Es gibt verschiedene Wegmarken, die als Beginn der »Moderne« gelten. Die Futura von Paul Renner ist eine solche. Sie war die Schrift der neuen Gestaltung und der Bauhausbewegung. Im München der späten Zwanzigerjahre wurde sie Zeitzeuge des Grabens, der sich zwischen dem weltoffen-liberalen Zeitgeist des Konstruktivismus und dem erstarkenden Faschismus auftat. Und weil eine Schrift sich nicht aussuchen kann, wer sie nutzt, diente sie beiden Seiten.
In Paris begann sie ihre internationale Karriere unter anderem Namen, im aufstrebenden New York wurde sie die Lieblingsschrift der Werbeagenturen und fand von dort in den Fünfziger- und Sechzigerjahren den Weg zurück in das Land ihrer Erfindung.
Was der Verlag Hermann Schmidt Mainz hier vorgelegt hat, ist nicht nur ein »Geburtstagsgeschenk«, es ist geradezu eine Liebeserklärung an eine der wirkmächtigsten Schriften des 20. Jahrhunderts.
Hochkarätig die Autor_innen des Buches: Isabel Naegele lehrt Typografie und Gestaltungsgrundlagen an der Hochschule Mainz, Petra Eisele Designgeschichte und Designtheorie ebendort und die Kunsthistorikerin Annette Ludwig ist Direktorin des Gutenberg-Museums. Die sorgfältige Gestaltung und die üppige Ausstattung machen dieses Buch zu einem ästhetischen Genuss.
Aber eben nicht nur das: Es gelingt den Autor_innen eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts anhand der Wirkungs- und Verwendungsgeschichte dieser Schrift und ihrer Varianten. Ganz großartig und gerade in der Frühzeit ihrer Geschichte eröffnet sich so ein ganz bemerkenswerter Blick auf Geist und Kultur der Weimarer Republik, aus denen heraus sie ja erschaffen wurde.
Die weite und stete Anwendung der »Futura« eröffnet einen ganz besonderen Blick auf das an Verwerfungen nicht arme vorige Jahrhundert – und zeigt darüber hinaus, dass die Geschichte der »Futura« keineswegs Vergangenheit ist, sondern in die Zukunft weist: Als typographische Inkarnation der Moderne, sozusagen.
Das hat schon mit Ironie des Zufalls zu tun, und mit Wehmut auch. Ausgerechnet während der Lektüre des 272 Seiten umfassenden, spannenden und sehr informativen Almanachs von Jürgen Klammer drückte mir ein Kabarettfreund aus der Nachbarschaft eine Meldung in die Hände, die er am 16.11. 2016 in der Märkischen Allgemeinen entdeckt hatte: Oderhähne geben ihre letzte Vorstellung. Nach 50 Jahren Berufsleben in »Ost« und »West« packen Lutz Stückrath und Wolfgang Flieder ihre Utensilien zusammen, spielen nochmal Jetzt ist Schluss! und verabschieden sich von ihren Zuschauern.
Damit findet der Untertitel Geschichten aus dem Kabarett-Theater »Distel« in den Zeiten von Walter Ulbricht, Erich Honecker und Helmut Kohl noch einen traurigen Nachschlag.
Stückrath und Flieder: Sind das nicht zwei der wenigen noch nicht verstorbenen oder noch nicht in den Schweigestand abgetauchten Distel-Urgesteine? Sie sind es. Ihrer und der Bühnenlaufbahn der anderen Ex-»Disteln« hatte ich in der Dokumentation gerade nachgespürt, die mir der Autor Jürgen Klammer bei unserer Begegnung während der Jahrestagung 2016 der Tucholsky-Gesellschaft höchstpersönlich in die Hände gedrückt hatte. Beim Barte des Proleten ist ein rundherum gelungenes Buch. Es ergänzt, illustriert und spezifiziert Oliver Dietrichs Freiräume – das Kabarett in der DDR zwischen MfS und SED[1] am Beispiel der Distel sachkundig und ausgewogen. Es erläutert, wie sich einst Schauspieler und Satiriker wie Heynowski, Brehm, Kusche, Stengel u.a. ein zeitweilig hoffnungsvolles Klima und die Forderung eines ND-Leitartikels, »die Waffe der Satire zu schärfen«, schlitzohrig zunutze machten und den Berliner OB Friedrich Ebert beim Wort nahmen.
