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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Mein Weg zu Kurt Tucholsky

Dankesrede von Prof. Dr. Jochanan Trilse-Finkelstein anlässlich der Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik 2015 für sein Lebenswerk.

»Soll ich reden, darf ich schweigen?« Mit solchem Fragesatz hatte Thomas Mann am 14. Mai 1955 seine zweite kleine Rede im Saal des Weimarer Schlosses eingeleitet – er hatte die Festrede anlässlich des 150. Todestages von Friedrich Schiller gehalten – seine Dankesworte für ein Ehrendoktorat der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Nach Erika Mann der 14. oder 17.9.) Ich hatte die Ehre, dabei zu sein – als Assistent von Prof. Ernst Fischer, Wien, seines Zeichens nicht nur Professor, sondern auch ein begnadeter Essayist und sogar Lyriker von einigem Format.

Diese Szene ist mir unvergesslich geblieben, und nun gab sie mir sogar eine Hilfe. Ich hatte zwar einige Doktoratsverleihungen erlebt – mit Universitäten hatte ich mehr zu tun als mit Preisverleihungen – da bin ich ungeübt und musste erst einmal Umschau halten, wie das gemacht wird.

Und da war mir halt eine der ganz großen Szenen eingefallen – ich hatte Thomas Mann schon immer viel zu verdanken – freilich außer diesem Auftreten nichts Persönliches, umso mehr Literarisches, so zwischen Sinn und Handwerk.

Als Nebenbemerkung: Ich werde hier selbstredend auf außerhalb des Themas liegende Darstellungen weitfassender politisch-sozialer, gar historischer Kritikbilder und ebensolcher Visionen verzichten. Meine Bemerkungen dienen nur dem leichteren Einstieg ins Thema.

Immerhin waren beide antifaschistische Emigranten und entschiedene Gegner des Hitler-Faschismus und bekämpften ihn – mit literarischen Mitteln; jeder mit den ihm gemäßen – Mann aus der Ferne des andern Kontinents, der als Sieger dennoch nicht mehr heimkehrte, Tucholsky aus dem Ostseeraum, indes sich bald erschöpft habend, das Grab in Hindås vorgezogen hatte.

Dennoch bleibt die Frage: Was hatten sie miteinander zu tun? Literarisch wenig – wie sollten der Epiker großer Untergänge und Beschreiber geistköniglicher Gestalten, gar Erzähler riesiger mythischer Entwürfe des menschlichen Überlebens und der scharfsinnige Satiriker, der hochpolitisch-analytische Autor der kurzlebigen, konfliktbeladenen deutschen Republik, die so irreführender Weise den Namen Weimars trägt (nur weil die Verfassungsgeber den bandenartig an der Spree hausenden reaktionären Freikorps an die friedlichere Ilm ausweichen mussten), miteinander auskommen, genauer: nebeneinander bestehen?

Beide sind repräsentative Vertreter jener großen Epoche deutscher Literatur, die wir Historiografen heute »Literatur des antifaschistischen Exils und Widerstandes« nennen, einer der hochgradig wichtigen Kapitel der deutschen Literaturgeschichte.

Was aber hat Thomas Mann bei Kurt Tucholsky zu suchen? Sonst verbindet die beiden wenig – sie waren beide antifaschistische Emigranten und Hitlerfeinde – wie auch anders!

Sie bilden quasi Eckpfeiler jener Periode, sind Flügelkämpfer der literarischen Front, stark im Einsatz und nicht ohne Tragik.

Thomas Mann verschwindet nun von unserer Bühne – mit Dankesgrüßen für Hilfe beim Bilden jener Literaturfront, in welcher Tucho, wie wir ihn fortab nennen, eine wichtige Kraft dargestellt hatte. Thomas Mann verschwindet nun von meiner Bühne, nicht ohne Dankesgrüße, und ich suche und beschreibe meinen Weg zu Kurt Tucholsky.

Zu dem ich allerdings noch einen Umweg gebraucht habe.

Ein Lehrer, zugleich Stellvertreter des Kurators (Direktor am Theresianums Wien) hatte einmal einen Auftritt des Jura-Soyfer-Ensemblesi erlebt und mich als Sprecher dieses Ensembles wahrgenommen.

Daher ward ich nun schnell zum Sprecher des Gymnasiums gekürt. Wie im Ensemble war auch hier Karl Kraus Text-Geber.

Nun soll man nicht etwa annehmen, dass dort etwa Kraus Unterrichtsstoff im Fach deutschsprachige Literatur gewesen wäre. Da handelten müde alte Lehrer endlos ab, was sie konnten, und das waren vor allem Grillparzer und Zeitgenossen (dazu ein wenig Nestroy), und wenn es hoch kam, schafften sie es bis Anzengruber und Lauterbach. Hofmannsthal und Genossen waren böhmische Berge im Nebel.

Erst sehr viel später leuchteten sie über Frequenzen von Richard Strauss‘ großem Orchesterklang und strömendem Gesang erlesener, genauer: erhörter Sänger der ersten Klasse von der Bühne, vor allem in Salzburg und Wien, dann von Platte und CD.

An die neuere Literatur tappten wir Schüler uns selbst heran, und das waren zunächst Hofmannsthal und die Riesengestalt des Karl Kraus. Dies sei freilich nur eingeschränkt erklärt, denn viele Texte waren damals (als damals gelten die fünfziger Jahre bis in die sechziger, also die frühe Studienzeit) noch nicht bzw. noch nicht wieder veröffentlicht, und das betrifft vor allem Texte jüdischer und linker Autoren – die Nazis hatten ihre Bücherpolitik auch an die Donau gebracht. Doch, um einem alten Marx-Diktum zu folgen, auch die Büchervernichtung ward gemildert durch Schlamperei – so manches Gute fand sich wieder.

Wir Schüler gründeten – mit Unterstutzung des damals neuen Vizekurators – eine Arbeitsgruppe »Moderne Literatur«, und lernten für uns und lehrten einander. Nicht alle Schüler kamen. Aber doch, aus den drei obersten Jahrgängen (Obersekunda, Unter- und Oberprima), aus den jeweils drei parallelen Klassen waren zunächst etwa vierzig Schüler gekommen, die sich allmählich auf ca. 30 reduziert haben, und in dieser Zahl weitgehend konstant geblieben waren.

Hier befassten wir uns von Beckett und Brecht über die Manns bis zu Toller und den Zweigs, von Borchert bis Zuckmayer, mit Kraus im Besonderen und mit Soyfer, und wir lernten Gorki und Majakowski und Giraudoux und Sartre u.a.

Eigentümlicher Weise kam aber Tucholsky damals noch nicht vor. Die Anregung kam von woanders, doch als ich ihn schon etwas kannte, habe ich ihn hereingebracht, und einige seiner Texte wie etwa Der Graben u.a. im Ensemble rezitiert.

Wie sich vielleicht mancher erinnert oder einfach weiß, war Wien zwischen 1945 und 1955 (also bis zum Staats-, schließlich auch Friedensvertrag) eine Viersektorenstadt der Sieger- und Besatzungsmächte, nur eben nicht so lange. Meine Eltern und ich lebten vorrangig im sowjetischen Teil, im Besonderen als Medizinerpaar im Stadtteil Wieden (IV. Bezirk, von wo aus es in den X. (Favoriten), zur Klinik nicht allzu weit war). Und in diesem sowjetischen Sektor hatte die Besatzungsmacht ein Kulturhaus, was zu großen Teilen nicht nur der sowjetischen Seite, sondern auch der Wiener Bevölkerung zugänglich war – eine öffentliche Kulturstätte.

Es gab dort eine Bühne mit Saal, ein kleines Kammerspiel, Gesellschaftsräume unterschiedlicher Größe, nicht zuletzt eine Bibliothek beachtlicher Größe, mit einem beträchtlichen Anteil russischsprachiger Texte wie die gleiche russische Literatur in deutscher Sprache; Literatur der Alliierten, also in Englisch und französischer Sprache und eben auch eine beträchtliche Anzahl deutscher Bücher aus älteren deutschen Übersetzungen wie auch neueren, meist DDR-Ursprungs; doch auch österreichischer Herkunft – damals hatte ich Majakowski-Übersetzer Hugo Huppert kennengelernt, später Autor von mir im Berliner Henschelverlag.

Und hier verwaltete, leitete, regierte, ja fast könnte man sagen: herrschte Emmi Wolff. Seinerzeit eine berühmte Person vom Weltkrieg her; eine Heldin der Sowjetunion – das war der höchste Kriegsorden der UdSSR. Sie war Fallschirmspringerin der Roten Armee, war hinter den deutschen, also feindlichen Linien abgesprungen und hatte Brückenköpfe bzw. Igelstellungen gebildet, die der Roten Armee schnelle Angriffe und spätere Siege ermöglicht hatten.

