kusche und Otto Köhler. Quelle: privat.

(in hoher Auflösung)

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft vergibt den mit 3000 € dotierten Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik zu gleichen Teilen an Lothar Kusche und Otto Köhler. Sie erhalten den Preis für ihr Lebenswerk.
Die Begründung der Jury:

Lothar Kusche, seit nunmehr sechzig Jahren Feuilletonist, Redakteur und Kabarettautor, hat die DDR 40 Jahre lang satirisch begleitet und kommentiert.
Durchaus in der Tradition Tucholskys stehend, haben Kusches urwüchsiger Humor und die spöttisch-zweifelnde Ironie des gebürtigen Berliners in zahllosen Texten und unter etlichen Pseudonymen ihren Niederschlag gefunden. Seit 1950 war er ständiger Mitarbeiter und zeitweise auch Redakteur der „Weltbühne“ und hat wesentlich zu deren misstrauisch beäugter Popularität in der DDR beigetragen. Kusche ist auch nach der Wende ein kritischer Beobachter und Kritiker unserer Zeit geblieben, dessen in zahlreichen Büchern gesammelte Feuilletons den Lesern heute wie schon vor fünfzig Jahren mehr als nur Spaß bereiten.
Otto Köhler hat die vielfach verschwiegene, verleugnete, verdrängte und gerade deswegen nicht überwundene Nazi-Vergangenheit bundesdeutscher Eliten und Institutionen aufgedeckt und damit zu einer Auseinandersetzung beigetragen, die für eine demokratische Neugestaltung der Gesellschaft unerlässlich ist. Mit seiner glasklaren, nie von Betulichkeit getrübten Sprache ist er als scharfer Sprach- und Medienkritiker in der Bundesrepublik zu einem gefürchteten und bewunderten Gesellschaftskritiker in der Nachfolge Tucholskys geworden.

Lothar Kusche
geboren am 2. Mai 1929 in Berlin-Neukölln, ist ein deutscher Feuilletonist, Schriftsteller und Satiriker.
Kusche begann seine Laufbahn 1947 bei Zeitschriften wie „Ulenspiegel“, „Fuffzehn“ und „Frischer Wind“ als Redakteur und schrieb später für den „Eulenspiegel“ zahlreiche satirische Texte. Besonders verbunden war er mit der DDR-„Weltbühne“, für die er seit 1950 schrieb und als deren stellvertretender Chefredakteur er auch für einige Zeit wirkte. Seinem Vorbild Kurt Tucholsky verpflichtet arbeitete Lothar Kusche bei der „Weltbühne“ unter verschiedenen Pseudonymen, unter denen er Texte ganz unterschiedlichen Charakters, die aber stets den satirischen Einschlag nicht verkennen ließen, veröffentlichte.
Seine Geschichten, Feuilletons und Reisereportagen erschienen in zahlreichen Sammlungen, wie Das bombastische Windei, Käse und Löcher, Überall ist Zwergenland, Die Patientenfibel, Wie man einen Haushalt aushält und Was hat Napoleon auf St. Helena gemacht?. Die Gesamtauflage seiner Bücher beträgt mehr als 2,5 Millionen. Daneben schrieb Kusche für das Berliner Kabarett Die Distel sowie Szenarien für zahlreiche Filme, in denen er gelegentlich auch mitspielte.
Seit 1998 arbeitet Lothar Kusche vorrangig für den „Weltbühnen“-Nachfolger „Ossietzky“, für den er auch unter dem inzwischen bekannten Pseudonym Felix Mantel seine sprachkritische Rubrik „Press-Kohl“ fortsetzt.
Dankesrede von Lothar Kusche.
Veröffentlichungen (Auswahl):
Quer durch England in anderthalb Stunden. Illustrationen von Elizabeth Shaw. Berlin, Aufbau Verlag, 1961
Überall ist Zwergenland. Berlin, Aufbau Verlag, 1960
Eine Nacht mit sieben Frauen. Geschichten und Feuilletons. Berlin, Aufbau Verlag, 1964
Lothar Kusche’s Drucksachen. Geschichten, Feuilletons und Satiren aus zwei Jahrzehnten. Illustrationen von Klaus Vonderwerth. Berlin, Eulenspiegel Verlag, 1976
Donald Duck siehe unter Greta Garbo. Einige Stichworte über Nordamerika. Illustrationen von Thomas Schleusing. Berlin, Eulenspiegel Verlag, 1981
Kein Wodka für den Staatsanwalt. Berlin, Aufbau Verlag, 1967
Der Mann auf dem Kleiderschrank. Geschichten und andere Späße. Berlin, Eulenspiegel Verlag, 1985
Nasen, die man nicht vergißt. Illustrationen von Elizabeth Shaw. Berlin, Eulenspiegel Verlag, 1987
Das verpaßte Krokodil. Geschichten und Feuilletons. Illustrationen von Klaus Vonderwerth. Berlin, Verlag Tribüne, 1988
Wo die Rosinenbäume wachsen, Berlin, Eulenspiegel Verlag 2004
Otto Köhler
geboren 10. Januar 1935 in Schweinfurt, ist ein deutscher Journalist und Publizist.
Köhler studierte von 1953 bis 1963 Philosophie, Germanistik, Geschichte und Volkswirtschaft in Würzburg und West-Berlin. Parallel arbeitete er für die „Andere Zeitung“, den „Vorwärts“, „konkret“, den RIAS und „Die Zeit“. Von 1963 bis 1966 war er Redakteur beim Satiremagazin „Pardon“, anschließend bis 1972 Medienkolumnist beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Danach Mitarbeiter beim Magazin „Stern“, der Gewerkschaftszeitung „metall“, dem WDR und wieder bei „konkret“ und der „Zeit.
Heute tätig für die Wochenzeitung „Freitag“ und die Tageszeitung „junge welt“ und die Zweiwochenschrift „Ossietzky“, deren Mitherausgeber er ist.
Köhler lebt bei Hamburg. Seit 1963 ist er mit der Schriftstellerin Monika Köhler verheiratet.
Auszeichnungen
Deutscher Journalistenpreis 1963 für die „Zeit“-Reportage „Würzburg, dein Lied will ich singen“
Deutscher Journalistenpreis 1983 für den „konkret“-Beitrag „IG Farben – Geschichte einer bürgerlichen Vereinigung“
Buchveröffentlichungen:
Kongo-Müller oder Die Freiheit, die wir verteidigen. Frankfurt 1966
…und heute die ganze Welt. Die Geschichte der IG Farben und ihrer Väter. Hamburg 1986
Wir Schreibmaschinentäter. Köln 1989
Die große Enteignung. Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte. München 1994
Unheimliche Publizisten. Die verdrängte Vergangenheit der Medienmacher. München 1995
Rudolf Augstein. Ein Leben für Deutschland. München 2002

