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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief Dezember 2016 Rundbriefe

[Rezension] Beim Barte des Proleten

Das hat schon mit Ironie des Zufalls zu tun, und mit Wehmut auch. Ausgerechnet während der Lektüre des 272 Seiten umfassenden, spannenden und sehr in­formativen Almanachs von Jürgen Klammer drückte mir ein Kabarettfreund aus der Nachbarschaft eine Meldung in die Hände, die er am 16.11. 2016 in der Märkischen Allgemeinen entdeckt hatte: Oderhähne geben ihre letzte Vorstellung. Nach 50 Jahren Berufsleben in »Ost« und »West« packen Lutz Stückrath und Wolfgang Flieder ihre Utensilien zusammen, spielen noch­mal Jetzt ist Schluss! und verabschieden sich von ihren Zuschauern.
Damit findet der Untertitel Geschichten aus dem Kabarett-Theater »Distel« in den Zeiten von Walter Ulbricht, Erich Honecker und Helmut Kohl noch einen traurigen Nachschlag.
Stückrath und Flieder: Sind das nicht zwei der wenigen noch nicht verstor­benen oder noch nicht in den Schweigestand abgetauchten Distel-Urge­steine? Sie sind es. Ihrer und der Bühnenlaufbahn der anderen Ex-»Dis­teln« hatte ich in der Dokumentation gerade nachgespürt, die mir der Au­tor Jürgen Klammer bei unserer Begegnung während der Jahrestagung 2016 der Tucholsky-Gesellschaft höchstpersönlich in die Hände gedrückt hatte.
Beim Barte des Proleten ist ein rundherum gelungenes Buch. Es ergänzt, illustriert und spezifiziert Oliver Dietrichs Freiräume – das Kabarett in der DDR zwischen MfS und SED[1] am Beispiel der Distel sachkundig und aus­gewogen. Es erläutert, wie sich einst Schauspieler und Satiriker wie Heynowski, Brehm, Kusche, Stengel u.a. ein zeitweilig hoffnungsvolles Kli­ma und die Forderung eines ND-Leitartikels, »die Waffe der Satire zu schärfen«, schlitzohrig zunutze machten und den Berliner OB Friedrich Ebert beim Wort nahmen.
Am 4. Oktober 1953, wenige Wochen nach dem 17. Juni, startete das er­ste politische Kabarett der DDR in einer festen Spielstätte am Bahnhof Friedrichstraße sein erstes Programm »Hurra, Humor ist eingeplant!«
Der damit eingeschlagene Weg war und ist von Höhen, Tiefen und Wider­sprüchen geprägt, berührt die Lebensleistung und das Schicksal von Au­toren und Interpreten und spiegelt ein gutes Stück DDR-Kulturgeschichte wider. Die Schere zwischen dem Lob und der Schelte für Texter und Kaba­rettisten der Distel bewegte sich zwischen Nationalpreis und Misstrauen. Sie führte in einem Falle auch zu einer Verhaftung, wobei der National­preis wie auch andere staatlich-offizielle Orden in der Gesamtbilanz we­sentlich dichter gesät waren als die den Autor Manfred Bartz betreffende zeitweilige Freiheitsberaubung.
Es war Bartz` Schicksal, wie seine scharfzüngige Kollegin Inge Ristock tref­fend bemerkte, dass er »die Tinte nicht halten konnte«. Andere konnten das zeitweilig besser – aber eine Gratwanderung blieb das Kabarett alle­mal. Und das nicht nur in der DDR, wie die jüngste Vergangenheit be­weist.