Nun leitete diese, zu meiner Zeit etwa knapp fünfzigjährige Frau diese Kultur- und Informationsstätte als Ganzes, die Bibliothek im Besonderen – sie las und sprach in mehreren Sprachen, auch und besonders gut Deutsch, sie hatte deutsche Vorfahren. Ich versuchte dort, halbwegs Russisch zu lernen, was mich in die Lage versetzt hat, auch Majakowski und andere Dichter original zu rezitieren.

Eines Tages fragte sie mich, ob ich einen Dichter und Schriftsteller (Sie sagte »писатель« [Schriftsteller] namens Tucholsky kenne. Der nun schon fast 24jährige Student der Literatur, inzwischen im 8. Semester, musste – durchaus beschämend – verneinen. Er hatte sich – im vermeintlichen Besitz von Kraus und als Beinahe-Leiter genannter Arbeitsgruppe »Moderne Literatur« – eigentlich sicher gefühlt in dem Bereich. Kraus ging ihm von den Lippen und Soyfer, fast der österreichische Büchner, war obendrein hinzugekommen:

Nun, da lies mal: Glänzender Schreiber, fast ein wenig zu nahe am Journalismus, doch ein Gesellschaftskennner, Kriegsgegner und Internationalist. Sagte ähnliches über Hitler wie Kraus, doch war ihm über den durchaus noch etwas mehr eingefallen. Von ihm habe ich folgenden Satz gelesen: »Die Linke spricht das Richtige – über Sachen. Die Rechte spricht das Falsche, aber an Menschen.«

Mensch, war der klug, könnte sich unsre Führung einiges abschneiden, von dem, was wir falsch machen. Dieser Mann war schon lange, bevor dem H. die Macht zugeschoben worden war, in Paris, zunächst als Pressekorrespondent, bald schon eher als Exilant im schwedischen Exil, wo er seinem Leben im Dezember 1935 ein Ende bereitet hatte, ein halbes Jahr vor Kraus, bevor der erschöpfte Schriftsteller-Gigant gestorben war (12. VI. 1936). Kannst daran üben, genau was für dich!

Womit sie keineswegs ein solches Ende gemeint hatte, sondern Lebens-und Überlebens-Hilfe, politische Praxis und Weisheit. Sie hat mir bei diesem – Anlass ein Bündel mit abgeschriebenen Texten gegeben, meist Gedichten, etwas Prosa war auch dabei, sowie den bekannten Band Mit 5 PS, ziemlich zerlesen:

Der schrieb übrigens unter fünf Namen, vier davon so sonderbare Pseudonyme mit Raubtiernamen wie Panter und Tiger, auch gab er sich den Namen des sich unwissend stellenden Schalks Kaspar Hauser. Er muss es wohl nötig gehabt haben, sich zu tarnen. Die Deutschen von damals waren schon schlimm und ziemlich blöd, sich diesem Österreicher zu unterwerfen und dann die halbe Welt, schließlich uns in den Krieg zu ziehen – na ja, von uns [UdSSR] haben sie schließlich die stärkste Prügel bekommen.

So Emmi Wolff, die Heldin!

Ich las die Texte, lernte zahlreiche auswendig, bereicherte mein Repertoire neben Soyfer, Brecht, Majakowski um die Tucholskys.

1956 hatte ich Wien und Graz verlassen, ein Semester verloren in Frankfurt/M gehungert, so zwischen geistigem Feuer Adornos und seiner Anti-Solidarität und war 1957/58 in Leipzig angekommen, in den philosophisch-literarischen Glanzzeiten von Bloch, Mayer und Markov, begleitet von Ausflügen nach Jena, um sprach-sprechwissenschaftliche Grundlagen zu festigen (bis 1958).

Eine attraktive Professorin mit weittragender Stimme und einigem Sensus studierte mit einigen wenigen, halbwegs künstlerisch veranlagten Studenten Gedichte und Prosa ein und verlangte von jedem von uns Programme. Die Weimarer Klassiker allen voran!

Schiller konnte ich einigermaßen, war mir indes zu pathetisch; Goethe nur der jüngere – »Urworte. Orphisch« und andere schwere Brocken blieben mir damals unzugänglich, weil unverständlich. Ich hatte der Dame Heine angeboten, darauf war sie eingegangen, das Programm bestand vor ihren Augen und ist Grundlage vieler späterer Leseabende geblieben. Sie wollte mehr.

Ich bot an: Kästner, Morgenstern, Ringelnatz, na ja »wenn Ihnen dieser immerhin köstliche Blödsinn reicht?» So ganz passten diese ihr nicht. Sie wollte Schwerer-Gewichtiges. Da hatte ich ihr nun Tucholsky angeboten, der so scheinbar Leichtes mit Gewichtigem verbinden gekonnt hatte. Sie kannte indes diesen Autor noch nicht. Ich besorgte die ersten DDR-Ausgaben, wesentlich die von Walther Victor, die zwar wichtig waren, aber eben noch sehr viel vermissen ließen, auch das hier bereits genannte, von ihm selbst bearbeitete Lesebuch. Die Ausgaben vor 1933 waren schwer zu haben dort, ich konnte ihr nur Mit 5 PS geben.

So ganz begeistert war die affektive Dame nicht, ließ mich das Programm indes machen. Es hatte vollen Erfolg in der Studentenschaft, sogar Interessenten zum Mitmachen. Und so ward es zur – immer wieder veränderten – Grundlage der meisten Programme, mit denen ich viele Jahre durch die Lande gezogen bin: entweder war ich allein unterwegs, da nahm ich mehr Skript zur Hand und hielt Kolleg; oder ich hatte ein vierköpfiges Ensemble, und wir machten Kunst: ein zweiter Sprecher, meist ein Schauspieler, ein Sänger (oder Sängerin) und ein Pianist.

Wir trugen meist die Eisler-Lieder vor, manchmal, wenn mir der Sänger ausgefallen war, nahm ich die Platten von Gisela May, die diese Lieder so hervorragend vortragen konnte.

Am häufigsten trug ich auf diese Art Tucho in meiner Weimarer Zeit vor, so bis 1966. Ich war damals an den Weimarer Klassik-Instituten beschäftigt und hab auch über Goethe gelernt, spätere Editionen und Texte von mir geben Zeugnis. Am meisten interessierte mich freilich die Heinrich-Heine-Säkular-Ausgabe. Mit österreichischem Pass versehen, konnte ich in Länder (selbst Israel) reisen, um Handschriften zu beschaffen, die meist in jüdischer Hand waren. Der alte Salman Schocken war lange nicht bereit, seine Handschriften an Deutschland herauszugeben – die Todesmaschinerie des NS-Staates hatte große Teile seiner Familie vernichtet. Erst als der Alte gestorben war, der Sohn Gerschom das große Erbe übernommen hatte und man in Israel erfahren hatte, dass auch Juden in Weimar arbeiten konnten, ich ihm gegenüber gesessen hatte bei erst gemeinsamem Tee, später bei tiefer wirkenden Getränken und erstklassigen Speisen, gab es auch Handschriften, und die HSA konnte erarbeitet werden.

In Weimar hatte man mir das übrigens nicht gedankt, doch habe ich zahlreiche Heine-Editionen gemacht, zwei Biografien geschrieben und eine Spezial-Edition Heinrich Heine und Kurt Tucholsky in Paris (Berlin 2010), die hier im Konferenzsaal vorliegt und auf die ich noch kurz zu sprechen komme.

Die Tucho-Programme hab ich bis in die70er Jahre vorgetragen, bis die Ärzte mir Schluss geboten, ein zweiter Infarkt durfte nicht sein. Auch war die Stimme nicht mehr so gut. Und andere Arbeiten erhielten Vorzug. Aber wie das zuletzt genannte Buch gezeigt hat, bin ich Tucho nie untreu geworden.

Abgesehen von seiner literarischen Kunst, seiner Schreibweise, seiner antikapitalistisch-antifaschistischen Haltung, seiner Exilerfahrung (meine Eltern hatten einige Texte mit), die in manchem unserer geglichen haben, – seinem säkularem Judentum (»Ich weiß, dass man aus dem Judentum nicht austreten kann«) verbindet mich mit ihm seine schöne Haltung zu Heine.

Ist dieser Satz nicht herrlich?