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kein Tucholsky heute

1965 war Kurt Tucholsky seit dreißig Jahren tot; er wäre, hätte er sich nicht aus politischem Kummer in Schweden umgebracht, 75 Jahre alt geworden. Er gehörte nicht zu meinen Hausheiligen, aber daß wir, des erheblichen Rangunterschiedes ungeachtet, Wahlverwandte im Geiste waren und sind, will ich nicht bestreiten. Es mag sein, daß es auch von anderen in etwa so gesehen wurde. Jedenfalls konnte ich in den Münchner Kammerspielen an drei aufeinanderfolgenden Tagen über Tucholsky reden; im Februar im Auditorium maximum der Universität Hamburg:
Er konnte gut schreiben. Er konnte sehr gut schreiben. Was heißt das? Was könnte es heißen? Die Sprache ein Stück weiterbringen. Nach Goethe konnte man deutsch nicht mehr so schreiben wie vor Goethe. Nach Nietzsche nicht mehr so wie vor ihm. Nach Thomas Mann nicht mehr so wie nach Nietzsche. Mit diesen Namen sind Quantensprünge unserer Sprachentwicklung in moderner Zeit etwa bezeichnet. Hat Tucholsky in dieser Reihe seinen Platz? Ich glaube: nein. Er hat keine durchaus neue Dimensionen des Sagbaren geschaffen. Wohl aber hat er wie Heine der Sprache Goethens, dem Deutsch des 20. Jahrhunderts einen Dienst geleistet: er hat den lesenden Teil des Volkes auf neuesten Stand gebracht. Unter Verwendung des gerade geschaffenen Instrumentariums der Sprache haben er und Heine so getan, als sei es selbstverständlich, als sei gar nichts dabei, es zu verwenden. Bei Goethe, Nietzsche, Thomas Mann weiß jedes Kind: es handelt sich um Literatur – und das bedeutet, in einem unliterarischen Volk wie dem unseren eine Trennwand aufrichten: hier das Leben, dort der Zauberberg. Hingegen denkt bei Heine oder Tucholsky leicht einer: das kann ich auch. Denkste! Gleichviel, der Irrtum, durch den des Lesers pures Vergnügen seine Ehrfurcht tilgt, setzt ihn, den Leser, instand, seine Gegenwart anzunehmen, und das bedeutet schon mehr als viele erreichen, die sich im Vorgestern integrieren und dabei stehen bleiben. Es ist also, meine ich, Tucholskys Sprachleistung mehr sozialpädagogischer als literarischer Art. Aber auch das ist ja wunderbar und seltsam, weil selten.
Seine Wirkung war lebenslänglich, und bis heute an das Vergnügen gebunden, das er formal dem Leser bereitete. Diese Erkenntnis bereitet ihm Pein.
Nicht nur seine Taten tun nicht Tucholskys Geschäft – dadurch, daß sich seine Gesinnungspredigten so herrlich lasen; dadurch, daß er seine Sprache beherrschte, wurde er in der deutschen Öffentlichkeit zu einer durch und durch unseriösen Erscheinung. Man hätte ihm Rheinsberg und Gripsholm in gutem Deutsch noch hingehen lassen. Daß aber sogar die Sätze, mit denen er den Militarismus kritisierte, fehlerlos und klingend waren, verzieh man ihm nicht.
30 oder 40 Jahre später ist das anders. Jetzt lobt man ihn gerade für die formale Schönheit seiner Bekenntnisse. Um dessentwillen ist er der Wohlstandsgesellschaft teuer, daß er Dinge, die sich inzwischen als zutreffend herausgestellt haben, auch treffend ausdrückte. Auf eine erstaunliche Weise ist er uns teuer geworden. ARGUS, das Ausschnittbüro, vermochte aus Anlaß dieses 75. Geburtstages ein paar hundert Artikel über ihn zu sammeln.
Vom Hamburger Abendblatt bis zum Neuen Deutschland wird Tucholsky gefeiert, jenes ein Hausblatt Springers, dieses ein Hofblatt Ulbrichts. Soviel gesamtdeutsche Einigkeit macht stutzig. Alle, alle loben sie ihn wegen seiner politischen Haltung über den grünen Klee. »Wir dachten daran«, steht im Abendblatt, »wie sehr er unserer Zeit, die so empfindlich gegen Kritik ist, als Wachhund der Freiheit fehlt.« Neues Deutschland aber schreibt: »Tucholsky ist für die heute in Westdeutschland herrschende Klasse so mißliebig wie ehemals.« Geht man davon aus, daß unsere Zeitungsverleger und -redakteure zur herrschenden Klasse gehören, dann muß man sagen: hier irrt Neues Deutschland. Es ist nicht wahr – unsere herrschende Klasse findet Tucholsky einen äußerst liebenswerten Sohn ihres liebenswerten Volkes. Die Öffentliche Meinung ist darüber einer Meinung, repräsentiert von der bürgerlichen Presse eines 52-Millionen-Volkes, die von der Soldatenzeitung bis zum Neuen Vorwärts mit Tucholsky, der kein Marxist, aber entschieden links war, nicht einmal mehr Spurenelemente sozialistischer Ethik und Gesinnung gemeinsam hat. Liegt hier ein Mißverständnis oder tiefere Einsicht vor?
Sagen wir zunächst, daß diese Lobhudelei auf einen ebenso geistig schlichten wie politisch durchsichtigen Schwindel zurückzuführen ist, der seinen verbalen Ausdruck beispielsweise darin findet, daß nicht wenige dieser Erinnerungsaufsätze sich an ein Wort Tucholskys klammern, das da lautet: »es gibt zwei Deutschland, eins ist frei, das andere ist knechtisch.« Diesem empfindlichen Linken wird unterstellt, daß er, lebte er noch, einen anatomischen Schnitt durch deutsche Volksseele entlang der Berliner Mauer gezogen hätte! So daß zum freien Deutschland Barzel, Hassel, Strauß, Adenauer, die Bundeswehr, die heutige Sozialdemokratie, Springer, der Atomminengürtel-Plan und die Spiegel-Justiz zählten, zum unfreien alle jene progressiven Sozialisten der DDR, von denen ich nur deshalb keinen mit Namen nennen möchte, weil das einer Denunziation gleichkäme jenen gegenüber, die natürlich auch Tucholsky zum knechtischen Deutschland gerechnet hätte. Auf so gangsterhafte Weise integriert also eine Gesellschaft, die Tucholsky widerlich fände, wenn er unter uns lebte, einen Mann, der sich dagegen nicht mehr wehren kann. Liest man ihn aber, und glaubt man ihm, was er geschrieben hat, und trotz richtiger Grammatik seiner Aussage sollte man einem Mann glauben, dem die allzu späte Erkenntnis der tatsächlichen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse um 1928 das Leben nicht mehr lebenswert erscheinen ließ – glaubt man ihm, was er über den Militarismus und das Militär, über die Bourgeoisie und den deutschen Machtkoller, über deutsche Justiz und einige andere, durchaus nicht verschwundene Phänomene unsere heutigen politischen Wirklichkeit geschrieben hat – dann dürfte man ihn füglich nicht feiern mit dem Tenor: ach, wäre er doch unter uns. Vielmehr müßte man ihm einen Lebenslauf zubilligen, der, hätte Tucholsky sich nicht umgebracht, etwa so gewesen wäre: 1945 Rückkehr aus Schweden, Mitarbeiter am 3. Programm des Norddeutschen Rundfunks unter englischen Majoren und Axel Eggebrecht, 1959 Feuilletonredakteur am L’Express in Paris, 1960 Herausgeber einer Taschenbuchreihe rororo-aktuell, 1964 Rückkehr nach Schweden, 1965, wer weiß, Selbstmord am Mälarsee.