Was mir an der flüssigen Dokumentation besonders imponiert, sind nicht nur die zahlreichen Beispieltexte, sondern nicht weniger die Anmerkungen und Einblendungen zu den persönlichen Lebens- und Arbeitsverläufen von Kabarettisten, Regisseuren und Karikaturisten sowie die Wertschätzun­gen aller weiteren Programmbeteiligten. Nicht weniger berührten mich die Exkurse zu anderen Kabaretts wie zur Dresdener  Herkuleskeule und zur Leipziger Pfeffermühle, zumal einige Kabarett-Ikonen wie Edgar Külow, Helga Hahnemann oder Gisela Oechelhäuser nicht nur den Weg, sondern mitunter eher den Umweg nach Berlin über andere Institutionen genommen hatten.
Dabei offenbart der Autor nicht nur umfangreiche, bis in Einzelheiten gehende Sachkenntnisse, sondern ein  hohes Fingerspitzengefühl und Ein­fühlungsvermögen. Seine Darstellung des stachligen Distel-Weges vom häufig kritisierten, aber subventionierten Partei- und Staatskabarett und nach 1989 zur privatrechtlichen GmbH bei personeller Reduzierung um rund 50 {ba5249323a5ad00c05529abc4bd04f1981aa9314e15f6cc666f9b62072a92d67} beschränkt sich zwar auf das Metier, von dem hier die Rede ist; der kundige Zeitzeuge weiß aber, dass ihm die Satire vergehen kann, wenn er über den kabarettistischen Tellerrand hinausschaut.
Eine Fülle von sorgsam und sensibel ausgewählten Fotos und Dokumen­ten bereichert die Kabarett-Geschichte der Distel plastisch und zusätzlich.
Die besondere Brisanz des letzten DDR-Programms »Keine Mündigkeit vorschützen« im Spielball der inneren Zerrissenheit zwischen Gestaltern und offiziellen Besserwissern, zwischen Zensur und Selbstzensur unter­scheidet sich deutlich von den besonderen Umständen der ersten Nach­wende-Aufführung »Mit dem Kopf durch die Wende«. Entscheidend für die Zukunft und den weiteren Bestand der Distel als Institution waren beide.
Mit Genugtuung ist auch der Versuch des Autors abzunicken, das Zuein­anderfinden von Kritikastern aus Ost und West am Beispiel darzustellen. Wir könnten das aus eigenem Erleben als Gastspieler im Kabarett Kana­pee Hannover 1990, als DDR-Teilnehmer beim »Kabarett-Tag zur Deut­schen Einheit« 1991 in Erlangen und durch die Mitwirkung in der Reihe »Tucholskys Erben« im Berliner Kabinett Anfang des 3. kabarettistischen Jahrtausends gut ergänzen.
Übrigens: Ein besseres Vorwort zur Dokumentation als das von dem in­zwischen leider auch verstorbenen Volker Kühn hätte man dem Bart des Proleten kaum wünschen können.
Jürgen Klammer hat – das sei mit Freude hervorgehoben – einen wichti­gen Beitrag zur deutschen Kabarett-Geschichte und für den Fundus des Kabarett-Archivs in Mainz und Bernburg geleistet.
Beim Barte des Propheten: Weder der Insider noch der Interessierte sollten die neugierige Lektüre dieses wunderbaren Buches versäumen.