Besser wäre, die Reisebriefe Heines wären bekannter als sie sind – auch die aus den Pyrenäen – und alle seine Berichte aus Paris, in denen er sich als Jahrhundertkerl seltnen Formats, als einen Propheten und einen Allesüberschauer zeigt.ii

Wie ähnlich auch ihre jeweilige Haltung zu Paris:

Fragt sie jemand, wie ich ich mich hier befinde, so sagen Sie. Wie ein Fisch im Wasser. Oder vielmehr, sagen Sie den Leuten; daß, wenn im Meere ein Fisch den anderen nach seinem Befinden fragt, so antworte dieser: Ich befinde mich wie Heine in Paris! (1832)

Ähnlich reagierte der andere, also Tucho, im Gedicht Park Monceau:

Hier ist es hübsch. Hier kann ich träumen.

Hier bin ich Mensch – und nicht nur Zivilist. […]

Ich sitze still und lasse mich bescheinen.

Und ruh von meinem Vaterlande ausiii. (1924)

Man kann davon ausgehen, dass sie beide Brüder im Geiste sind – trotz des Jahrhunderts dazwischen. (Zum Thema verweise ich auf das angeführte Buch von 2010). Tucho hatte auch etwas an sich, was mich beunruhigt hatte: Eine überaus schlechte Meinung von Juden.

Im Moment des Ausdrückens dieses Epithetons muss ich mich auch revidieren. Gemeint ist der kleinbürgerliche, allzu assimilierte Erwerbs-Jude, der sich im deutschen Bereich aufgehoben geglaubt hatte, sich als widerstandsunfähig erwiesen hat, die minderzahligen Zionisten ausgenommen. (Zumal einst das Zinsnehmen Christen verboten war, schließlich wichtigste Erwerbsquelle vieler Juden geworden, inzwischen kein jüdisches Monopol mehr war.)

So war es schlussendlich dazu gekommen, dass ein großer Teil unseres Volkes, in besonderem Maße dieser beschriebene Typus ins Schlachthaus, sprich: Gaskammer transportiert worden ist – nur wenige haben gekämpft, zu wenige, um zu siegen. Dennoch bleibt der Warschauer Ghetto-Aufstand von 1943 als Heldenlied in unserem Gedächtnis.

Dazu noch folgende Schlussanmerkung: Das von Tucho dazu Gesagte hatte für Aufregungen unter uns Juden gesorgt – es war nicht alles richtig. Der beste Richter und Ausgleicher in diesem Fall war Arnold Zweig. Mit einigen Sätzen aus dem bekannten Brief von Anfang 1936, die Antwort auf Tuchos Abschiedsbrief vom 15. Dez. 1935, die Tucho nicht mehr erreichen konnte, will ich schließen – er ist der schönste, tiefste, der sich denken lässt; auch wenn sich das Wort »schön« angesichts des Todes, solchen Todes, eigentlich verbietet.

Ich las ihn in vielen Lesungen:

Lieber Tucholsky, schlafen Sie wohl. Wie weh tut es mir, nicht sagen zu können: auf Wiedersehen. Wieviel stille Tränen schon geschlossen, weil man Sie auf die Vermißtenliste setzen muß, die Liste derer, die wir immer vermissen werden. Sie ist schon hübsch lang, diese Liste. Nach meinen Augen fragen Sie. Wie sie auch immer seien. Sie werden sie nie mehr sehen. Aber Ihren Nachruhm und Ihr Gedächtnis und den Dank an Sie, den wohl. Wer uns so lachen und zürnen machte, und just über das Lächerliche und Empörende, wer so herrlich zu spaßen und weise zu sehen vermochte wie Sie, und alles so auf deutsch, der mag gern ausruhn wie H. Heine. Er ist ein Lebender wie er. Und somit verläßt Sie fürs erste und weitere Ihr Kamerad

i Ensemble der FÖJ mit dem Namen des jungen österreichischen linken Poeten, in Buchenwald umgekommen

ii Aus: Ein Pyrenäenbuch. Tucholsky GA Bd. 9 [T 1], S. 7-171, hier: S. 117, Z. 4033-4037

iii Theobald Tiger: Parc Monceau, Die Weltbühne 15.5.1924, Tucholsky GA, Bd. 6, [T 60], S. 141f.

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Laudatio auf Jochanan Trilse-Finkelstein

Hoch zu ehrender Preiskandidat, sehr verehrte Frau Barbara Roca, werte Ehren-, Vorstands und Vereinsmitglieder, verehrte Gäste, werte wohlgesinnte Förderer des Preises, liebe Tagungsteilnehmer und Gesinnungsverwandte Kurt Tucholskys, liebe Freunde und Gäste aus allen Bundesländern, Regionen und Kontinenten!

Heute, am 18. November 2015, in einer politisch bewegten und besorgten Zeit, zwischen herabrieselnden Blättern in diversen Testfarben und im Nachgang zu Kurt Tucholskys fünfter Jahreszeit, ehren wir zum 13. Male in unserer Vereinsgeschichte eine Persönlichkeit mit dem Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik.

Entsprechend der Ausschreibung werden mit diesem Titel die Autoren engagierter und sprachlich prägnanter Werke und Veröffentlichungen ausgezeichnet, die sich erkennbar auf zeitgeschichtlich-historische Vorgänge beziehen, in der Tradition des Namensgebers für Verständigung, Toleranz und ein friedliches Miteinander der Menschen eintreten und die Realität hinter vorgeschobener Fassade erhellen. Möglich sind auch Würdigungen eines Lebenswerkes, und das, verehrte Anwesende, meine Damen und Herren, ist heute zum dritten Male in der Preisgeschichte der Fall.

In der Person Prof. Dr. Jochanan Trilse-Finkelsteins verbinden sich auf individuelle, kaum vergleichbare Art Lebenswerk und Lebensweg, und die vollendete Beherrschung unterschiedlichster Facetten des literarischen Genres ist bei dem heute zu Ehrenden nicht mehr und nicht weniger als ein nahezu selbstverständliches Attribut, eine das Werk begleitende Beifügung.

Sein erstes Theaterlexikon, dessen federführender Herausgeber und Autor unser Preisträger – damals noch unter dem Namen Christoph Trilse – war und das 1977 beim Henschel-Verlag herauskam, begegnete mir als Pädagogen und Kleinkunstmenschen mehrfach. Persönlich bekam ich den Autor lange nicht zu Gesicht.

Das änderte sich 1994, als meine Frau und ich auf Veranlassung Brigitte Rotherts zum ersten Male an einer Jahrestagung unserer Gesellschaft teilnahmen, und die ereignete sich im Tucholsky-verklärten Schwedenschloss Gripsholm. Diese Konferenz war es übrigens auch, die den Preis beschloss, der uns heute im Palais neben der Zelterschen Singakademie im theaterumflairten Aktionsraum am Festungsgraben zu löblichem Zwecke zusammenführt.

Einer der damaligen Tagungsteilnehmer war der Professor, der sich durch seine würdige, achtunggebietende Erscheinung im und aus dem Forum besonders heraushob.

Der Klar- und Wahrheit halber betone ich, dass ich diese sachliche Feststellung keinesfalls als Affront gegenüber den anderen damals Anwesenden verstanden wissen möchte. Mit gleichem Nachdruck konstatiere ich, dass unser Preisträger auch heute noch, rund 20 Jahre später und in einem Lebensalter, das behördlicherseits mit dem Stempel »hochbetagt« gebrandmarkt wird, nichts an äußerer Ausstrahlung verloren hat.

Auf die innere Kompetenz werden wir sowieso gleich noch zu sprechen kommen.

Eine Persönlichkeit, deren zeitkonform erschienene 650seitige Hacks-Biographie sich des Dichterzitats Ich hoff‘, die Menschheit schafft es! als Buchtitel bedient, gibt sich zugleich selbst preis.

Jochanan Trilse-Finkelsteins Lebensverlauf ist wie kaum ein anderer von tragischen Zeitereignissen und -erlebnissen bestimmt und von seiner Zugehörigkeit zum Judentum und zur jüdischen Lebensweise geprägt. Sein Weg ist von unermesslichem persönlichen Leid gezeichnet, aber auch von seiner unerschütterlichen antifaschistischen Haltung, von nicht erlahmendem Friedenswillen und von Toleranz. Es ist mit dem »Prinzip Hoffnung« verwachsen, das sich in der Vorstellung Jochanans mit den Idealen des Sozialismus verband. Die damit verknüpften Verhaltensnormen sind in unseren Tagen nicht weniger gefordert als zur Lebenszeit Tucholskys und Ossietzkys.

Jochanan Trilse-Finkelstein verlor außer den Eltern alle Angehörigen durch die Shoah, kämpfte als Kindersoldat – der Vater war Chirurg, die Mutter Krankenschwester – in Jugoslawien gegen die deutschen Nazis und ihre Kollaborateure.

Seinen humanistischen Idealen blieb er trotz schmerzhafter körperlicher Erfahrungen auch in jüngerer Zeit treu. Derlei Erfahrungen waren es auch, die ihn dazu bewogen, seinen vollständigen jüdischen Namen wieder anzunehmen.