Aber die Öffentliche Meinung feiert ihn. »Wir können nur feststellen, wie recht diese Kassandra gehabt hat«, schreibt Die Welt. Widerstand mit der Schreibmaschine – Der gar nicht tot zu kriegende Tucholsky – Tucholsky, ein prophetischer Warner – Bürger und Patriot (dies in einem Ost-Berliner Blatt) – Alte Liebe zu Tucholsky – Der das Wort wie den Degen führte – Gegen die Dummheit – Er sah das Unheil kommen – Warum uns Kurt Tucholsky fehlt – Goldenes Herz und eiserne Schnauze – so und ähnlich lauten die Überschriften der Jubiläumsartikel. Der Bürgerschreck als Bürgerliebling. Nur politische Falschmünzerei?
Nein, ich glaube, hier folgt Umwertung der Einsicht, daß dieser Mann unwirksam wäre in unserer Zeit, so daß man frère et cochon mit ihm spielen kann, und gleichzeitig die Politik treiben, die man treibt – rechts von der Mitte, und haargenau mit allen jenen Schwächen, Begierden, Illusionen, Dummheiten und Knechtsallüren, gegen die Tucholsky schrieb. Voltaire war wirklich eine Gefahr für die feudale Ordnung Frankreichs, Gorki für das Zarenreich, vielleicht sogar noch der Simplizissimus für Wilhelm II., Tucholsky aber keine Gefahr mehr für die herrschenden Klassen und die heraufdrängenden Mächte der 20er Jahre.
Warum heute nicht?
Drei der möglichen Gründe möchte ich nennen:
Der politische Kämpfer Tucholsky bediente sich des Mittels der Satire.
Voraussetzung der Wirksamkeit dieses Verfahrens war, daß die Öffentlichkeit die Überhöhung noch wahrnahm, oder anders gesagt: daß die Wirklichkeit dem Satiriker Spielraum zur Übertrei- bung ließ. Dieser Spielraum besteht nicht mehr.
Zweitens; glaube ich, hätte ein Tucholsky heute verspielt, weil seine Sprache, die literarische Sprache überhaupt, kein geeignetes Mittel mehr ist, gesellschaftliche Verhältnisse im direkten Zugriff durchsichtig zu machen. Nicht von ungefähr sind fortschriftliche Schriftsteller, wie sie etwa in der Gruppe 47 zu finden sind, entweder sprachlich ambitiös und dann politisch impotent, oder gesinnungsfreudig und dann formal von gestern. Die Ablenkung auf das absolut Unwesentliche erlaubt, im Wesentlichen unkontrolliert zu finassieren. Wesentliches herauszufinden etwa in bezug auf die Bundeswehr, es wäre nicht mehr Tucholsky-Sache, es war des Spiegels Sache – die er erledigte durch strohtrockene und durchaus kunstlose Information. Und da zeigte sich denn auch, daß das Stachelschwein doch gebissen werden kann. Es schrie auf.
Haben die Kunstsprache und die Gesinnungsbekundung emotionaler Art heute und hier keine politische Kraft mehr, so könnten doch, gäbe es der Tucholskys, die deutschen Zeitungen in wiederum 40 Jahren schreiben: wir waren zwar blöd, aber wir waren nicht alle blöd. Das sagen sie jetzt von dem Zeitraum 1920 – 1933 Tucholskys und anderer wegen, das sagen sie von dem Zeitraum 1933 – 1945, weil es die Weiße Rose gab. Alibis sind eine feine Sache – nur leider für die Vorwärtsverteidigung des Friedens ohne jeden Belang. Ein dritter Gesichtspunkt sei erwähnt: Der Einzelne vermag mit dem Wort ohne Macht überhaupt nichts mehr für oder gegen die Gesellschaft zu tun. Macht sei in doppeltem Sinne verstanden: daß der, der das Wort führt, Macht hat; oder daß das Wort derartig vervielfältigt werden kann, daß es Macht gewinnt.
Hieraus ergibt sich, was noch Wirkung verspricht: die gezielte, massenhaft verbreitete Information – der natürlich der gezielte Kommentar folgen kann. Der Kommentar allein aber reicht nicht mehr. Ein derart düpiertes Volk wie das unsere mißtraut – mit Recht – der bloßen Gesinnungsbekundung gerade dann, wenn sie die Grobheit des Massenhaften annimmt.
Tucholsky wußte immer oder doch meistens, was richtig und was falsch war. Was war, davon hatte er in aller Regel nur eine schattenhafte Ahnung. Wir müssen wissen, was ist – und eben diese Sachverhalte entziehen sich meistens der allgemein verständlichen Mitteilung, und schon ganz und gar der formal verführerischen Mitteilung.
Sie, Studenten dieser Universität, werden früher oder später einen Beruf ausüben, in dem es darauf ankommt, Sachzusammenhänge zu überschauen, Daten zu verarbeiten, Leistungen zu erzielen. Vielleicht werden Sie das großartig machen. Aber wie großartig Ihre Leistung auch sein mag, wie vollkommen Ihre Sachkenntnis – Sie sind nicht sicher davor, ob Sie sich damit nicht im negativen Raum bewegen. Mit einem Wort: es ist ebenso gefährlich, nur Experte zu sein, wie es wirkungslos ist, nur Tucholsky zu sein. Glauben Sie bitte nicht, daß ein gesellschaftlicher Fortschritt möglich sei, solange folgende Arbeitsteilung stattfindet: die einen vermögen das output eines Computers richtig zu entschlüsseln, die andern verstehen davon nichts, wollen aber drüber entscheiden, was das output wert ist für den Menschen. Das aber ist unser gesellschaftlicher Zustand, genau diese Kluft besteht zwischen Handeln und Entscheiden, und deshalb sind unsere Verhältnisse nicht nur unbehaglich, sondern ausgesprochen gefährlich. Die Trennung von Handeln und Gesinnung gibt es in einem ideologisch geschlossenen System nicht, und wenn es dort so wenig Spielraum für verändernde Kräfte gibt, so hat das unter anderem – ich sage unter anderem – auch den Grund, daß die geringste Kraft viel bewirkt. Bei uns aber rennen wir allenthalben an Gummiwände, wir sind von ihnen umgeben, und wenn Sie so wollen: wir leben derart in einer Gummizelle. Das war Tucholskys Lebensgefühl, als er sich umbrachte.
Quellenangabe:
Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Hanser, München 1989 (Lizenzausgabe Volk und Welt, Berlin 1990), S. 285-290