Wolfgang Helfritsch

Jürgen Klammer: Beim Barte des Proleten. Geschichten aus dem Kabarett-Theater Distel in den Zeiten von Walter Ulbricht, Erich Honecker und Helmut Kohl. Selbstironieverlag Leipzig 2013. 272 Seiten, über 500 Abb., 100 Künstler- Porträts. Broschiert. Das Buch ist  erhältlich beim Selbst-Ironie-Verlag.
[1]Dieser Band wurde im Rundbrief April 2016 besprochen

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[Rezension] Bernhard Weck: »Schmerz über das Unrecht im Recht«

»Schmerz über das Unrecht im Recht« heißt ein Beitrag von Bernhard Weck in dem gerade im Nomos Verlag erschienenen Sammelband STREITBARE JU­RISTiNNEN. Eine andere Tradition, Band 2, herausgegeben von der Redaktion der Vierteljahresschrift Kritische Justiz.
Zunächst drei Vorbemerkungen:

  1.  Die Vierteljahresschrift Kritische Justiz erschien erstmals im Jahre 1968. Ihr Selbstverständnis ist bis heute unverändert:

Sie will das Recht und seine praktische Anwendung vor seinem gesell­schaftlichen Hintergrund analysieren. Sie durchbricht die übliche, von ihrem ökonomischen und politischen Kontext losgelöste Behandlung von Rechtsfragen und arbeitet die hinter den juristischen Denkfiguren stehenden konkreten sozialen Interessen heraus, um das Recht in praktischer Arbeit durchschaubar zu machen. Die Kritische Justiz knüpft an die in Deutschland 1933 gewaltsam abgebrochene Tradi­tion kritischer Rechtswissenschaft an, wie vor allem durch die Namen Karl Korsch, Otto Kirchheimer, Franz Neumann und Ernst Fraenkel repräsentiert wird.
(So ein »Werbetext« aus dem Jahre 1988 in dem 1. Band Streitbare Juris­ten)

  1. 1988 gab die Redaktion der Kritischen Justiz den (ersten) Sammelband STREITBARE JURISTEN. Eine andere Tradition heraus. Versammelte dieser Band Porträts über

aufrechte, streitbare Juristen und Juristinnen aus dem 19. und 20. Jahrhundert (…) teils bekannte, teils unbekannte Repräsentanten ei­ner in Deutschland meist unterdrückten, schließlich buchstäblich ver­nichteten Rechtskultur (Band 1, S. 11), liegt der Schwerpunkt des nun erschienen 2. Bandes stärker auf JuristInnen, die nach 1945 aktiv an gesellschafts-politischen Debatten teilgenommen haben, insbesondere an Kontro­versen seit »1968«, die zu Kristallisationspunkten der Rechtspolitik wurden und zugleich einen Bezug zur Kritischen Justiz aufweisen. (…) An die Tradition von Herrschafts- und Rechtskritik schließt Band 2 an. Er ergänzt in historischer Perspektive einige Lücken und setzt neue Akzente mit Porträts von JuristInnen, die für ein demokratisches, inklusives und responsives Rechts- bzw. Verfassungsverständnis eingetreten sind, wie etwa Alfred Apfel, Otto Bauer, Eugen Ehrlich, Franz Kafka und Kurt Tucholsky. (Band 2, S. 11)

Mit Franz Kafka ist ein zweiter Schriftsteller in den 2. Band aufgenommen worden. Dazu für Mitglieder unserer Gesellschaft mindestens noch zwei weitere interessante Artikel.
Jan Gehlsen porträtiert unter dem Titel Verteidigung im Gerichtssaal und in der Weltbühne (S. 29ff), den jüdischen Rechtsanwalt und Strafverteidiger Alfred Apfel (1882-1941), der im französischen Exil einem Herzanfall er­lag. Desweiteren ein langes Interview, welches meine beiden (jüngeren) Berliner Verteidiger- bzw. Rechtsanwaltskollegen Hannes Honnecker und Wolfgang Kaleck mit unserem (älterem) Mitglied Heinrich Hannover sowie den beiden bekannten Strafverteidigern Hans-Christian Ströbele aus Ber­lin und Ruppert von Plotniz aus Frankfurt unter dem Titel Die RAF-Prozesse – ein Gespräch in drei Teilen (S. 557ff.) geführt haben.

  1. Der Autor des Porträts von Kurt Tucholsky, Dr. Bernhard Weck, ist als profunder Kenner von Tucholskys justizkritischen Publikationen weithin be­kannt. Sein aus Anlass des 100. Geburtstages von Tucholsky am 9. Janu­ar 1990 in der Universität Bayreuth gehaltener Vortrag Wider den »Drei­männerskat der Justitia.« Bemerkungen zur Justizkritik Kurt Tucholskys wur­de im Tagungsband unserer Jahrestagung im Oktober 1997 veröffent­licht[1]. Dr. Weck, Jahrgang 1955, ist Dozent an der Fachhochschule für öf­fentliche Verwaltung und Rechtspflege inHof (Bayern).