Geboren wurde er – fast auf den Ehrungstag genau – am 10. Oktober 1932 in Breslau in einem jüdischen sozialdemokratischen Elternhaus. Sein Vater stammte aus Polen, die Mutter kam aus Galizien.

Die Emigration führte die Familie über Wien nach Prag, von dort nach Triest, nach Shanghai und illegal wiederum nach Wien und von da in die von Josip Broz Tito geführte Volksbefreiungsarmee. Nach dem Inferno des II. Weltkrieges setzte sich der Lebensweg der Familie in Wien fort.

Lassen Sie mich, werte Teilnehmer der Würdigungsveranstaltung, die wichtigsten Daten und Fakten der Entwicklung unseres diesjährigen Preisträgers auflisten:

  • 1951 Matura am Theresianum in Wien

  • 1952 Lehre in der Forstwirtschaft

  • 1953-1956 Studium der Philosophie und der Theaterwissenschaften an der Rudolfina in Wien

  • 1957-1958 Fortsetzung des Studiums bei den Professoren Bloch, Mayer und Markov in Leipzig

  • 1959 Theaterdramaturg in Erfurt und Güstrow

  • in den 60er Jahren wissenschaftliche Tätigkeit an den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten für klassische Literatur in Weimar mit besonderer Orientierung auf Heine

  • 1966-1971 Lektor und Lektoratsleiter bildende Künste im Henschel-Theaterverlag Berlin

  • 1971/72 Promotion

  • 1972/73 Redakteur der Weimarer Beiträge im Aufbau-Verlag

  • 1973 Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR

  • seit 1973 freier Autor, Publizist und Herausgeber

  • 1977 Habilitation in Greifswald

  • 1980 Titularprofessor

  • 1990 Mitbegründer des Jüdischen Kulturvereines in Berlin, dort

  • 1992-2003 Vorstandsmitglied.

Ich fühle mich dem Autor und zugleich Ihnen, meine Damen und Herren, verpflichtet, aus der Werkbiographie Jochanan Trilse-Finkelsteins folgende Titel auszuwählen.

  • Geschichte der deutschen Schauspielkunst Berlin 1967

  • Antike und Theater heute Berlin 1975

  • Erstes Theater-Lexikon Berlin 1977

  • Das Werk des Peter Hacks Berlin 1980

  • Lexikon Theater International Berlin 1995

  • Gelebter Widerspruch – Heinrich Heine, erschienen anlässlich seines 200. Geburtstages, Berlin 1997

  • Heinrich Heine und Kurt Tucholsky in Paris: Tradition gelebter Widersprüche, gleicher Gegner und nicht eingelöster Ideale Berlin 2010.

Diese Thematik war mehrfach Vortragsgegenstand des Autors in der Kurt-Tucholsky-Bibliothek in Berlin-Prenzlauer Berg und im Tucholsky-Literatur-Museum in Rheinsberg und veranlasste mich als damaligen Vereinsvorsitzenden, Jochanan Trilse-Finkelstein für einen Vortrag im Rahmen der 20-Jahres-Tagung unserer Gesellschaft in der Maison »Heinrich Heine« im Campus der Pariser Hochschulen zu gewinnen.

Einige Vereinsmitglieder werden sich sicher erinnern: Wir hörten einen anregenden, problemhaften Vortrag, der allerdings fast einen Eklat herbeiführte, da er eine spezifische Qualität des Referenten offenlegte: seinen flexiblen Umgang mit dem Zeitfonds.

Die damalige Versammlungsleitung wird sich der dadurch entstandenen Spannungssituation entsinnen, die ich lediglich der Vollständigkeit halber erwähne.

Wesentlich wichtiger erscheint mir der Hinweis auf die Quintessenz des Heine-Tucholsky-Bandes, die der Autor auf dem Cover dokumentiert.

Beide – Heine und Tucholsky – bekämpften als Europäer Deutschland, weil sie es liebten, und sie meinten das andere, das demokratische, friedliche, gerechte, tolerante, schöpferische – das des aufrechten Ganges, das Deutschland mit allen, nicht über alles und allen, das gute Deutschland von Anmut und Mühe, Leidenschaft und Verstand und Arbeit und Güte.

Aber sie kannten das alte und krankten daran – der Andere überlitt es, der Eine starb daran. Beider Deutschlands Flucht korrespondierte auch die Judenflucht – ein schwer entwirrbares circulus vitiosus.

Weitere 100 Jahre später – sagen wir, im Oktober 2015 – sei darauf Bezug genommen: in einer Zeit, die den Flüchtlingsstrom der Kriegs- und Nachkriegszeit übertrifft, in der mögliche Unterkünfte in unserem Heimatland vorsorglich brandsaniert werden, zugleich aber auch zahlreiche Helfer unterschiedlicher sozialer Beschaffenheit und konfessioneller Bindungen von ihnen nicht verursachtes und nicht zu verantwortendes Leid zu lindern suchen.

2010 erschienen unter dem Titel Jeder Tag ein Gedenktag Jochanan Trilse-Finkelsteins jüdische Lebens- und Gesellschaftsbilder, angeregt durch das Gedenken an den Todestag Walter Benjamins. Das Vorhaben wuchs weit über die ursprüngliche Absicht hinaus und wurde zu einer einmaligen Dokumentation.

Abgerundet wurde die Arbeit durch textkritische Beiträge über Gertrud Kolmar in der Anthologie Dichten wider die Unzeit.

In der von ihm mitbegründeten Reihe Internationale Dramatik gab unser Preisträger sieben Bände heraus, darunter die Stücke gegen den Faschismus.

Seine philosophischen, theaterwissenschaftlichen und biographischen Beiträge und Essays aufzulisten übersteigt bei weitem meine Kenntnis und den Rahmen einer Auszeichnungsveranstaltung.

Keinesfalls aussparen möchte ich jedoch die im Weltbühnen-Nachfolger Ossietzky von Jochanan Trilse-Finkelstein fortlaufend publizierten Stück- und Bühnenkritiken, die unser Autor unter dem gesundheitsfördernden Titel Berliner Theaterspaziergänge präsentiert.

Da die Jahre jedoch auch an einem leidenschaftlichen, altgedienten Segelsportler nicht spurlos vorbeijoggen, ist er dabei zunehmend auf die Zuhilfenahme von Taxis angewiesen.

Das vielleicht vertieft noch seine kritische Haltung, wenn er die Maßstäbe großer Theatermänner und Regisseure wie Piscator, Reinhardt und Langhoff oder seine eigenen Erwartungen zugrunde legt und aktuell feststellt, dass beispielsweise von den Intentionen des weisen Nathan in der gegenwärtigen Machart wenig verwertbare Impulse ausgehen. Das ist ein böses Manko, und das ausgerechnet im Geschehen unserer Tage.

Aber auf jeden Fall ist es ein Segen für die hauptstädtische Theaterlandschaft, dass es noch Kritiker à la Trilse-Finkelstein gibt.

Meine Damen und Herren, werte Gäste, Mitglieder und Tucholskyfreunde,

ich halte es für eine glückliche Fügung, dass das Erscheinen der Peter-Hacks-Biographie den diesjährigen Zugang wichtiger Neuerscheinungen auf der Frankfurter Buchmesse maßgeblich mitbestimmt.

Wer Hacks persönlich so gut kannte und ihm freundschaftlich so verbunden war wie Trilse-Finkelstein, ist nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, dessen Zukunftsvisionen aufzunehmen und sich mit ihnen zu infizieren und zu identifizieren, denn – ich zitiere Hacks –:

Der Künstler, der es wagt, viel und wichtige Wirklichkeit zu bewältigen, glaubt an die Humanisierbarkeit der Gesellschaft […] Ich hoff‘, die Menschheit schafft es!

Nun gehört es sich, verehrte Anwesende, eine abschließende Verbindung, eine möglichst überzeugende Gleichstimmigkeit zwischen Tucholsky und Trilse-Finkelstein, zwischen Kurt und Jochanan herzustellen.

Das versuch ich jetzt ganz profan.

Beide mochten bzw. lieben trockene Rotweine. Tucholskys Bedauern »Schade, dass man einen Rotwein nicht streicheln kann!«, hätte auch – ich kann das bezeugen – dem Kennermunde unseres Preisträgers entschlüpfen können.

Ich ziehe das Anstoßen gedanklich jetzt schon mal vor, gratuliere dem Preisträger sehr herzlich und danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind.