Am 4. Oktober 1953, wenige Wochen nach dem 17. Juni, startete das erste politische Kabarett der DDR in einer festen Spielstätte am Bahnhof Friedrichstraße sein erstes Programm »Hurra, Humor ist eingeplant!«
Der damit eingeschlagene Weg war und ist von Höhen, Tiefen und Widersprüchen geprägt, berührt die Lebensleistung und das Schicksal von Autoren und Interpreten und spiegelt ein gutes Stück DDR-Kulturgeschichte wider. Die Schere zwischen dem Lob und der Schelte für Texter und Kabarettisten der Distel bewegte sich zwischen Nationalpreis und Misstrauen. Sie führte in einem Falle auch zu einer Verhaftung, wobei der Nationalpreis wie auch andere staatlich-offizielle Orden in der Gesamtbilanz wesentlich dichter gesät waren als die den Autor Manfred Bartz betreffende zeitweilige Freiheitsberaubung.
Es war Bartz` Schicksal, wie seine scharfzüngige Kollegin Inge Ristock treffend bemerkte, dass er »die Tinte nicht halten konnte«. Andere konnten das zeitweilig besser – aber eine Gratwanderung blieb das Kabarett allemal. Und das nicht nur in der DDR, wie die jüngste Vergangenheit beweist.
Was mir an der flüssigen Dokumentation besonders imponiert, sind nicht nur die zahlreichen Beispieltexte, sondern nicht weniger die Anmerkungen und Einblendungen zu den persönlichen Lebens- und Arbeitsverläufen von Kabarettisten, Regisseuren und Karikaturisten sowie die Wertschätzungen aller weiteren Programmbeteiligten. Nicht weniger berührten mich die Exkurse zu anderen Kabaretts wie zur Dresdener Herkuleskeule und zur Leipziger Pfeffermühle, zumal einige Kabarett-Ikonen wie Edgar Külow, Helga Hahnemann oder Gisela Oechelhäuser nicht nur den Weg, sondern mitunter eher den Umweg nach Berlin über andere Institutionen genommen hatten.
Dabei offenbart der Autor nicht nur umfangreiche, bis in Einzelheiten gehende Sachkenntnisse, sondern ein hohes Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen. Seine Darstellung des stachligen Distel-Weges vom häufig kritisierten, aber subventionierten Partei- und Staatskabarett und nach 1989 zur privatrechtlichen GmbH bei personeller Reduzierung um rund 50 {ba5249323a5ad00c05529abc4bd04f1981aa9314e15f6cc666f9b62072a92d67} beschränkt sich zwar auf das Metier, von dem hier die Rede ist; der kundige Zeitzeuge weiß aber, dass ihm die Satire vergehen kann, wenn er über den kabarettistischen Tellerrand hinausschaut.
Eine Fülle von sorgsam und sensibel ausgewählten Fotos und Dokumenten bereichert die Kabarett-Geschichte der Distel plastisch und zusätzlich.
Die besondere Brisanz des letzten DDR-Programms »Keine Mündigkeit vorschützen« im Spielball der inneren Zerrissenheit zwischen Gestaltern und offiziellen Besserwissern, zwischen Zensur und Selbstzensur unterscheidet sich deutlich von den besonderen Umständen der ersten Nachwende-Aufführung »Mit dem Kopf durch die Wende«. Entscheidend für die Zukunft und den weiteren Bestand der Distel als Institution waren beide.
Mit Genugtuung ist auch der Versuch des Autors abzunicken, das Zueinanderfinden von Kritikastern aus Ost und West am Beispiel darzustellen. Wir könnten das aus eigenem Erleben als Gastspieler im Kabarett Kanapee Hannover 1990, als DDR-Teilnehmer beim »Kabarett-Tag zur Deutschen Einheit« 1991 in Erlangen und durch die Mitwirkung in der Reihe »Tucholskys Erben« im Berliner Kabinett Anfang des 3. kabarettistischen Jahrtausends gut ergänzen.
Übrigens: Ein besseres Vorwort zur Dokumentation als das von dem inzwischen leider auch verstorbenen Volker Kühn hätte man dem Bart des Proleten kaum wünschen können.