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Das pausenlose Programm

1950 beginnt meine kontinuierliche Mitarbeit an den von Eugen Kogon und Walter Dirks herausgegebenen Frankfurter Heften, die bereits im fünften Jahr erscheinen und es zu hohem Ansehen gebracht hatten. Soweit ich im folgenden aus diesen Beiträgen zitiere, sah ich mich zu extremen Kürzungen veranlaßt; unnötig zu sagen, daß damit in keinem Fall Veränderung der Aussage verbunden ist. Gespräche, die ich in Hamburg beim NWDR geführt hatte, wo einem Kreis von Journalisten Informationen über das in Vorbereitung befindliche Fernsehen vermittelt worden waren, wirkten in mir nach. Spät, aber nun eben doch, machte ich mir Gedanken darüber, daß wir mehr und mehr in einer künstlich hergestellten Schein-Wirklichkeit zu leben verdammt seien. Sie schlugen sich in einem langen, für die Frankfurter Hefte geschriebenen Beitrag nieder, aus dem die folgenden Passagen stammen.
Das Individuum will sich nicht begegnen, und es hat wirksame Mittel gefunden, sich vor sich selbst zu verstecken. Die Furcht vor der Pause ist zum Motor unseres gesamten Lebens geworden. Im Vergleich dazu ist die Furcht vor der Atombombe so gering, daß man sie leicht mit Sehnsucht nach der Atombombe verwechseln könnte. Schließlich ist ja auch die Atombombe für die von ihr Betroffenen ein absolut sicherer Schutz vor Selbsterkenntnis. Die Furcht vor der Pause ist so groß, daß sich eine moderne Verwaltung viel leichter entschließt, die Butterration zu kürzen, als die Unterhaltung einzuschränken. Der Anspruch auf Unterhaltung ist der einzige, der der Masse selbst im Finale der Diktatur nie abgesprochen wurde. Nicht der Rüstung, nicht der Kriegsführung hat die höchste Aufmerksamkeit der Führung, ihre letzte Energie, gegolten, sondern der Aufrechterhaltung der pausenlosen Unterhaltung. Niemand sollte heute glauben, daß sich daran etwas .geändert habe, nur weil die allgemeinen Umstände vorübergehend weniger dramatisch sind. Es ist neuerdings vorgekommen, daß der Radioapparat nicht mehr abgestellt wird, wenn ein Mitglied der Familie stirbt. Die liebevollen Angehörigen beabsichtigen, dem Sterbenden die letzten Stunden leicht zu machen. Mit Unterhaltung meine ich die Summe der Eindrücke und Erlebnisse, deren ein Mensch heutzutage fortwährend – ohne Unterlaß – teilhaftig wird, ohne daß bei ihm individuelles oder spezifisches Bedürfnis danach vorliegt. Seitdem wir eine bestimmte Abart der Unterhaltung, die Propaganda, so gründlich kennengelernt haben und fortwährend neu kennenlernen, sind wir nur zu leicht geneigt, die Wirkungen der unpolitischen, der scheinbar richtungslosen Unterhaltung zu unterschätzen. Sie ist nicht richtungslos, sie ist mit der Unbeirrbarkeit einer Kompaßnadel auf ein Ziel gerichtet: sie zerstört die Kultur.
Es gibt, alles in allem, zwei Methoden, das Verlangen nach Unterhaltung zu befriedigen, und man sollte sich davor hüten, zu meinen, der Unterschied zwischen ihnen sei nur ein äußerlicher: man kann den Konsumenten an den Ort der Unterhaltung verfrachten, oder man kann ihm die Unterhaltung in den Bezirk liefern, darin sich sein alltägliches Leben abspielt.
Die erste Methode ist minder gefährlich als die zweite. Erstens sind selbst einem Volk wie dem unsern, das fortwährend neue Wunder der Organisation vollbringt, dem Zusammentreiben der Massen gewisse technische Grenzen gesetzt. (Was sich hier abspielt, sind moderne Wallfahrten; genau wie die Wallfahrten alten Stils unternimmt man sie, um Kraft zu tanken.) Zweitens ist bei dieser Methode der Kulturverschleiß durch Mißbrauch gering. Drittens aber soll zugestanden sein, daß diese Methode sogar Ansatzpunkte für die Befriedigung echter Bedürfnisse und damit für eine neue Ordnung bietet. Passionsspiele, Bachwochen, selbst Fußballmeisterschaften können gelegentlich die Antwort auf echte Bedürfnisse sein.
Die Verheerungen großen Stils ergeben sich erst bei Anwendung der zweiten Methode, bei der die Unterhaltung frei Haus, frei Lebensbezirk des Individuums geliefert wird. Es handelt sich um nichts Geringeres als um die Aufhebung der Perspektive im Weltbild des Individuums. Es verliert damit seinen sicheren Standort in der Wirklichkeit, es verliert das Unterscheidungsvermögen für das subjektive Wichtige und Unwichtige auf allen Gebieten, auf denen der primitive Selbsterhaltungstrieb nicht mehr wirksam ist. Die Welt ist zum Lieferanten des pausenlosen Programms geworden. Zu seiner Durchführung sind die Bedienungsmannschaften des Apparates gezwungen, immer neue Teilausschnitte der Wirklichkeit so herzurichten, daß sie reproduzierbar werden. Die durch Überdeutlichkeit abgestumpfte Empfindlichkeit des Konsumenten reicht in vielen Fällen in der Tat nicht mehr aus, die Wirklichkeit im Original wahrzunehmen. Es vollzieht sich ganz allgemein eine Verschiebung des Interesses von den Zuständen auf die Vorgänge, denn Zustände sind kaum oder doch nur mit einem viel größeren Aufwand an Scharfsinn zu reproduzieren als Vorgänge.
Der nächste Schritt ist, die Vorgänge so ablaufen zu lassen, daß, was der Reproduktion an Vollständigkeit fehlt durch »Spannung« aufgewogen wird. Der Konsument soll dazu verleitet werden, nicht so genau hinzuschauen oder hinzuhören. Die Vorgänge finden also nicht mehr aus ihrer eigenen Gesetzlichkeit statt, sondern mit einer Tendenz. Die Verlockung ist viel zu groß, sich des »Apparates« mit einer bestimmten politischen und geistigen Tendenz zu bedienen, als daß es bei ästhetischen Fälschungsversuchen bliebe.
Der erste, der mit erstaunlicher Folgerichtigkeit erkannt hat, daß die Reproduktion überhaupt auf Originalereignisse verzichten und die »Wirklichkeit« erfinden kann, ist Goebbels gewesen. Im letzten Kriegsjahr hat das deutsche Volk im wesentlichen in einer Welt gelebt, die aus dem Nichts reproduziert, also produziert war ausschließlich zum Zwecke der Reproduktion. (Nur die Luftangriffe der Alliierten waren original.)
In dieser Richtung wird die Entwicklung weitergehen. Als in diesem Jahre im Oberammergauer Passionsspielhaus die Matthäuspassion aufgeführt wurde, war der erste Teil der ersten Aufführung für die an Ort und Stelle anwesenden Zuhörer so gut wie verloren, weil die Jagdkommandos der Reproduzenten mit ihren Apparaten, Kameras, Tonaufnahmegeräten, Mikrophonen, Scheinwerfern, Blitzlichtanlagen und so fort ständig tätig waren. Irgendwo werden später andere Zuhörer in ihren Zimmern gesessen und dort die Reproduktion der Matthäuspassion mit fein abgestimmten akustischen Valeurs gehört haben. In diesem Falle war das dem Originalereignis beiwohnende Publikum eine Störung für die Reproduktion. Häufiger sind vorläufig noch die Fälle, in denen ein Ausschnitt »Masse« zu Reproduktionsvorgängen eingeladen wird, um durch Lachen und Beifall die Akteure und die Konsumenten in Stimmung zu bringen – diesen dergestalt die Illusion vermittelnd, sie befänden sich in einer Masse, während sie tatsächlich zu Hause sitzen und Gelbe Rüben schaben. Es hat sich aber herausgestellt, daß Lachen und Beifall eines lebendigen Publikums schwerer richtig zu dosieren sind als reproduzierte Beifalls- und Lachstürme, die deshalb im Archiv in allen Schattierungen auf Lager gehalten werden.
Die Reproduktionsapparaturen, Zeitungsfirmen, Filmgesellschaften, Radiosender, Reklamefirmen haben längst eine Größe erreicht, welche die individuelle Initiative lähmt, wenn nicht aufhebt. So wie der Mensch ohne Gewohnheiten nicht zu leben vermöchte, so würden diese Apparaturen ohne Routine zum Stillstand kommen. Man sollte ihnen also nicht ohne weiteres unterstellen, daß sie lügen wollen, – sie müssen lügen. Es gibt nicht so viel Wahrheit in der Welt, um damit ein pausenloses Unterhaltungsprogramm bestreiten zu können.
Eine kluge Beobachterin, die ihre Erfahrungen in Amerika gesammelt hat, wo man alles, was hier angedeutet ist, in viel vollkommenerer Weise bereits erfüllt findet als bei uns, hat die Geschichte vom Weltuntergang geschrieben, der von der Menschheit nicht bemerkt wird, weil sie auf Grund des reproduzierten Weltbildes glaubt, es handle sich nur um einen besonders bösartigen Krieg. Die Apparaturen machen aus dem Weltuntergang die verwerflichen Handlungen des bösen Feindes. Und nur ein Negerstamm im Inneren Afrikas, zu dem die Kunde vom Krieg nicht gedrungen ist, fällt auf die Knie und betet zu Gott, weil er glaubt, die Welt gehe unter.
In dieser Geschichte ist in summa alles enthalten, wovon hier in Andeutungen die Rede war, Das eigentliche Sinnbild unserer Zeit ist nicht der mit hunderttausend brüllenden, gestikulierenden, sich fühlenden Menschen angefüllte Zementtrichter, sondern es ist das Individuum in einer fensterlosen Kammer, vor sich hinstierend auf ein reproduziertes Scheinbild der Welt. Es ist wichtig, zu wissen, daß die Reproduzenten bereits dazu übergegangen sind, spezifische Scheinbilder zu liefern. Man schafft verschiedene »Programme« in Übereinstimmung mit der verschiedenen Aufnahmefähigkeit und dem verschiedenen Geschmack der Konsumenten. Es bedarf nur einer entschlossenen Regierung, um den Spieß umzukehren und Empfangsgeräte zu schaffen, die auf ein bestimmtes Programm geeicht sind. Es werden Gesetze erlassen werden, welche den Kauf dieser Geräte von bestimmten Voraussetzungen abhängig machen. Das ist die Stufe der Entwicklung, auf der die Gefahr völlig ausgeschaltet ist, das Individuum könnte sich selbst begegnen; denn es hat keinen Anlaß mehr, über irgend etwas zu staunen.
Quellenangabe:
Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Hanser, München 1989 (Lizenzausgabe Volk und Welt, Berlin 1990), S. 83-86