Dr. Wolfgang Helfritsch

Dr. Wolfgang Helfritsch war Lehrer, Schuldirektor und pädagogischer Wissenschaftler und arbeitete parallel dazu als Kabarettist, Texter und Gestalter literarisch-musikalischer Programme. Er textete für das Berliner Lehrerensemble, die Potsdamer Spottschule und das Stadtkabarett von Eisenhüttenstadt. Er leitete 18 Jahre lang das Zimmertheater Berlin-Karlshorst. Er ist regelmäßiger Autor des Weltbühnen-Nachfolgers ossietzky. Wolfgang Helfritsch gehörte von 1996-2009 dem Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft an, vier Jahre davon als 1. Vorsitzender. Er ist Sprecher der Jury für den Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik. Er erhielt 2012 die Bürgermedaille von Berlin-Lichtenberg und ist seit 2013 Ehrenmitglied der KTG.

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik 2015 an Jochanan Trilse-Finkelstein

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft vergibt den in diesem Jahr erstmals mit 5.000€ dotierten Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik an den Philosophen, Literatur- und Theaterwissenschaftler, Schriftsteller und Publizisten Prof. Dr. Jochanan Trilse-Finkelstein.
Damit erfahren sowohl sein Lebenswerk als auch sein unvergleichliches theaterwissenschaftliches und theaterhistorisches Wirken, seine biographischen Editionen, seine umfangreiche Herausgebertätigkeit und seine unermüdliche Präsenz als Theaterkritiker eine längst verdiente Würdigung.
Der Lebensweg des Preisträgers ist von seiner Zugehörigkeit zur jüdischen Lebenswelt ebenso geprägt wie von der Erfahrung unermesslichen persönlichen Leids und einer unerschütterlichen Haltung, die von Friedenshoffnung und
Toleranz zeugt.
Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören unter anderem eine umfassende Heine-Biographie, das Lexikon Theater International und zahlreiche Beiträge etwa zur Judaik, Theaterkritiken seit über 50 Jahren sowie eine Studie zu Heine und Tucholsky (»Heinrich Heine und Kurt Tucholsky in Paris«, 2010). Zur Buchmesse 2015 erscheint aus seiner Feder eine umfangreiche Biographie zu Peter Hacks im Leipziger Araki-Verlag unter dem Titel »Ich hoff, die Menschheit schafft es. Peter Hacks – Leben und Werk«.
Die Preisvergabe findet als Höhepunkt und Abschluss der Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft am 18.10. 2015 im »Theater im Palais« Berlin statt.
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Allgemein

An die Botschaft der Republik Frankreich in Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren,
im Auftrage der Mitglieder und des Vorstandes der Kurt Tucholsky-Gesellschaft e.V. und im eigenen Namen versichere ich Ihnen, den französischen Satirikern und Publizisten, unseren französischen Vereinsmitgliedern und dem ganzen französischen Volk unseren Abscheu gegenüber den mörderischen Anschlägen auf französische Karikaturisten.
Wir solidarisieren uns im Sinne unseres Namensgebers mit den mutigen Darstellern kritikwürdiger gesellschaftlicher Erscheinungen in Wort und Bild und stehen an ihrer Seite.
Mit den Angehörigen der Opfer teilen wir die tiefe Trauer und den heißen Grimm.
Unsere Veranstaltungen zum heutigen 125. Geburtstag Kurt Tucholskys werden von den tragischen Ereignissen in der französischen Hauptstadt überschattet. Wir werden dazu Stellung nehmen.
Die Geschehnisse erinnern uns jedoch in besonderem Maße daran, dass sich Tucholsky Frankreich und Paris besonders verbunden fühlte, in den 20er Jahren engagiert als Korrespondent in Ihrer Hauptstadt tätig war und sich im Park Monceau vom Streß seiner journalistischen Tätigkeit erholte.
Kurt Tucholsky war es auch, der sich einst wie folgt zur Satire äusserte:

Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.

Wir wünschen Ihnen für das Jahr 2015 trotz allem weiterhin Gesundheit, Mut und Erfolg.
Im Auftrage und im Namen der Mitglieder und des Vorstandes der Kurt Tucholsky-Gesellschaft e.V.
Dr. Wolfgang Helfritsch
Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft a.D. und Ehrenmitglied
Das Schreiben als pdf herunterladen.

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Allgemein Pressemitteilung

»Die Zeit schreit nach Satire« – Zum Mordanschlag auf die Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« in Paris

Die Würde muss es sich gefallen lassen, daß sie manchmal am Bart gezupft wird.

schrieb Kurt Tucholsky, dessen 125. Geburtstag wir dieser Tage begehen, im Jahr 1924. Die Festveranstaltungen zu diesem Anlass sind überschattet von der Anschlagserie in Frankreich, die mit dem feigen und hinterhältigen Mordanschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris begann.
Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen, Freunden und Trauernden.
Dieser Anschlag berührt uns in besonderer Weise. Kurt Tucholsky war und ist einer der wichtigsten und bedeutendsten Satiriker deutscher Sprache. Sein Diktum Was darf Satire? Alles! wurde nicht zufällig in den letzten Tagen besonders häufig zitiert.
Tucholsky lebte viele Jahre als Korrespondent in Paris, hier ruhte er von seinem Vaterlande aus. Seine Pariser Zeit gehört zu seinen wichtigsten Schaffensperioden, zu Frankreich hatte er stets eine besondere Verbindung. Und schließlich hat auch die Kurt Tucholsky-Gesellschaft selbst Mitglieder in Frankreich und tagte zum 20jährigen Jubiläum 2008 in Paris.
Wir können und wollen also zu diesem infamen Anschlag, der nicht allein einer Zeitschrift, sondern der Idee der Meinungsfreiheit selbst gilt, nicht schweigen.
Die Möglichkeit, ungehindert und offen gesellschaftliche Zustände karikieren zu können, ist ein wesentliches Merkmal einer offenen, einer freien Gesellschaft. Der Spielraum, den Satire dabei hat, kann geradezu als Indikator dafür gelten, wie frei und offen eine Gesellschaft ist.
Eine freie und offene Gesellschaft aber ist naturgemäß verletzlich. Sie ist es jedoch weit weniger durch fanatisierte Kämpfer für eine Ideologie jeglicher Couleur, sie ist es weit mehr durch Angst.
Es ist die Angst, die montags Menschen auf die Straßen treibt, um gegen ein Phantom zu demonstrieren. Es ist die Angst, die die Politiker jetzt zusammeneilen lässt, um Maßnahmen zu ergreifen. Es ist die Angst, die dazu führt, dass im Namen der Freiheit die Freiheit erwürgt wird.
Lassen wir uns nicht von der Angst überwältigen, begegnen wir dem Terror so, wie er es verdient hat: Lachen wir ihm ins Gesicht. Genau so, wie es Satiriker und Karikaturisten aus der ganzen Welt in den letzten Tagen eindrucksvoll gezeigt haben. Nur, wenn wir es zulassen, dass wir aus Angst zu einer unfreien, verschlossenen Gesellschaft werden, nur dann wird der Terror gewinnen. Ursache für diesen Terror sind nicht Karikaturen und ist nicht der Glaube an Allah (was sich schon allein daran zeigt, dass es ein Polizist muslimischen Glaubens war, der sich den Attentätern entgegenstellte und dafür mit dem Leben bezahlte).
Es hört sich gewiss ein wenig schwülstig an, aber ich bevorzuge stehend zu sterben, anstatt auf Knien zu leben. (Stéphane Charbonnier)
Wenn wir als Gesellschaft unsere Solidarität mit den Opfern ernst meinen, dann sollten wir nicht nur Charbs Mut bewundern und unsere Profilbilder in sämtlichen sozialen Medien ändern, dann müssen wir jetzt, hier und heute aufstehen und uns den Feinden einer offenen und freien Gesell-schaft entgegenstellen, mögen sie kommen, woher sie wollen.
Und dafür gibt es nur eine wirksame Waffe: Gelassenheit. Wer jetzt mit Panik reagiert, wer jetzt Bürgerfreiheiten einschränkt, wer jetzt meint, Flüchtlingen ihre Menschenrechte abzuerkennen, würde unsere Probleme lösen, der spielt das Spiel des Terrors mit. Der schaufelt das Grab der Offenheit, der Freiheit, der Demokratie. Lassen wir das nicht zu.

Der Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft.

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik 2013 an Mario Kaiser

Mario Kaiser (Foto: Holger Keifel)
Mario Kaiser (Foto: Holger Keifel)

(in hoher Auflösung)

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft vergibt den mit 3000 € dotierten Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik an den Journalisten Mario Kaiser.