Jürgen Klammer hat – das sei mit Freude hervorgehoben – einen wichtigen Beitrag zur deutschen Kabarett-Geschichte und für den Fundus des Kabarett-Archivs in Mainz und Bernburg geleistet.
Beim Barte des Propheten: Weder der Insider noch der Interessierte sollten die neugierige Lektüre dieses wunderbaren Buches versäumen.
Wolfgang Helfritsch
Jürgen Klammer: Beim Barte des Proleten. Geschichten aus dem Kabarett-Theater Distel in den Zeiten von Walter Ulbricht, Erich Honecker und Helmut Kohl. Selbstironieverlag Leipzig 2013. 272 Seiten, über 500 Abb., 100 Künstler- Porträts. Broschiert. Das Buch ist erhältlich beim Selbst-Ironie-Verlag. [1]Dieser Band wurde im Rundbrief April 2016 besprochen
»Schmerz über das Unrecht im Recht« heißt ein Beitrag von Bernhard Weck in dem gerade im Nomos Verlag erschienenen Sammelband STREITBARE JURISTiNNEN. Eine andere Tradition, Band 2, herausgegeben von der Redaktion der Vierteljahresschrift Kritische Justiz.
Zunächst drei Vorbemerkungen:
Die Vierteljahresschrift Kritische Justiz erschien erstmals im Jahre 1968. Ihr Selbstverständnis ist bis heute unverändert:
Sie will das Recht und seine praktische Anwendung vor seinem gesellschaftlichen Hintergrund analysieren. Sie durchbricht die übliche, von ihrem ökonomischen und politischen Kontext losgelöste Behandlung von Rechtsfragen und arbeitet die hinter den juristischen Denkfiguren stehenden konkreten sozialen Interessen heraus, um das Recht in praktischer Arbeit durchschaubar zu machen. Die Kritische Justiz knüpft an die in Deutschland 1933 gewaltsam abgebrochene Tradition kritischer Rechtswissenschaft an, wie vor allem durch die Namen Karl Korsch, Otto Kirchheimer, Franz Neumann und Ernst Fraenkel repräsentiert wird.
(So ein »Werbetext« aus dem Jahre 1988 in dem 1. Band Streitbare Juristen)
1988 gab die Redaktion der Kritischen Justiz den (ersten) Sammelband STREITBAREJURISTEN. Eine andere Tradition heraus. Versammelte dieser Band Porträts über
aufrechte, streitbare Juristen und Juristinnen aus dem 19. und 20. Jahrhundert (…) teils bekannte, teils unbekannte Repräsentanten einer in Deutschland meist unterdrückten, schließlich buchstäblich vernichteten Rechtskultur (Band 1, S. 11), liegt der Schwerpunkt des nun erschienen 2. Bandes stärker auf JuristInnen, die nach 1945 aktiv an gesellschafts-politischen Debatten teilgenommen haben, insbesondere an Kontroversen seit »1968«, die zu Kristallisationspunkten der Rechtspolitik wurden und zugleich einen Bezug zur Kritischen Justiz aufweisen. (…) An die Tradition von Herrschafts- und Rechtskritik schließt Band 2 an. Er ergänzt in historischer Perspektive einige Lücken und setzt neue Akzente mit Porträts von JuristInnen, die für ein demokratisches, inklusives und responsives Rechts- bzw. Verfassungsverständnis eingetreten sind, wie etwa Alfred Apfel, Otto Bauer, Eugen Ehrlich, Franz Kafka und Kurt Tucholsky. (Band 2, S. 11)
Mit Franz Kafka ist ein zweiter Schriftsteller in den 2. Band aufgenommen worden. Dazu für Mitglieder unserer Gesellschaft mindestens noch zwei weitere interessante Artikel.
Jan Gehlsen porträtiert unter dem Titel Verteidigung im Gerichtssaal und in der Weltbühne (S. 29ff), den jüdischen Rechtsanwalt und Strafverteidiger Alfred Apfel (1882-1941), der im französischen Exil einem Herzanfall erlag. Desweiteren ein langes Interview, welches meine beiden (jüngeren) Berliner Verteidiger- bzw. Rechtsanwaltskollegen Hannes Honnecker und Wolfgang Kaleck mit unserem (älterem) Mitglied Heinrich Hannover sowie den beiden bekannten Strafverteidigern Hans-Christian Ströbele aus Berlin und Ruppert von Plotniz aus Frankfurt unter dem Titel Die RAF-Prozesse – ein Gespräch in drei Teilen (S. 557ff.) geführt haben.