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Ich über mich

Mit dem Schreiben zu dem Zweck, etwas mitzuteilen, begann ich als Sechsjähriger, als eine ausnehmend schöne Dame im Ersten Weltkrieg für ein paar Wochen auf unseren Einödhof gekommen war, um sich satt zu essen, freundschaftlich aufgenommen von meiner Mutter, die das Anwesen mit einem Dutzend »Mägden« und »Knechten« führte, indes der Vater irgendwo an der Westfront seit August 1914 mit Feldgeschützen die Franzosen ärgerte, so daß er im Kriegsjahr 1916 jene schöne Dame nicht erlebte, welche die allzu junge Witwe eines damals sehr bekannten Schriftstellers namens Otto Julius Bierbaum war, von ihm aus Florenz mitgebracht und geehelicht, was einen Schwarm Münchner Künstler nicht hinderte, sie zu umgarnen, in Öl zu malen, zu zeichnen, woraus hervorgeht, daß ich, das Kind, nicht übermäßig originell war, als ich ihr in einem Brieflein schrieb, ich wünschte, sie bliebe ganz bei uns, wie ich von meiner Mutter später erfuhr, als wir den Hof im letzten Kriegsjahr bereits verlassen hatten (törichterweise!), der so weit ab von der nächsten Volksschule lag und liegt, daß mir der Weg dorthin, ein Fußpfad durchs Blumenparadies eines Hochmoores nicht zugemutet wurde, vielmehr ein Fräulein Hagen mir das Lesen, das Schreiben und das Kleine Einmaleins beibrachte, dergestalt der Hof, Wohnhaus, Stall, »Leutehaus«, die riesige Scheune mit der steilen Auffahrt, meine Welt war, dazu all die Tiere, angefangen mit dem großmächtigen, am Nasenring aus dem Stall herausgeführten Stier bis zu den Stallhasen, die der Vater als Kriegsbeute aus Belgien in einem von zwei Urlauben mitgebracht hatte, die ihm in vier Jahren genehmigt worden waren, so daß er für mich, als er dann wieder bei uns blieb, ein ziemlich fremder Herr war, von dem ich erfuhr, wir hätten den Krieg nicht verloren, was ich ihm schon nicht mehr glaubte, sondern frühzeitig begann, mich zum schwarzen Schaf der Familie zu entwickeln, zu einem Sohn, der nur geringes Interesse bekundete, als der Vater nach dem Umzug in das nächste Kreisstädtchen – wo er eine weit kleinere Landwirtschaft erstand und betrieb – auf lokaler Ebene eine paramilitärische Organisation aufbaute, Einwohnerwehr genannt, deren Mannschaften in der nahen »Schießstätte« Schützenfeste veranstalteten, die eigentlich Schießübungen waren, und eines Tages der Vater in unserem Obstgarten sogar mit Ludendorff auf und ab ging, kurz vor dem Hitler-Putsch vom November 1923, der der »Einwohnerwehr« ein Ende setzte, so daß auch das Waffenlager in einem unserer Heustadel draußen im »Moos« beim Torfstich verschwand, das mir nicht entgangen war, und samt dem ganzen deutschnationalen, nicht eigentlich nationalsozialistischen Klimbim sicher dazu beigetragen hat, daß es der Leser mit einem Buch zu tun bekommen wird, einer Art subjektiver Zeitchronik, die gewisser autobiographischer Streiflichter nicht völlig entraten kann, geschrieben von einem, dem eigentlich lebenslänglich an dem Volk, dem er nun einmal zugehört, mehr mißfallen als gefallen hat, zumal er dieses sein Volk einen ganzen Weltkrieg lang, den zweiten, erlebt hatte als Soldat, wovon ein Buch Zeugnis ablegt, das nicht am Schreibtisch entstanden ist, sondern zwischen dem Dnjepr und der Bretagne, 1975 vorgelegt als Mein Krieg, bemerkt von hundert Kritikern, von denen einer schrieb, dieser Soldat E.K. habe 2919 Tage und Nächte lang aufgeschrieben, in was er selbst aufs engste verwickelt gewesen sei, mache aber den Eindruck, als sei er gar nicht derjenige, der das alles erlebt und mitgemacht habe – was mich davor bewahrte oder dazu verurteilte, nichts zu glauben, was geglaubt wurde von der jeweiligen Mehrheit, nichts zu erhoffen von dem, worauf sie hoffte, nicht zu fürchten, vielmehr eher zu ersehnen, was sie fürchtete, wovon eine Lebenshaltung bestimmt wurde – eine Lebenshaltung, die ihre Tücken im privaten zwischenmenschlichen Umgang hat, der Ausübung des journalistischen Handwerks jedoch durchaus zuträglich ist, und damit möge es sein Bewenden haben hinsichtlich der Bestimmung meiner Umweltbeziehung, in moralische Irrgärten sei nicht hineingewildert, der Frage, wie Gesinnung entsteht, nicht weiter nachgegangen und nur hervorgehoben, daß eine linke politische Einschulung nicht stattgefunden hat, Marx mir auf keiner Lebensstufe zum Guru geworden ist, ersetzt wurde durch die Lehren der Wirklichkeit, die so wenig dazu angetan waren und sind, Wohlwollen zu wecken für unsere deutsche Wirklichkeit, 12 Jahre lang pervertiert zur Weltvernichtungspraxis, bis ich im Juni 1945, nach kurzer amerikanischer Gefangenschaft in Frankreich, mit nunmehr 35 Jahren anfangen konnte (und mußte), zu überlegen, was ich aus meinem Leben eigentlich machen wollte. 1947 wußte ich es. Ich wurde kein Schreiber, sondern ein Aufschreiber, und ich begehre, schuld daran zu sein.