Die Begründung der Jury:

Mario Kaisers für die Preisentscheidung vorgelegten Texte »Herrn Inces Lohn« und »Der lange Abschied« befassen sich realistisch, tiefgreifend und anruehrend mit zwei Leben abseits buergerlicher Planmässigkeit und in Verstrickung administrativer Praktiken. Dies löst nach Auffassung der Jury den Anspruch ein, die gesellschaftliche und individuelle Wirklichkeit hinter einer vordergruendig aufgebauten und staatlich vertretenen Fassade zu analysieren.
Dem Autor gelingt es, sein Anliegen durch unaufdringliches Engagement ueberzeugend darzustellen.
Die sprachliche Prägnanz der Texte weist Mario Kaiser als literarischen Publizisten aus, der bei aller Eloqenz des Stils auf erheischbare Effekte verzichtet. Er überlässt dem Leser eigenen Bewertungsspielraum und lässt persönliche Erfahrungen vermuten.

Über den Preisträger:
Mario Kaiser wurde 1970 in Rheydt geboren. Nach Zivildienst und Studium der Regionalwissenschaften Nordamerika, Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre in Bonn absolvierte er an der New York University die Graduate School of Journalism. Er trat als Co-Autor zahlreicher Bücher hervor und arbeitete als Spiegel– und Zeit– Reporter und Redakteur. Seine Beiträge erschienen in Süddeutsche Zeitung Magazin, brand eins und Geo.
Weitere Informationen zum Preisträger finden sich auf der Homepage von Mario Kaiser.

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Dankesrede von Deniz Yücel

Meine Damen und Herren,
liebe Mitglieder der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
verehrte Jury,
wie Sie sich denken können, ist die Verleihung des Kurt-Tu­cholsky-Preises nur ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer Schritt für mich. Ein großer Schritt raus der Schmuddelecke des Internets und rein in die Hall of Fame der deutschen Publizistik, wo mein Name nun dank Ihnen neben so verdienten Kollegen wie He­ribert Prantl, Wolfgang Büscher oder Erich Kuby stehen darf.
Ich habe mich informiert – ich kriege ja nicht alle Tage einen Preis verliehen, um genau zu sein: Der Kurt-Tucholsky-Preis ist der erste Preis, dessen man mich für würdig befunden hat. Ich habe mich also informiert – viele Journalistenkollegen würden sagen: ich habe recherchiert; ich halte es lieber mit der wahrheitsgemäßen Formulie­rung: ich habe im Internet nachgeschaut – dieser großartigen Erfin­dung, die Ratschläge für jede erdenkliche Lebenslage bietet: Was sage ich, wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht? Was sage ich, wenn meine Frau davongelaufen ist? Oder eben: Was sage ich, wenn ich einen Preis bekomme?
Das Internet also rät: Dankbarkeit und Demut zeigen, gerne auch Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, dass es mich erwischt hat und nicht jemand anderen, der dieser Auszeichnung würdiger ge­wesen wäre. Nun, undankbar will ich nicht sein. Aber für Bescheiden­heit sehe ich auch keinen Grund. Im Gegenteil, ich finde, die Jury hat eine gute Wahl getroffen.

***

Die Jury hat deshalb eine gute Wahl getroffen, weil die Diskus­sion in der Leserschaft über meine WM-Kolumne »Vuvuzela« – und ebenso über die Folgereihe »Trikottausch«, die ich zur der Frauen-WM im Jahr 2011 geschrieben habe –, unmittelbar an Tucholsky an­knüpfte. »Satire darf alles«, meinten die einen; »Satire darf alles, aber…« meinten die anderen.
Wir können also festhalten: Tucholskys berühmtes Diktum ist – zumindest vordergründig – weithin akzeptiert. Natürlich gibt es Aus­nahmen, viele Muslime in aller Welt zum Beispiel, die sich in den vergangenen Jahren nur allzu oft als dauerbeleidigte Leberwürste prä­sentiert haben, damit aber nur demonstrierten, wie wenig sie auf Höhe der Zeit sind. Oder Renate Künast, die trotz des Höhenflugs ihrer Partei die Wahl in Berlin verloren hat, weil sie, im Gegensatz zu Klaus Wowereit, im Ruf stand, eine allzu humorfreie Gesellin zu sein. Wer aber heute als humorfrei gilt, rangiert damit in der öffentlichen Meinung vor Kinderschändern und AKW-Betreibern, aber noch nach den Rauchern und Pestizidessern.
Ob die katholische Kirche mit ihren Klagen gegen die Zeitschrift Titanic oder Kai Diekmann und Jürgen Klinsmann mit ihren Klagean­strengungen gegen meine Zeitung, die taz –die zumindest für dieses Land gültige Erfahrung der vergangenen Jahre lautet: Wer klagt, ver­liert. Oft vor Gericht, immer in der Gunst der Öffentlichkeit. Mehr noch: Wer gegen einen Spott vor Gericht zieht, setzt sich erst recht dem Spott aus.
Ironie, einst ein Mittel der Subversion und der Kritik an herr­schenden Verhältnissen, ist also zum Mittel dieser Verhältnisse ge­worden. Ob in der Politik oder in der Werbung, ohne Witz geht nichts mehr. Damit aber erfüllt die Ironisierung der Gesellschaft eine stabili­sierende Funktion. Wenn alles bis zur Ironie selbst ironisch gemeint ist, ist niemand mehr für irgendetwas verantwortlich. »Repressive Toleranz« hätte Herbert Marcuse gesagt.
Das heißt nicht, dass Satire heute nicht mehr subversiv wirken könne. Auch diese Gesellschaft besteht auf ihre Konventionen und Wahrheiten, die bei Lichte betrachtet ähnlich abstrus sind wie jene Wahrheiten, die vor 20, 30 Jahren beispielsweise von dort aus ver­kündet wurden, wo das erste Haus der Demokratie stand, nämlich im Büro der SED-Kreisleitung in der Friedrichstraße. Zwar verträgt diese Gesellschaft im Gegensatz zum SED-Staat Kritik. Aber ganz so auf­geklärt und ressentimentfrei, wie sie sich selbst wähnt, ist sie nicht. Man muss vielleicht nur genauer hingucken, um die ehernen Wahr­heiten zu erkennen und zu kritisieren. Und man muss vielleicht ebenso rasant wie geschmeidig mal zum Florett greifen und mal zur Streitaxt.
Ein Ausdruck der allgemeinen Ironisierung ist, dass die meisten Zeitungen und Zeitschriften, aber auch Nachrichtensendungen im Fernsehen, oft genug an prominenter Stelle, mit Rubriken zur »Auflo­ckerung« daherkommen. Routiniert vorgetragene, aber harmlose Nachrichten aus dem Ressort Vermischtes oder kunstvoll formuliertes Feuilleton über der Welten Lauf, die den Leser (oder den Zuschauer) mit den Verhältnissen aussöhnen sollen, indem sie ihnen das Gefühl vermitteln, dass alles nicht so schlimm ist. Das Problem: Es ist aber schlimm.
Satire ist etwas anderes. Sie dient nicht der Unterhaltung, sondern der Kritik. Ihr Ziel ist nicht das Amüsement, sondern die Aufklärung. Einzig zu diesem Behufe bedient sie sich des Humors, weil der här­teste Schlag oft jener ist, der die Verhältnisse der Lächerlichkeit preisgibt. Lacht kaputt, was euch kaputt macht.
Dafür muss die Satire über die Grenze des Erträglichen hinausge­hen. Die bornierteste Affirmation, die gröbste Vergewaltigung der Sprache, das Bedienen niedrigster Dienste, die krasseste Übertrei­bung, der Bruch mit allen Konventionen, auch den selbst gesetzten, derb, böse, unkorrekt – es darf, es muss sogar wehtun. Und der sub­versiven Wirkung der Satire kann es nur nutzen, wenn sie nicht in die »Witzecke« verbannt ist; wenn also eine Restunsicherheit darüber bleibt, wie das alles nun gemeint ist.
Der Satiriker ist ein Kritiker, und als solcher muss er nicht, wie zuweilen gefordert wird, konstruktiv sein. Im Gegenteil, seine Auf­gabe ist die Subversion. Dafür darf er hämisch sein und er darf urtei­len, ohne Alternativen zu präsentieren. Nur eines muss der Satiriker bei alledem bleiben: glaubwürdig. Wenn, wie Tucholsky schreibt, der Satiriker ein gekränkter Idealist ist, der die Welt gut haben will und gegen das Schlechte anrennt, muss er seine Mitschuld daran eingeste­hen, dass die Dinge so schlecht sind wie sie sind.
Dieses Eingeständnis erfolgt natürlich nicht im Stil einer öffentli­chen Bußübung, sondern mit den Mitteln der Satire selbst. Der Satiri­ker nimmt also seine Branche, seinen Berufsstand, sein eigenes Blatt, sein eigenes politisches Milieu und natürlich sich selbst nicht von der Kritik aus. Schließlich neigen diejenigen, die davon überzeugt sind, für das Gute und Wahre (viel seltener auch für das Schöne) zu kämp­fen, in viel zu vielen Fällen zu Selbstgerechtigkeit und Denkfaulheit. Die Rede ist natürlich von jenem politischen Lager, dem ich mich fast seit meiner Kindheit zugehörig fühle: der Linken. »Wer links ist, hat mit den Linken ein Problem«, hat Stefan Ripplinger einmal nicht bloß im Hinblick auf die gleichnamige Partei geschrieben. Die Satire ist links, aber sie macht sich nicht gemein. Der Satiriker ist ein Moralist im Gewand eines Nihilisten. Er ist glaubwürdig, weil er sich selbst widerspricht. Er weiß es nicht besser, aber er weiß, was falsch ist.
Dafür steht der Satire heute ein neues Medium zur Verfügung: das Internet. Ich weiß nicht, was Tucholsky zum Internet gesagt hätte, aber ich glaube zu wissen, was Flaubert gesagt hätte. Auf die Frage, was er von der Eisenbahn halte, soll Flaubert nämlich geantwortet ha­ben: »Ich bin gegen die Einführung der Eisenbahn, weil sie nur noch Menschen erlaubt, zusammenkommen, um zusammen zu dumm zu sein.«
Nun könnte man diesen kulturkonservativen Skeptizismus mit dem Hinweis ergänzen, dass die Menschen durch Eisenbahn und In­ternet ja ebenso gut zusammenkommen können, um zusammen klug zu sein. So oder so aber ist das Internet ein Medium, in dem der Sati­riker Menschen findet, die ihm freiwillig und entgeltlich einen Teil seiner Arbeit abnehmen. Und mit etwas Glück und Können kann der Satiriker seinen Gegenstand dank des Internets nicht nur einen abs­trakten Kritik unterziehen, sondern auch, gewissermaßen am lebenden Objekt, den Beweis führen, dass es um die Dinge wirklich so bestellt ist, wie er es annimmt: nicht gut.
Hieran knüpft sich eine andere Frage an: Ist es eigentlich erfreu­lich oder erschreckend, wenn sich die Realität für so schlecht erweist, wie man als Kritiker angenommen hat? Darauf weiß ich keine Ant­wort.