Der Autor des Porträts von Kurt Tucholsky, Dr. Bernhard Weck, ist als profunder Kenner von Tucholskys justizkritischen Publikationen weithin bekannt. Sein aus Anlass des 100. Geburtstages von Tucholsky am 9. Januar 1990 in der Universität Bayreuth gehaltener Vortrag Wider den »Dreimännerskat der Justitia.« Bemerkungen zur Justizkritik KurtTucholskys wurde im Tagungsband unserer Jahrestagung im Oktober 1997 veröffentlicht[1]. Dr. Weck, Jahrgang 1955, ist Dozent an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege inHof (Bayern).
Die Überschrift seines Beitrages Schmerz über das Unrecht im Recht hat Weck einem Artikel von Peter Panter in der Vossischen Zeitung vom 29. Juni 1930 entnommen: Kabarett zum Hakenkreuz[2].
In insgesamt elf Kapiteln zeichnet Weck Tucholskys Justizkritik nach. Nach Bemerkungen zur Juristischen Ausbildung, Tucholskys Literarische Justizpublizistik und Frühe Justizkritik beschreibt Weck im 8. Kapitel unter der Überschrift Umbruch der Haltung zur Justiz die ab Mitte 1919 einsetzende radikale Einstellungsänderung insbesondere zur Strafgerichtsbarkeit wie folgt:
Sein Zutrauen in deren Redlichkeit war unter dem Eindruck der Strafprozesse zur Ahndung politisch motivierter Schwerverbrechen in der Frühphase der Weimarer Republik tief erschüttert worden. Als Pressebeobachter zahlreicher Verhandlungen vor Militärtibunalen, zivilen Sondergerichten und der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit erlebte er, dass Taten, die Militärangehörige und politisch rechts stehende Täter an linken Radikalen wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, republikanischen Politikern wie Erzberger, Scheidemann und Rathenau, anderen politischen Gegnern und unpolitischen Opfern begangen hatten, vertuscht, heruntergespielt, vaterländisch glorifiziert und unangemessen milde bestraft wurden. (S. 524)
In weiteren Kapiteln wie Kritik an politischer Rechtsprechung angeblich unpolitischer Richter, Der Strafpozess wegen Tucholskys Satz „Soldaten sind Mörder endet Weck mit dem Kapitel Tucholskys Blicke in die düstere nahe und lichtere ferne Zukunft, dessen letzter Satz lautet: »Diesem Credo folgte auch sein Wirken als streitbarer Jurist.« (S. 536)
Weck nimmt damit Bezug auf Ignaz Wrobels Artikel in der Weltbühne vom 28. Oktober 1930 Blick in ferne Zukunft, in dem es unter anderem heißt:
Herschaften, es gibt ja auch einen Organismus, Mensch geheißen, und auf den kommt es an. Ob der glücklich ist, das ist die Frage: Daß der frei ist, das ist das Ziel. Gruppen sind etwas Sekundäres. Es kommt nicht darauf an, dass der Staat lebe – es kommt darauf an, daß der Mensch lebe.[3]
Vielleicht bietet sich der für die Jahrestagung 2018 ins Auge gefasste Ort Leipzig, dem Sitz des früheren Reichsgerichts und des heutigen Bundesverwaltungsgerichts sowie dem sogenannten Steuerstrafsenat des BGH, an, sich erneut mit Tucholskys Justizkritik zu beschäftigen – vielleicht mit Dr. Bernhard Weck als versierten Referenten.
Der Urenkel des Bankiers Hugo Simon stellt seinen Roman über dessen Schicksal im Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheinsberg vor.
Dr. Peter Böthig, Leiter des Kurt Tucholsky Literaturmuseums, ist stolz: In Rheinsberg fand am 13. Oktober 2016 die Premiere eines schwergewichtigen Buches statt: Auf 536 Seiten erfährt die Nachwelt vom Schicksal des zu seiner Zeit durchaus berühmten und nun vergessenenen Bankiers, Politikers und Kunstmäzen Hugo Simon.