Die Überschrift seines Beitrages Schmerz über das Unrecht im Recht hat Weck einem Artikel von Peter Panter in der Vossischen Zeitung vom 29. Juni 1930 entnommen: Kabarett zum Hakenkreuz[2].
In insgesamt elf Kapiteln zeichnet Weck Tucholskys Justizkritik nach. Nach Bemerkungen zur Juristischen Ausbildung, Tucholskys Literarische Justiz­publizistik und Frühe Justizkritik beschreibt Weck im 8. Kapitel unter der Überschrift Umbruch der Haltung zur Justiz die ab Mitte 1919 einsetzende radikale Einstellungsänderung insbesondere zur Strafgerichtsbarkeit wie folgt:

Sein Zutrauen in deren Redlichkeit war unter dem Eindruck der Straf­prozesse zur Ahndung politisch motivierter Schwerverbrechen in der Frühphase der Weimarer Republik tief erschüttert worden. Als Presse­beobachter zahlreicher Verhandlungen vor Militärtibunalen, zivilen Sondergerichten und der ordentlichen Strafgerichtsbarkeit erlebte er, dass Taten, die Militärangehörige und politisch rechts stehende Täter an linken Radikalen wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, repu­blikanischen Politikern wie Erzberger, Scheidemann und Rathenau, anderen politischen Gegnern und unpolitischen Opfern begangen hatten, vertuscht, heruntergespielt, vaterländisch glorifiziert und un­angemessen milde bestraft wurden. (S. 524)

In weiteren Kapiteln wie Kritik an politischer Rechtsprechung angeblich un­politischer Richter, Der Strafpozess wegen Tucholskys Satz „Soldaten sind Mörder endet Weck mit dem Kapitel Tucholskys Blicke in die düstere nahe und lichtere ferne Zukunft, dessen letzter Satz lautet: »Diesem Credo folgte auch sein Wirken als streitbarer Jurist.« (S. 536)
Weck nimmt damit Bezug auf Ignaz Wrobels Artikel in der Weltbühne vom 28. Oktober 1930 Blick in ferne Zukunft, in dem es unter anderem heißt:

Herschaften, es gibt ja auch einen Organismus, Mensch geheißen, und auf den kommt es an. Ob der glücklich ist, das ist die Frage: Daß der frei ist, das ist das Ziel. Gruppen sind etwas Sekundäres. Es kommt nicht darauf an, dass der Staat lebe – es kommt darauf an, daß der Mensch lebe.[3]

Vielleicht bietet sich der für die Jahrestagung 2018 ins Auge gefasste Ort Leipzig, dem Sitz des früheren Reichsgerichts und des heutigen Bundes­verwaltungsgerichts sowie dem sogenannten Steuerstrafsenat des BGH, an, sich erneut mit Tucholskys Justizkritik zu beschäftigen – vielleicht mit Dr. Bernhard Weck als versierten Referenten.

Bernd Brüntrup

Redaktion Kritische Justiz (Hrsg): KRITISCHE JURISTiNNEN. Eine andere Tradition. Nomos Verlag Baden-Baden 2016. 678 Seiten, kartoniert. 38,- €. ISBN 978-3-8487-0003-5. Unter der ISBN 978-3-8487-3238-8 sind Band 1 und 2 zusammen als Paket für 58 € erhältlich.
[1]Hepp, Michael (Hrsg.) im Auftrag der Kurt Tucholsky-Gesellschaft: KURT TUCHOLSKY UND DIE JUSTIZ, Dokumentation der Tagung der Kurt Tucholsky Gesellschaft vom 23.-26.Oktober 1997 in Berlin, Oldenburg 1998, S. 137ff. ISBN 978-3-8142-0636-3
[2]Kurt Tucholsky-GA Band 13, 269ff. (271). ISBN 978-3-498-06542-3
[3]Kurt Tucholsky-GA, Band 13, S. 433. ISBN 978-3-498-06542-3