***

Ich hatte eingangs gesagt, dass ich nicht undankbar sein möchte. Nun, da ich zum Ende komme, ist es höchste Zeit, diese Ankündigung wahrzumachen und einigen Menschen meinen ausdrücklichen Dank auszusprechen. Danken möchte ich zunächst meinen Eltern Ziya und Esma Yücel, die vieles gemacht haben; unter anderem mich zur Poli­tik, zur Literatur und zum Humor zu erziehen. Sobald ich hier von der Bühne trete, muss ich meinen Vater anrufen. Noch gestern sagte er zu mir: »Du hast mit deinen Kolumnen alle veräppelt; nicht, dass diese Leute dich jetzt veräppeln und nur so tun, als ob sie dir den Preis ge­ben wollten.« Ich bin mir nicht sicher, ob er das ernst gemeint hat. Aber: Papa, jetzt stehe ich schon auf der Bühne, dahinter kommen sie nicht mehr zurück. Hier ist der Scheck!
Ich danke ferner den Kolleginnen und Kollegen von der taz; je­nen, die mich in meinem Tun ermutigt haben und sich bereitwillig als »taz-Experten« zitieren ließen, und jenen, die mir zu verstehen gaben, dass sie mein Tun für weniger gut hielten.
Namentlich erwähnen möchte den geschätzten Dirk Knipphals, den Literaturredakteur der taz, der so freundlich war, mich für den Kurt-Tucholsky-Preis vorzuschlagen. Bereits der Vorschlag war eine Auszeichnung; wenn Sie das Feuilleton des taz kennen, werden Sie vielleicht wissen, dass der Publikumserfolg eines Films, einer Platte oder eines Romans noch lange kein Grund ist, in diesen heiligen Spalten besprochen zu werden.
Namentlich erwähnen möchte ich ferner meinem Kollegen Jan Feddersen, der viele freundlichen Worte für mich gefunden hat und dessen vornehmlichste Aufgabe als verantwortlicher Redakteur des WM-Teams darin bestand, alle externe und interne Kritik an meiner Kolumne ebenso freundlich wie bestimmt abzuwimmeln.
Erwähnen möchte ich ferner meinem Kollegen Matthias Urbach, den Verantwortlichen von taz.de, dazu bereit war, alle unumstößlichen Prinzipien von taz.de zugunsten dieses sozialen Experiments umzu­stoßen.
Erwähnen möchte ich den Kollegen Carl Ziegner, der die Texte auf taz.de produziert hat, oft genug nach Abpfiff der Spiele, also zur nachtschlafenden Zeit. Carl war stets mein erster Leser, und wenn er mir am Telefon lachte oder per Mail seine Lieblingsstelle vortrug, wusste ich: So schlecht kann’s nicht sein.
Erwähnen möchte ich schließlich Frauke Böger, die nicht nur meine liebste Kollegin ist, sondern auch sonst meine Herzallerliebste und die dieselbe Aufgabe bei meiner Kolumne »Trikottausch« über­nommen hat. Sie ist auch diejenige, die eine ganze Reihe von Fragen, die taz-Lesern immer wieder gestellt haben, mit ein und demselben Satz beantworten kann: Liest die Texte von Yücel eigentlich niemand gegen? Doch, ich! Kann überhaupt jemand in der taz-Redaktion den Yücel leiden? Doch, ich! Den Yücel will bestimmt keine haben! Doch, ich! Dafür liebste Frauke, Danke!
Danken möchte natürlich meinen Leserinnen und Lesern, die – aus freien Stücken zum Gesamtwerk Vuvuzela beigetragen haben. »Die Satire ist immer erst nach dem letzten Kommentar zu Ende«, hat ein kluger Leser mal eine Vuvuzela-Folge kommentiert. Besser kann ich es nicht sagen.
Ganz besonders danke ich natürlich der Kurt Tucholsky-Gesell­schaft und der Jury, dass sie mich des Kurt Tucholsky-Preises für würdig befunden hat. Als der eben erwähnte Kollege Dirk Knipphals mich fragte, was ich davon halten würde, wenn er mich für den Kurt-Tucholsky vorschlüge, war meine Antwort ungefähr: »Man muss vielleicht einen an der Waffel haben, um solches Zeug zu schreiben. Erst recht muss man einen an der Waffel haben, um dieses Zeug derart prominent und ohne den Hinweis ›Vorsicht: Satire‹ zu veröffentli­chen. Ganz gehörig einen an der Waffel muss man aber haben, um für dieses Zeug einen Preis zu spendieren.« Dafür, dass Sie einen an der Waffel haben, möchte Ihnen meinen Dank und meinen Respekt be­kunden.
Und last but not least danke ich Ihnen allen, dass Sie an diesem sonnigen Sonntagvormittag die Zeit gefunden haben, um mit mir zu feiern. Dafür meinen aufrichtigen, herzlichen Dank! Sağolun, varolun!

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Ein Lob dem Ätzenden – Laudatio auf Deniz Yücel