München, Venedig, im Sommer 1989

Quellenangabe:
Erich Kuby: Mein ärgerliches Vaterland. Hanser, München 1989 (Lizenzausgabe Volk und Welt, Berlin 1990), S. 7-8

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Laudatio für Erich Kuby zur Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises

Laudatio für Erich Kubys Tucholsky-Preis
Der Tucholsky-Preis an Erich Kuby? Lieber so spät als nie, dachte ich, als mich die Nachricht von dieser spontanen Jury-Entscheidung erreichte. Kuby gehört nicht zu jenen, die man in Deutschland mit Auszeichnungen bedenkt, und als die Stadt München ihm 1992 schließlich doch ihren Publizistikpreis zuerkannte, kommentierte der immerhin 82-Jährige: »Da hat man die Katze grad noch beim Schwanz erwischt«.
Nun also dieser Tucholsky-Preis, den er nicht mehr entgegennehmen kann, was uns heute um das Vergnügen bringt, seine Dankesrede zu hören; Kuby war nämlich ein begnadeter Redner.
Nicht nur das Redetalent verband ihn mit Tucholsky, wie jener war er ein schier unermüdlicher Journalist, der unter vielen Pseudonymen (zum Beispiel Alexander Parlach, Georg Neufforge, Wendulin) um der »Wahrheit« willen schrieb, der sagen wollte »wie es ist«. Er las Tucholsky noch in den Weimarer Jahren aus bayrischer Ferne und begann zu schreiben, als jener Anfang der dreißiger Jahre schon ein »aufgehörter Schriftsteller« und ein »aufgehörter Deutscher« war: erst nach dem Kriege aber publizierte er bisher ungezählte Aufsätze, Feuilletons, Reportagen, Glossen, Kommentare, Leitartikel, Kritiken, neben Features, Hörspielen, Drehbüchern und schließlich über dreißig Bücher. Die Anthologie Mein ärgerliches Vaterland (1989) vermittelt eine Ahnung von der Vielfalt seiner Schreibanlässe und Themen.
Wie Tucholsky »hasste« er im besonderen: das Militär, die Vereinsmeierei, Lärm und Geräusch und das nationalistische »D/Teutschland«.
Wenn er auch nicht im existentiellen Sinne unter Deutschland gelitten hat wie Tucholsky bis hin zum Tode, so war es doch aber das eigentliche Thema all seines Schreibens, er stritt und schrieb für ein anderes Deutschland, das nach 1945 einen anderen, einen »unteren« Weg hätte einschlagen können, der nicht schnurstracks in die Nato und den Kalten Krieg hätte führen müssen. Auch seine Studien und Bücher zu den italienisch-deutschen und polnisch-deutschen Beziehungen wollten die Deutschen »aufklären«.
Kuby hat sich sein Leben lang mit nichts anderem als mit diesem Land beschäftigt.
Da war er nicht allein, natürlich gab es in einem kleinen Land wie dem unseren noch andere, die aufklären wollten; es lassen sich allerlei Verbindungen ziehen: zum Beispiel zu Friedrich Sieburg, auch einer, der unter Deutschland gelitten und immer wieder darüber geschrieben hat. Er kam von der Weltbühne und war viele Jahre Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris und Autor des berühmten Buches Gott in Frankreich?; er war in den zwanziger und den ersten dreißiger Jahren mit Tucholsky befreundet – es gibt da allerlei anrührende Familien-Ausflugsphotos und Briefe. Tucholsky und andere Emigranten taten sich nach 1933 mit einem wie Sieburg, der deutscher Korrespondent blieb, natürlich schwer. Aber Sieburg hatte es auch mit Deutschland schwer: Bald nach Hitlers Regierungsübernahme schrieb in der Frankfurter Zeitung, das ging damals noch, nun komme er in eine schwierige Situation, weil er sein Land draußen gegen vieles in Schutz nehmen müsse, was er im Grunde nicht verteidigen wolle. Das hat seiner Beziehung zu den Emigranten am Ende natürlich nicht geholfen, weil er sich, ein Nationaler, von seinem Lande trotz Hitler nicht trennen mochte. Vor 1933 hatte er Hitlers Regierungsübernahme als Kostgänger Schleichers zu verhindern gesucht – und ist dann später, zur Zeit der deutschen Besatzung als Botschaftsrat in Paris doch noch ausgerutscht. Ich spreche von ihm nicht nur, weil sein Leben, seine unentschiedene Entscheidung besonders exemplarisch waren, sondern weil er es auch mit Tucholsky zu tun hatte – und er später meine Mutter heiratete, mein letzter Stiefvater war.
Ich erwähne diese seltsame Querverbindung in einem unglücklichen, kranken Land – und das ist es bis heute geblieben -, weil ich dem Erich Kuby schon begegnete, als Sieburg noch lebte – der starb 1964 -, aber ich wollte Ihnen nicht verschweigen, mit welch Seltsamem wir uns kannten, allmählich miteinander befreundet waren und uns immer wieder sahen, in Hamburg, in München, in Venedig, und auch mit Susanna und Daniel zu einem Weihnachten bei uns in Cortona.
Natürlich hatte ich Kuby schon viele Jahre gelesen, aber 1962 kam er zum Stern, dessen – freier – Redaktionsanwalt ich damals und bis zu den trostlosen Hitler-Tagebüchern 1983 war, über die und deren Hintergründe keiner so gnadenlos und richtig wie Kuby geschrieben hat. Ich habe damals meinen Beratungsvertrag gekündigt.
1962 war das Jahr der Spiegel-Affäre, als Augstein und Ahlers wegen angeblichen Landesverrats verhaftet und eingesperrt und die Redaktion – damals noch wie Zeit und Stern – im Pressehaus in Hamburg – durchsucht und auf den Kopf gestellt wurden. Man erinnere sich bitte des Aufschreis, der damals nicht gerade durchs ganze Land, aber doch durch die Medien und die Politik ging. Man erinnere sich des – allerdings vergleichsweise geringeren – Aufsehens, das 1970 bis 1976 unser Münchener Prozess der CSU gegen den Stern machte, als es um die CSU-Spielbanken-Affäre ging – wir hatten Körbe voller Zeitungsmeldungen und Kommentare – und als es später, in den achtziger Jahren in München vor Gericht darum ging, dass der Stern behauptet hatte, der bayerische Minister Gerold Tandler habe sich mit einem gefälschten Dokument ein Grundstück aus einem Nachlass herausgeholt, hat schon kaum noch einer zugehört, geschweige denn wie früher darüber geschrieben, aber – ungedruckt – gesagt, so sei das eben in unserem Lande. Die wahrhaft letzte Aufregung war die Neue-Heimat-Affäre – und auch das ist schon viele, viele Jahre her.
Wenn Innenminister Schily heuer veranlasst, die Cicero-Redaktion zu durchsuchen, hören in diesem Lande allmählich wieder ein paar mehr Leute hin, da wird ein wenig berichtet, wie sich’s heuer gehört – aber regen sich etwa wirklich viel im Lande darüber auf, geht einer auf die Straße, um zu demonstrieren oder gar eine Fensterscheibe einzuschlagen, weil unsere Freiheit vernichtet und jeder eingeschüchtert werden soll? Wie abgestumpft und ängstlich sind nun sogar schon die Journalisten dieses Landes? Was muss passieren, damit sich noch einer aufregt wie Kurt Tucholsky oder Erich Kuby, der 1963 zur Spiegel-Affäre schrieb: »Das Volk ist in keiner Weise aufgestanden, da mache man sich nichts vor«? Sieburg schrieb gleich 1962 einen FAZ-Leitartikel, in dem es hieß: »Der Zauber ist gebrochen, oh, nicht für immer; die selbstzufriedene Stimmung in der Bundesrepublik wird sich schon wieder einstellen.« So recht hatten sie wohl beide nicht haben mögen.