Und der Ort hat seine Berechtigung: Auch wenn Tucholsky auf den Seiten des Romans nicht persönlich, sondern nur als Zitatengeber erscheint, es ist auch ein Teil seines Schicksals, das da verhandelt wird. Hugo Simon hatte Tucholsky 1923, mitten in der Inflation, als Privatsekretär in sein Bankhaus eingestellt (und mit Goldmark bezahlt).
Dass Tucholsky die Stelle sofort wieder aufgab, als die Währung wieder stabil wurde, hat er ihm auch nicht nachgetragen: Hugo Simon war ein bedeutender Kunstmäzen und dazu noch Pazifist und Demokrat. Nach der Novemberrevolution 1918 war er als Mitglied der USPD kurzzeitig Finanzminister im preußischen Rat der Volksbeauftragten, danach zog er sich aus dem offiziellen politischen Leben zurück. Erst im Exil in Paris war er wieder aktiv, unterstützte die Exil-Zeitung „Pariser Tageblatt“, bzw. „Pariser Tageszeitung“ finanziell und organisatorisch, war im „Bund Neues Deutschland“ zusammen mit Heinrich und Thomas Mann und war aktiv für das Flüchtlingskomitee Baron de Rothschilds, das Flüchtlinge aus Deutschland unterstützte.
Von den Faschisten vertrieben, ausgebürgert und auch im Ausland noch verfolgt, konnte er nur unter falschem Namen mit angenommener Identität und tschechischem Pass 1941 aus Frankreich entkommen. Zwar wollte er in die USA, wo auch Albert Einstein und Thomas Mann für ihn bürgten, aber er erreichte nur Brasilien.
Dort ließ Diktator Vargas bis zum Kriegseintritt Brasiliens die deutschen Faschisten wohlwollend gewähren, lieferte auch Olga Benario-Prestes an sie aus, obwohl sie mit dem Kind eines Brasilianers schwanger war. Hugo Simon sollte ausgewiesen werden, konnte sich dem aber dadurch entziehen, dass er sich im Landesinnern ansiedelte. Als Seidenraupenzüchter verdiente er seinen Lebensunterhalt bis zu seinem Tod 1950. Seine Bemühungen um Rückgabe seiner Kunstschätze und Güter, und vor allem seiner Identität, waren bis zu seinem Tod nicht erfolgreich. Das lag an der Bürokratie Brasiliens ebenso wie an der Nachkriegssituation in Deutschland.
Dieses bewegte Schicksal wird im Roman in einer Art Innenansicht erzählt. Die vielen Fakten und Namen (dankenswerterweise gibt es ein ausführliches Namensregister im Anhang) sind so psychologisch differenziert eingebettet in den Strom von Empfindungen, Gedanken und Geschehnissen, dass es sich anfühlt, als sei es das eigene Leben. Wie es in einem Menschen aussieht, der alles hinter sich lassen muss, um das nackte Leben zu retten, sogar seine Identität, seine Sprache, seine Familienbeziehungen verleugnen muss, das ist hier packend und in wundervoller Sprache geschrieben.
Rafael Cardoso, der Urenkel, ist Brasilianer, seine Sprache und seine Denkweise ist das Portugiesische, und das lässt die vortreffliche Übersetzung in einer Weise spüren, die die deutsche Sprache schöner, flüssiger, ornamentreicher erscheinen lässt. Dem Übersetzer Luis Ruby ist da etwas ganz besonderes gelungen!
Bei der Vorstellung des Buches las Frank Matthus, Regisseur und künstlerischer Leiter der Kammeroper Rheinsberg, zwei Kapitel mit klangschöner Stimme und ließ den Zauber dieses Romans auf die Hörer wirken. Der Buchstapel war im Nu leergekauft. „Das Vermächtnis der Seidenraupen“ kann ich nur wärmstens zum Lesen empfehlen.
Boris Barth ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz. Nach Büchern über die deutsche Außenpolitik vor 1914 aus dem Jahre 1995, einer Arbeit zur deutschen Niederlage 1918 und der Folgen in der Zeit bis 1933 aus 2003 und einem 2006 erschienen Titel über Völkermord im 20. Jahrhundert, stellt er nun einen Band vor, der mit dem Untertitel »Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918-1938« das Thema benennt.