Laudatio auf Deniz Yücel, Träger des Kurt-Tucholsky-Preises 2011, gehalten am 22. Oktober 2011 im Berliner Haus der De­mokratie
Dieser Mann, das möchte ich Ihnen erzählen, ist so freundlich. Von ab­solut umgänglicher Art, er beherrscht die Umgangsformen, die man als angemessen, ja bürgerlich bezeichnet. Obwohl, und das trifft die­sen Menschen umso besser, in Wahrheit, neuen Forschungen zufolge, der zivilisatorische Habitus in Takt und Ton recht eigentlich dem proletarischen Teil aller Gemeinwesen zugerechnet werden muss: Wo es klamm ist und umständehalber materiell dauernd knarzt, ist es we­nigstens vonnöten, miteinander nicht raubauzig umzugehen; wo es ohnehin nach der Decke zu strecken gilt, muss man sich in puncto Manieren nicht auch noch auf die Nerven gehen.
Damit komme ich, sozusagen, ganz zwanglos auf Deniz Yücel zu sprechen, der mein Kollege ist, und zwar ein von mir überaus ge­schätzter, denn er bekommt von Ihnen dieses Jahr den Kurt-Tu­cholsky-Preis für seine Kolumne namens »Vuvuzela«, die voriges Jahr angelegentlich der Fußballweltmeisterschaft der Männer in Südafrika beinahe täglich in der taz, in der papiernen wie der elektronischen Ausgabe, erschien. Und das ging auch mich was an, denn das Sonder­projekt unserer Zeitung zu diesem weltgrößten Sportereignis wurde von mir geleitet – und Deniz Yücel war ein Teil unseres Teams.
Okay, Kollege Yücel kann auch zur Last fallen. Ich fand übri­gens: auch mir. Mehr aber anderen Kollegen, denn die Allüren einer, lassen Sie es mich so sagen, Diva mit menschlichem Antlitz, sind die­sem Manne ja nicht fremd. Mir fallen zu dieser seiner Aura so viele Anekdoten ein – etwa auch die, dass er sehr mächtigen Wert darauf legt, nicht als Spross einer migrantischen Familie zu gelten, nein, er lässt sich nicht so leicht türkisieren, sondern als Kind eines Kommu­nisten, den es ins Hessische verschlagen hat. Hören Sie Deniz Yücel mal anderthalb Minuten zu – man hört aus ihm Äppelwoi und grüne Soße heraus.
Aber, Spaß und Ernst beiseite: Diese Kolumne namens »Vuvu­zela« war in meinen Augen – und ist es noch! – ein Juwel zeitgenössi­scher deutscher Kolumnistik. Von Satire oder Comedy möchte ich in diesem Zusammenhang lieber schweigen: Denn das Denken und Schreiben meines Kollegen lebt, anders als die Autoren von Zeit­schriften wie »Eulenspiegel« oder vor allem »Titanic« nicht vom Lus­tigmachen über ander Leute, von Bildungsdünkel und lippenkräuseln­der Mokanz über die Zumutungen und Anmaßungen anderer Men­schen, gern solcher, die sich nicht mit gleichen, sprachlichen Mitteln wehren können. Und Deniz Yücel passte mit seinen sprachlichen Vermögen umso schärfer zu den anderen – als einer, der es besser und, jawoll, ätzender kann.
Lebt beispielsweise der Humor der taz-Satireseite »Wahrheit« überwiegend von dem Muster: »Helmut Kohl hat Käsefüße« … wor­aufhin das Publikum, auch unser alternatives gesinntes, lacht, so muss dem Kollegen Yücel das begnadete Verdienst zuerkannt werden, dass er nur und exklusiv und ausschließlich Großmäuler, Lautsprecher, Se­xisten, Hasenpfötchen und Feiglinge zu geißeln weiß. Humor auf Kosten Schwacher? Nicht mit ihm. Die »Vuvuzela«, wie auch seine sehr ähnlich gestrickte Kolumne zur Fußballweltmeisterschaft der Frauen, die er »Trikottausch« nannte, lebten vom Spott über das, was zu grell war, zu übertrieben, zu national aufgeheizt und zu unsauber. Sein Vorbild, falls man das so sagen darf, könnte der »Bild-Zeitungs­kolumnist« F.J. Wagner sein – in Wahrheit ist dieser nur ein Kopist dessen, was Yücel schriftlich zu umreißen vermag. Anders als mein Kollege scheut Wagner nicht vor Mitteln der Hetze, der missbräuchli­chen Art und des Schmunzelns auf Kosten Schwächerer zurück. Dass er das GroßeGanze im Nationalen rechtsgedreht denkt, ist ohnehin die Sache: Aber das soll nicht kritisch gemeint sein – konservativ zu den­ken ist ja nicht strafbar.
Yücel jedenfalls wirkt mit seinen Texten subversiv, er provoziert mit ihnen heftig böse Reaktionen, er missachtet die Gebote jener Menschen, die man die politisch Korrekten nennen könnte – er bringt sie schmallippig-giftelnd zum Schäumen – und das muss man gut fin­den, denn andere Leidenschaften haben diese Menschen nicht.
Yücel, wenigstens dies auch noch, ist aber passioniert an und für sich. Nichts im Leben ist ihm einerlei, deshalb möchte ich ihn auch nicht einen Freund stumm qualmender Gemütlichkeit nennen – weder solche linker Provenienz noch die von rechts. Ihr Preisträger ist ein würdiger, denn er schludert gegen die Gedankenlosigkeit von Alliier­ten und kameraderiehafte Aspirationen von Gutmeinenden. In Wahr­heit ist Deniz Yücel ist guter Mensch – er muss ein Freund sein von allen, die es nicht bequem haben möchten, schauen sie sich wach und lustvoll die Welt an.
Herzlichen Glückwunsch diesem Preisträger!
 JAN FEDDERSEN, Redakteur für besondere Aufgaben bei der taz, Pub­lizist und Buchautor in mannigfaltiger Weise, Liebhaber von Tucholsky-Filmen wie »Schloss Gripsholm« und ansonsten kein Freund allzu destruk­tiver Kritik an der Weimarer Republik. Er ist bekennender Verfassungspat­riot.

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik 2011 an Deniz Yücel

Deniz Yücel (Foto: taz.de)
Deniz Yücel (Foto: taz.de)

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft vergibt den mit 3000 € dotierten Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik an den Journalisten Deniz Yücel.
Die Begründung der Jury:

In seiner Kolumne »Vuvuzela«, die während der Fußballweltmeisterschaft 2010 erschien, hat Yücel sowohl den deutschen Spießer als auch die deutsche Spießerin auf angenehme Art entlarvt. Dabei übersteigert er bewusst das nationalistische Element, riskiert lustige Wortspiele sowie einen überdeutlichen Stimmungsumschwung nach der deutschen Niederlage (»Gurkentruppe….«) Das wäre vielleicht peinlich, wenn so etwas nicht den Lebensinhalt der Sportseiten im Boulevard bildete. Deniz Yücel hat sich Tucholskys Maxime zu eigen gemacht, der 1919 geschrieben hatte: »Die Satire muss übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird.«

Über den Preisträger:
Deniz Yücel wurde 1973 im südhessischen Flörsheim geboren. Er ist deutscher und türkischer Staatsbürger. Yücel studierte von 1998 bis 2004 Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er arbeitet seit 1999 als freier Autor für Jungle World, konkret, Tagesspiegel, Jüdische Allgemeine, qantara.de, taz, Süddeutsche Zeitung, amnesty journal, Der Standard, Blond, sowie den Bayerischen, Norddeutschen und Westdeutschen Rundfunk.
Von 2002 bis 2007 war er Redakteur bei der Wochenzeitung Jungle World. Seit 2007 arbeitet er als Redakteur im Schwerpunktressort der taz.
Links:
Laudatio von Jan Feddersen
Dankesrede von Deniz Yücel
Die Kolumne »Vuvuzela«

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Kurt Tucholsky Preis für Literarische Publizistik 2009 an Volker Weidermann

Volker Weidermann (Quelle: privat)
Volker Weidermann (Quelle: privat)

(in hoher Auflösung)

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft vergibt den mit 3000 € dotierten Kurt Tucholsky Preis an den Journalisten und Literaturkritiker Volker Weidermann.
Die Begründung der Jury:

Mit seinem Buch über die Opfer der Bücherverbrennung gelingt Weidermann das Beste, was biografisches Erzählen bewirken kann: In 131 lebens- und werkgeschichtlichen Miniaturen lässt er die verfemten Autoren wieder lebendig werden und entreißt sie damit jener Vergessenheit, die Sinn und Zweck des nationalsozialistischen Autodafés gewesen ist. Größtes Verdienst des Buches sind Weidermanns Reflexionen aus dem Leben jener »verbrannten Dichter«, bei denen die Scheiterhaufen beinahe ganze Arbeit geleistet hätten – weil niemand sich mehr an sie und ihre Texte erinnert. Indem er nicht nur den großen, noch immer gelesenen Schriftstellern wie Kurt Tucholsky, Erich Maria Remarque oder Erich Kästner nachspürt, sondern auch den »sonderbaren, nie gehörten Namen« wie Christa Anita Brück oder Maria Leitner, liefert er zugleich ein verblüffend buntes, vielschichtiges Porträt des literarischen Feldes vor der Nazi-Zeit.

Über den Preisträger:
Volker Weidermann wurde am 6. November 1969 in Darmstadt geboren. Er studierte in Heidelberg und Berlin Germanistik und Politikwissenschaft und schrieb lange Jahre für die taz, für die er von 1998 bis 2001 als Redakteur arbeitete. Im Sommer 2001 wechselte er zu der neu gegründeten Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, zunächst als Literaturredakteur. Seit 2003 leitet er, zusammen mit Claudius Seidl, das Feuilleton der FAS.
2006 erschien sein erstes Buch Lichtjahre – eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Im Frühjahr 2008 veröffentlichte er das Buch der verbrannten Bücher, in dem erstmals die Lebens- und Werkgeschichten aller Autoren beschrieben wurden, die auf der Liste der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Deutschland gestanden hatten. Weitere Informationen finden sich in seinem Eintrag in der Wikipedia
Veröffentlichungen:
Das Buch der verbrannten Bücher. Köln 2008
Lichtjahre: Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Köln 2006