Gibt es solche archaischen Typen überhaupt noch? Und hört noch einer zu? Damit sich etwas ändert? Damit nicht alles in den Graben geht? Wer will noch schreien und gehört werden, damit wenigstens das meiste so bleibt, wie es ist, damit’s nicht noch schlimmer wird? Mehr kann der Journalismus ohnehin kaum je ausrichten. Wenig genug ist es allemal. Mit gutem Grund hatte Kuby 1957 seinem Buch Das ist des Deutschen Vaterland diesen Wortwechsel von Bert Brecht vorausgeschickt:
»Sagredo: Galilei, du sollst Dich beruhigen!
Galilei: Sagredo, du sollst Dich aufregen.«
Friedrich Sieburg besprach das Kuby-Buch in der FAZ voller Achtung, war aber damals, eben 1957, von der Wirkung des »Donnerkeils« der Kubyschen »massiven Polemik« nicht überzeugt: »Die bundesdeutsche Gegenwart ist an polemischen Unternehmungen nicht reich, einmal, weil unserer Publizistik das Talent dazu abgeht, zum anderen aber, weil die totale Wirkungslosigkeit von vornherein feststeht. Der Polemiker mag schreiben, was er will, niemand, der an der Macht beteiligt ist, wird auf ihn hören, es sei denn, dass ›Unannehmlichkeiten‹ zu befürchten seien.« Aber das war der Blick aus den verschlafenen fünfziger Jahren. Mit der Spiegel-Affäre 1962 hat sich dann schon einiges verändert – Strauß musste damals zurücktreten – sonst wäre er am Ende Bundeskanzler geworden -, später, 1978 auch Filbinger – sonst wäre der wohl Bundespräsident geworden!
Man soll ja vor allem als einer der Alten nie sagen, früher sei alles besser gewesen. Aber eines war wirklich besser: es gab in den sechziger und siebziger Jahren keine oder kaum Arbeitslose – und das machte die Menschen freier, offener, sie hatten weniger Angst und wagten mehr – und in so einem Kreis fühlte sich einer wie Erich Kuby naturgemäß wohler. Kommt man heute in Redaktionen, herrscht Angst; Angepasstheit und Mittelmaß sind erschreckend. Fast alle fürchten, ihren Job zu verlieren, weil es hunderte gibt, die ihn gern hätten und bereit sind, ohne zu maulen oder gar aufzubegehren zu arbeiten – so wie es von oben gewünscht wird.
Sieburg ernannte Kuby in einer Rezension zum »Bundesnonkonformisten« – und das ist er auch geblieben. Kuby hatte wahrlich bessere journalistische Zeiten als wir sie heute vorfinden – und er hatte bessere Nerven, er nahm sich Freiheit, die freilich auch etwas mit seiner privilegierten Herkunft und seinem eigenwilligen, unbürgerlichen Leben zu tun hatten, über das man in seinem Buch Lauter Patrioten – Eine deutsche Familiengeschichte 1800-2000 viel erfährt. Wer sich traut, über seine Familie zu schreiben, der gibt sich Blößen, die, auch wenn er sie zu verbergen sucht, mehr über ihn aussagen, als ihm lieb ist. Bei Erich Kuby war das schon immer anders: Er hat sich getraut und nie gescheut, etwas von sich preiszugeben; er ist dem Leser als »Kassandra vom Dienst« mit bedingungsloser Opposition auf den Leib gerückt, indem er direkt und – wie Tucholsky – unideologisch alles aussprach, was Leser weder hören noch gar zugeben mochten. Das dokumentiert sich besonders deutlich in seinem Buch Mein Krieg aus dem Jahre 1975, das in Tagebuchaufzeichnungen schildert, wie er den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte, als ewiger Gefreiter, ab September 1944 als Kriegsgefangener, immer begleitet von seiner Schreibmaschine, auf der er jeden Tag und in jeder Situation schrieb.
Kuby kam aus einer bürgerlichen Familie, in der Intellektuelle allerdings nicht vorkamen, wohl aber Metzger, Reeder, Bankiers, Weinhändler, Beamte, Richter und Ärzte. Kubys Vater hatte sich 1901 ein Gut in Westpreußen gekauft, nach einem Jahr aber schon alles verwirtschaftet. Er zog nach München zurück und wollte seine Stimme ausbilden lassen. Dort traf er Dora Süßkind, eine Opernsängerin. 1910 kam Sohn Erich zur Welt. Ab 1913 lebte die Familie im bayerischen Voralpenland, wo sein Vater ein Gut übernahm. Im Jahr darauf zog er mit all den patriotischen Bürgern, die sich nicht vorstellen konnten, dass »da oben« etwas nicht stimmte, in den Krieg. Als er zurückkehrte glaubte er an den »Dolchstoß« und nahm Erich 1923 zu dem im Weilheimer Bezirksamt festgesetzten Hitler mit, sprach mit seinem darob verstörten Sohn indessen nie darüber. Der bekam bei einem jüdischen Gymnasiallehrer indes anderen, wirksamen Unterricht: »Sie machen Hitler zu groß, sagte Lamm (der Lehrer). Solche Hitlers haben auch andere Völker, aber sie bleiben Randfiguren. Hier nicht. Er erzieht nicht das Volk, das Volk hat ihn erfunden. Haben Sie mir nicht gesagt, Ihr Vater habe noch im Sommer 1918 den Krieg nicht für verloren gehalten? Verrückt? Keine Spur, ein ganz normaler Deutscher.« Das konnte Erich Kuby nicht vergessen.
Er studierte Volkswirtschaft, wurde Werfthilfsarbeiter bei Blohm & Voss in Hamburg und schrieb seine ersten Texte über die Arbeitswelt, die er dort erlebte. 1933 forderte ihn seine jüdische Freundin auf, mit ihr das Land zu verlassen. Das tat er zwar, per Fahrrad, kehrte aber schon nach wenigen Monaten zurück: »Ich wollte nicht nur aus der Ferne an der Entwicklung teilnehmen, ich wollte dem Selbstfindungsprozess meines Volkes, der ein Fäulnisprozess gewesen ist, nahe sein, ihn riechen und schmecken.« 1938 heiratete er die Tochter des Berliner Nationalökonomen Hermann Schumacher, des Gegenspielers von Werner Sombart, nachdem er 1936 in Berlin begonnen hatte, für den Scherl-Verlag zu arbeiten. Die Schwester seiner Frau war mit dem Physiker Werner Heisenberg verheiratet. Kuby war überzeugt, die Einberufung zur Wehrmacht sei für ihn selber gerade im rechten Moment gekommen – er wollte sich die Hände nicht schmutzig machen, und im zivilen Leben hätte er sich nicht länger tarnen können.
Nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft arbeitete er zunächst als Berater der »Information Control Division« in München, zuständig für die Lizenzvergabe. 1947 wurde er Chefredakteur der legendären Zeitschrift Der Ruf, nachdem die US-Militärregierung die ersten Herausgeber Alfred Andersch und Hans Werner Richter abgesetzt hatte. Aber Kuby teilte bald das Schicksal seiner Vorgänger: Schon nach einem Jahr wurde er gefeuert, weil er Texte und vor allem einen Leserbrief veröffentlicht hatte, die den Lizenzträgern gar nicht gefielen, so dass sie, wie Kuby schreibt, »mit der Absicht umgingen, jemand für den Ruf zu finden, der ihrer stinkbürgerlichen Gesinnung eher entsprach«. So kam Erich Kuby zur Süddeutschen Zeitung, wo er unablässig und erbittert gegen die Wiederbewaffnung und die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen wetterte.