Barth beschäftigt sich, unter breiter Nutzung der außerordentlich umfangreichen Literatur über die anstehenden Sachverhalte, mit den Folgen, die der Ausgang des Ersten Weltkrieges den europäischen Staaten bescherte. Trotz des erkennbar wissenschaftlichen Anspruchs (722 Fußnoten am Ende des Textes und einer sehr breiten Literaturliste) bleibt der Text gut les- und verstehbar für den historisch interessierten Laien.
An eine Einführung, die den Weg zu mehr Demokratisierung und Parlamentarisierung im 19. Jahrhundert, einen Aufriss der Probleme nach 1918 und die Bedeutung des Ersten Weltkrieges und seiner Folgezeit beschreibt, schließt Barth sechs Themenblöcke an, mit denen er den zu behandelnden Stoff systematisiert. Das sind »Die Pariser Weltordnung«, »Paramilitärische Gewalt und Kriege nach dem Krieg«, »Politische Ethnisierungen und Vertreibungen«, »Die unzulängliche ökonomische Rekonstruktion«, »Der Kampf um die Staatsform« und schließlich »Die Offensive gegen den Parlamentarismus«.
Bei dem ersten Problemfeld, der Friedensordnung, wird gerade uns Deutschen klar, dass es außer dem am 28. Juni 1919 unterschriebenen ›Versailler Vertrag‹, der das Deutsche Reich betraf, noch vier weitere Verträge, nämlich die mit Österreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei, verhandelt wurden. Alle fünf Verträge gemeinsam sollten eine neue Weltordnung einleiten.
Barth schaut bei seiner Betrachtung auf die jeweils verschiedenen Einzelstaaten und beschreibt die differenten Lösungs- (oder Nichtlösungs)-Ansätze; dabei immer an einem der oben genannten Problemfelder orientiert. Eine recht positive Bewertung erfährt dabei generell das schwedische Modell des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates.
Ein Problem dieser Art der Querschnittsbetrachtung liegt darin, dass bei Sicht auf ein Einzelland natürlich nur der jeweilige Fragezusammenhang diskutiert wird und so eine kontinuierliche nationale Sicht nicht möglich ist. Das liegt aber in der Natur dieser Darstellungsweise und weitet den Blick auf unsere verschiedenen Nachbarn.
Auch die Staaten, die nicht in das Kriegsgeschehen eingegriffen hatten, waren umfassend mit den Kriegsfolgen beschäftigt. Die Inflation, die Finanz- und Bankenkrise, eine weit reichende Agrarkrise (eher selten thematisiert), der wachsende Nationalismus und die Weltwirtschaftskrise berührten naturgemäß alle Staaten (mehr oder weniger).
In seinem knappen Fazit analysiert Barth, dass vor allem die Nachkriegskämpfe zwischen 1919 und 1921/22 die Lage instabil hielten. Ein radikalisierter Nationalismus, der die Ethnisierung ganzer Bevölkerungsgruppen betrieb,
löste wiederum massive Vertreibungen und Fluchtbewegungen aus. […] Flüchtlinge und Vertriebene trugen nicht nur zur Destabilisierung von parlamentarischen Systemen bei, sondern konservierten auch in erheblichem Maße revanchistisches und teilweise rassistisches Gedankengut. (S. 294 f.)
Diktaturen, die sich in der besprochenen Zeit herausgebildet haben, sind nicht wegen der besonderen Anziehungskraft der Persönlichkeiten der Diktatoren entstanden, sondern wegen der Schwäche der Demokratie.
Überall, wo derartige starke Parteien [wie z.B. in Schweden oder in GB] weiter existierten, überlebte auch die Demokratie. (S. 295)
Ein lesenswertes Buch, das gerade in dieser durch territoriale, ethnische und religiöse Konflikte und Kriege, große Migrationsbewegungen und internationalen Terrorismus gekennzeichnete Zeit nachdenkenswerte Informationen bietet. Viele Fehler im Umgang mit Anderen und uns Selbst sind im 20. Jahrhundert bereits schon einmal gemacht worden und wir sollten uns unbedingt daran erinnern und daraus lernen.
Die Frage: »Was will uns der Autor damit sagen?«, wird immer dann gestellt, wenn der Leser eines Artikels oder eines Buches mit dem Geschriebenen nicht so ganz klar kommt.
Vor mir liegt ein hübsch gestaltetes Buch von Helmut Duffner mit dem Titel »Himmler im Tunnel« und dem Untertitel »Geschichten aus dem Schwarzwald«. Das hört sich nach Vergangenheit an und nach Bekanntem. So ist vor Jahren schon der Gremmelsbacher Heimatforscher Karl Volk dem zeitweisen Aufenthalt des ehemaligen Reichsführer SS, Heinrich Himmler, im Zweiten Weltkrieg in Triberg nachgegangen.
Dass dann noch die Besuche des Berliner Satirikers Kurt Tucholsky in Nußbach* und des späteren Nobelpreisträgers Ernest Hemingway in Triberg während der Weimarer Republik sich in diesem Buch wiederfinden, gehört zum Thema. Dann aber wird es ganz persönlich, denn Helmut Duffner greift nun auf eigenes Erleben und das von Zeitzeugen während des Weltkriegs im Bereich Nußbach, Schwenningen und Löffingen zurück.
Und das leider recht ungeordnet, denn die Titelgeschichte befindet sich z.B. erst auf Seite 117. Dass Helmut Duffner in Schwenningen aufwuchs, sein Vater Karl der Bruder des in Nußbach lebenden und bei der Eisenbahn arbeitenden Eugen Duffner ist, erfährt man eher nebenbei nur bei ganz akribischem Lesen. Schade eigentlich, denn das Buch ist ein Sammelsurium von interessanten Fakten und liebevoll zusammen getragenen Recherchen.
Allerdings ärgert Hemingway-Freunde, dass der Amerikaner mit Frau und Freunden im Wehrle in Triberg wohnte. Biografen verorten ihn im ehemaligen Löwen, heute Sparkassengebäude am Marktplatz. Was will uns Helmut Duffner, der in Moers lebt und schon zwei weitere Bücher heraus gab, nun mit seinem Werk sagen?
Nun, dass er seiner alten Heimat verbunden ist und die unsäglichen Mühen und Taten des zweiten Weltkrieges vor dem Vergessen bewahren will. Somit gehört das Duffner-Buch besonders in die Hände der Heimat- und Geschichtsvereine der Region.
Renate Bökenkamp
Helmut Duffner: Himmler im Tunnel. Geschichten aus dem Schwarzwald. Moers 2016, 147 Seiten. Festeinband. 10,90 € ISBN 978-3-00-052793-7 *siehe Brief an Mary Gerold vom 19.8. 1919 (Tucholsky GA Bd. 17, [B 37], S. 68 ff.)
Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.
»Hänschen klein / ging allein / wollte gerne Gretchen sein …«1
Tucholskys Film-Travestie Seifenblasen von 1931 zum Nachlesen.
Auch, wenn heute in Film, Literatur und Sozialwissenschaft der Begriff Transgender häufig eine Rolle spielt, so ist das Phänomen, das er bezeichnet, nicht neu. Das Spiel mit den Geschlechtern, das Verkleiden, waren schon vor Tucholskys Zeiten bekannt – mal gesellschaftlich geächtet und mal akzeptiert. Travestien von Transvestiten waren als Bühnengag schon vor dem 1. Weltkrieg in Cabarets und Varietés beliebt.
Peter Panter, bekanntlich in platonischer Liebe zur Kabarettistin Gussy Holl entflammt, schilderte 1913 einen Auftritt der Künstlerin als »Damenimitatorin«:
Aber die Höhe ist doch: die Imitation eines Damenimitators. Die Frau fühlt, wie unendlich weit es immer noch ist von jedem Mann, und sei er der weibischste, bis zu ihr. Wie diese Kluft doch nicht zu überspringen ist. Und so macht sie sich über die vergeblichen Anstrengungen eines Gegners lustig, den sie ja allerdings nicht mehr als Mann anerkennt, aber der doch nur ein amüsantes Zwischending ist, beileibe keine Frau. […] Am Schluß ein herrlicher Zug: sie reißt sich anstatt der Perücke triumphierend den »Shinjong« aus und hält jubelnd die Trophäe ihrer Mannheit hoch.2
Daran muss er sich erinnert haben, als Peter Panter zu Beginn der Tonfilmzeit von Nero-Film den Auftrag für das Szenarium zu einer Filmkomödie erhielt. Ideengeber war der der Nero-Regisseur G.W. Pabst, der als Hauptvertreter der »Neuen Sachlichkeit« im Film kein besonderes Verhältnis zu heiteren Stoffen hatte (aber mit dem Henny-Porten-Schwank Skandal um Eva seine leichte Hand bewies). Peter Panter schrieb also ein ausführliches Filmexposé von Barbara, einem »Fräulein Nummer« am Varieté, das als Damenimitator zu einem umjubelten Star wird, in den sich viele Frauen verlieben – Frauen und ein Mann, der auf einem Wochenendausflug entdeckt, was es mit ihr auf sich hat. Dazu kommt noch eine etwas weit hergeholte Kriminalgeschichte.