Wirklich richtig berühmt wurde Kuby 1958 durch seine Idee und das Drehbuch für den Film Rosemarie, des deutschen Wunders liebstes Kind, den Rolf Thiele mit Nadja Tiller drehte. Der daraus entstandene Roman wurde in siebzehn Sprachen übersetzt – damit wurde Kuby der Émile Zola der deutschen Wirtschaftswunderjahre, denn er schilderte die Bundesrepublik der Mittfünfziger Jahre so gnadenlos, dass einem der Geschmack an CDU, Wirtschaftswunder und dem »Wir sind wieder wer« vollends verging – und man sich fragte: Waren wir je »wer« oder haben wir in den beiden Weltkriegen nur unsere nicht enden wollenden Minderwertigkeitskomplexe überkompensiert, weil wir es in bald dreihundert Jahren zu nichts mehr gebracht hatten? Das merke ich jetzt besonders eindrucksvoll, seit ich in London lebe und täglich spüre, wie viel angenehmer und beruhigender es ist, dreihundert Jahre die Welt regiert zu haben als in einem Jahrhundert zwei Weltkriege anzufangen – und verloren zu haben.
In jenem Jahr, 1958, landete Kuby, dessen journalistische Unabhängigkeit sich durch die Jahrzehnte erweisen sollte, für eine Weile bei der Welt, verließ sie aber bald wieder, nachdem sich das Blatt, ja der ganze Verlag nach Axel Springers und Hans Zehrers Moskau-Reise in eine Kampftruppe des Kalten Krieges verwandelt hatten. 1962, ich erwähnte es schon, kam Kuby zum Stern, wo er aber auch seine Probleme hatte: Als Chefredakteur Henri Nannen 1964 Franz Josef Strauß eine vierzehntägige Kolumne angeboten hatte, schmiss Kuby alles hin und ging zum Spiegel, kam aber nach anderthalb Jahren wieder zum Stern zurück.
Und er schrieb ein Buch nach dem anderen, vor allem eines, das auch sein privates Leben veränderte: Für den Stern recherchierte er Ende der siebziger Jahre, wie die Deutschen nach dem Badoglio-Putsch 1943 in Italien gehaust hatten. Da er kein Italienisch sprach und der wissenschaftlichen Assistenz bedurfte, suchte und fand er die Mitarbeit einer jungen, in Italien lebenden Germanistin, Susanna Böhme. Der Stern druckte die Italien-Geschichte nicht. Kuby schied endgültig aus der Redaktion aus und war mit 70 Jahren wieder ein freier Mann, dessen »Schreibmaschine überall stehen konnte«, wie er es ausdrückte. Geblieben sind ihm aus dieser umfangreichen Arbeit das sehr erfolgreiche und für die Deutschen gar nicht angenehme Buch Verrat auf deutsch – wie das Dritte Reich Italien ruinierte, und Susanna, die dann seine zweite Frau wurde und mit der er 1982 noch einen Sohn, Daniel, hatte, sein sechstes Kind. Bücher halten ja sehr lange, aber entgegen der Erwartung mancher hielt auch diese Ehe – bis zu seinem Tod.
Kuby lebte mit Frau und Sohn in Venedig, in einer Ecke, die von Touristen nicht überschwemmt wird – und dort schrieb er bis in die neunziger Jahre hinein Bücher, fast jedes Jahr eins, die längst nicht alle so wahrgenommen worden sind, wie sie es verdient hätten, ich denke nur an seine Warnungen in Bezug auf den Preis der Einheit (1990) oder Deutsche Perspektiven (1992). Seit 1993 schrieb er dann noch 10 Jahre lang für den Freitag, dessen Mit-Herausgeber der im vergangenen Jahr zu früh und unersetzlich gestorbene Günter Gaus war. Der »Zeitungsleser« Kuby faxte damals eine wöchentliche Presseschelte aus Venedig nach Berlin, die seine nach wie vor unbestechliche Urteilskraft dokumentierten. Tempi passati.
Man muss ja nicht gleich Ernst Jünger übertreffen – in gar keiner Hinsicht. Aber Erich Kuby hätte es zeitlich beinahe schaffen können, er hat bis zum Schluss noch gemalt, eine Tätigkeit, die ihn – wie sein Musizieren – lebenslang begleitet hat. Wir werden ja allmählich fast alle viel zu alt – aber den Erich Kuby hätten wir dennoch gerne noch eine Weile unter uns gehabt. Dann hätte er sich auch über diesen Preis freuen können.
Als wir noch jünger starben, gab’s ein paar Alte, die über die Vergangenheit sagen konnten, was sie wollten, weil keiner mehr da war, der hätte widersprechen können. Kuby hätte sich das mit seinen 95 Jahren auch leisten können, aber was hätte er erfinden sollen, was er nicht schon formuliert hatte? Vor allem nichts, um sich nach vorne zu lügen und Aufmerksamkeit zu bekommen – die war ihm ohnehin sicher.
Manche, gar viele, die nicht wissen, wovon sie reden, manche, die nicht richtig lesen können, hielten und halten Kuby für einen Linksintellektuellen, gar für einen Kommunisten. Er war hingegen ein freier, unabhängiger Mensch, fern aller Ideologie, auch darin Tucholsky vergleichbar, der sich, diesen paraphrasierend, als »Anti-Antikommunisten« hätte bezeichnen können. Beide nahmen sich immer das Recht, ihre Meinung zu sagen, auch wenn sie in kein Schema passte – und danach auch zu handeln: zum Beispiel in den endsechziger Jahren einen Hamburger Studenten-Revoluzzer wochenlang in Kubys Wohnung in der Parkallee unterzubringen, weil er vom Staatsschutz gesucht wurde. Weil er Unabhängigkeit – in seinem journalistischen Leben, wie im Privaten – dokumentierte, die manche fast wie Arroganz anmutete, haben ihn nicht wenige angefeindet, fast gehasst – und doch auch beneidet und respektiert. Er hat sich nie auf faule Kompromisse eingelassen.
Vor allem nicht auf die Verdrängung und Verharmlosung der Nazizeit, die doch in Wahrheit die Zeit der größten deutschen Selbstverwirklichung war, wie er nicht nur einmal formulierte. Nach 1945 aber »sind sie aus ihrer Geschichte ausgestiegen, haben aufgehört ein Volk zu sein. Tagtäglich werden wir Zeugen hilfloser Bemühungen, aus einer gestaltlosen, kulturlosen, demoralisierten Masse wieder ein Volk zu machen, als ließe sich das mit Feuilletons, Büchern und Ministerreden bewerkstelligen und von einer politischen Klasse, die mit nichts anderem beschäftigt ist, als die nächsten Wahlen zu gewinnen«, schrieb er 1996 am Schluss von Lauter Patrioten.
Wir ehren hier und heute einen Widerspenstigen, einen Aufsässigen, einen Herren, der nie wegschaute, sondern immer alles aufschrieb, was er gesehen hatte, gleichgültig, ob es ihm, seiner Redaktion oder seinen Lesern gefiel. Er war unbarmherzig auch mit sich, wenn er formulierte – und er fand bis zum Schluss immer wieder jemanden, der ihn druckte. Kuby war nicht etwa kompromissunfähig, aber er hatte instinktiv sichere Grenzen, die er nicht zu überschreiten bereit war; dann ging er sofort. Deshalb ist er auch der richtige Preisträger für Tucholsky – das sind zwei, die zusammenpassen. Es wird schwer werden, in Zukunft einen zu finden, der da mithalten kann.

Heinrich Senfft