Panter-Tucholsky zeigte in seinem Filmtext, daß er durchaus filmisch denken konnte. Bei ihm spielte die moderne Technik in Gestalt von Telefonen eine Hauptrolle. Er entwickelte für den damals noch ganz neuen Tonfilm bereits in seinem Szenarium dramaturgisch begründete Geräusch-Collagen. Dazu griff er auf seine Stärken zurück, den Mutterwitz und den Einsatz zahlreicher Chansons. Wenn die Igel in der Abendstunde, war beispielsweise für diesen Film vorgesehen.
Tucholsky-Kennern ist diese Filmerzählung, die tatsächlich in der KT-Gesamtausgabe3 erstmals veröffentlicht wurde, spätestens seit der Jahrestagung über Tuchos Verhältnis zu den Medien 2005 ein Begriff. Ganz so sensationell ist also die Entdeckung des Rowohlt-Verlags nicht, aber immerhin ist es die erste Einzelpublikation dieses Textes. Michael Töteberg hat dazu ein Vorwort geschrieben, in dem er Tucholskys schwieriges Verhältnis zum Medium Film noch einmal referiert. Als 23jähriger hatte er für die Schaubühne erste Filmkritiken verfasst, in denen er dem Stummfilm mehr als kritisch gegenüberstand. Allerdings anerkannte Tucholsky schon damals technische Finessen, die nur im Film möglich waren und revidierte sein abschätziges Urteil über das Genre nach dem Kriege mehr und mehr – was bei Töteberg etwas zu kurz kommt.
Bekanntlich wurden die Seifenblasen nicht realisiert, möglicherweise, weil der einzig interessierte Regisseur Pabst die Nero-Film 1932 verließ. In einem seiner Schnipsel zeigte sich der Autor enttäuscht:
Es war einmal ein Vertrag zwischen einer Filmgesellschaft und einem Autor, der wurde von der Gesellschaft anständig und sauber erfüllt. Das war kurz vor der Erfindung der Fotografie.4
Der Stoff wurde kurz darauf von der Ufa aufgegriffen. Chefdramaturg Robert Liebmann – den Tucholsky wegen Vielschreiberei mit Sarkasmus bedachte – schrieb zusammen mit anderen die Film-Travestie Viktor und Viktoria, in dem der damalige Publikumsliebling Renate Müller einen Damenimitator spielte. (Der Stoff bot 1982 die Grundlage für den Hollywood-Film Victor/Victoria mit July Andrews.)
Tucholskys einziger Film in der Weimarer Republik war die Verfilmung Wie kommen die Löcher in den Käse? von 1932, an der er selbst allerdings nicht mitarbeitete.
1Peter Panter: Seifenblasen. Ein Spiel. Nach einer Idee von G.W. Pabst. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 15, [T 144], S. 401
2 Peter Panter: Gussy Holl, Schaubühne Nr. 26, 3.7. 1913, S. 688 (Tucholsky Gesamtausgabe Band 1, [T 133], S. 224ff., hier: S. 225. Online bei textlog.
3 Peter Panter: Seifenblasen. Ein Spiel. Nach einer Idee von G.W. Pabst. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 15, [T 144], S. 400-462
4 Peter Panter: Schnipsel. Die Weltbühne, 03.11.1931, Nr. 44, S. 673. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 14, [T 129], S. 435. Online bei textlog.
Um dir ein optimales Erlebnis zu bieten, verwenden wir Technologien wie Cookies, um Geräteinformationen zu speichern und/oder darauf zuzugreifen. Wenn du diesen Technologien zustimmst, können wir Daten wie das Surfverhalten oder eindeutige IDs auf dieser Website verarbeiten. Wenn du deine Zustimmung nicht erteilst oder zurückziehst, können bestimmte Merkmale und Funktionen beeinträchtigt werden.
Funktional
Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt.Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.