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Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg

barth-orig300Boris Barth ist Professor für Neuere und Neueste Ge­schichte an der Universität Konstanz. Nach Büchern über die deutsche Au­ßenpolitik vor 1914 aus dem Jahre 1995, einer Arbeit zur deut­schen Niederlage 1918 und der Fol­gen in der Zeit bis 1933 aus 2003 und einem 2006 er­schienen Titel über Völkermord im 20. Jahrhundert, stellt er nun einen Band vor, der mit dem Unterti­tel »Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918-1938« das Thema be­nennt.
Barth beschäftigt sich, unter breiter Nutzung der außerordentlich umfangrei­chen Literatur über die anstehenden Sachverhalte, mit den Fol­gen, die der Aus­gang des Ersten Weltkrieges den europäischen Staaten bescherte. Trotz des er­kennbar wissenschaftlichen Anspruchs (722 Fuß­noten am Ende des Textes und einer sehr breiten Literaturliste) bleibt der Text gut les- und verstehbar für den historisch interessierten Laien.
An eine Einführung, die den Weg zu mehr Demokratisierung und Parlamentari­sierung im 19. Jahrhundert, einen Aufriss der Probleme nach 1918 und die Be­deutung des Ersten Weltkrieges und seiner Folgezeit be­schreibt, schließt Barth sechs Themenblöcke an, mit denen er den zu behandelnden Stoff systemati­siert. Das sind »Die Pariser Weltordnung«, »Paramilitärische Gewalt und Kriege nach dem Krieg«, »Politische Ethni­sierungen und Vertreibungen«, »Die unzu­längliche ökonomische Rekon­struktion«, »Der Kampf um die Staatsform« und schließlich »Die Offensi­ve gegen den Parlamentarismus«.
Bei dem ersten Problemfeld, der Friedensordnung, wird gerade uns Deutschen klar, dass es außer dem am 28. Juni 1919 unterschriebenen ›Versailler Vertrag‹, der das Deutsche Reich betraf, noch vier weitere Verträge, nämlich die mit Ös­terreich, Ungarn, Bulgarien und der Türkei, verhandelt wurden. Alle fünf Verträ­ge gemeinsam sollten eine neue Weltordnung einleiten.
Barth schaut bei seiner Betrachtung auf die jeweils verschiedenen Ein­zelstaaten und beschreibt die differenten Lösungs- (oder Nichtlösungs)-Ansätze; dabei im­mer an einem der oben genannten Problemfelder orientiert. Eine recht positive Bewertung erfährt dabei generell das schwedische Modell des sozialdemokrati­schen Wohlfahrtsstaates.
Ein Problem dieser Art der Querschnittsbetrachtung liegt darin, dass bei Sicht auf ein Einzelland natürlich nur der jeweilige Fragezusammenhang diskutiert wird und so eine kontinuierliche nationale Sicht nicht möglich ist. Das liegt aber in der Natur dieser Darstellungsweise und weitet den Blick auf unsere verschie­denen Nachbarn.
Auch die Staaten, die nicht in das Kriegsgeschehen eingegriffen hatten, waren umfassend mit den Kriegsfolgen beschäftigt. Die Inflation, die Fi­nanz- und Ban­kenkrise, eine weit reichende Agrarkrise (eher selten the­matisiert), der wach­sende Nationalismus und die Weltwirtschaftskrise berührten naturgemäß alle Staaten (mehr oder weniger).
In seinem knappen Fazit analysiert Barth, dass vor allem die Nachkriegs­kämpfe zwischen 1919 und 1921/22 die Lage instabil hielten. Ein radika­lisierter Natio­nalismus, der die Ethnisierung ganzer Bevölkerungsgrup­pen betrieb,

löste wiederum massive Vertreibungen und Fluchtbewegungen aus. […] Flüchtlinge und Vertriebene trugen nicht nur zur Destabilisierung von par­lamentarischen Systemen bei, sondern konservierten auch in er­heblichem Maße revanchistisches und teilweise rassistisches Gedanken­gut. (S. 294 f.)

Diktaturen, die sich in der besprochenen Zeit herausgebildet haben, sind nicht wegen der besonderen Anziehungskraft der Persönlichkeiten der Diktatoren entstanden, sondern wegen der Schwäche der Demokratie.

Überall, wo derartige starke Parteien [wie z.B. in Schweden oder in GB] weiter existierten, überlebte auch die Demokratie. (S. 295)

Ein lesenswertes Buch, das gerade in dieser durch territoriale, ethnische und religiöse Konflikte und Kriege, große Migrationsbewegungen und internationa­len Terrorismus gekennzeichnete Zeit nachdenkenswerte In­formationen bietet. Viele Fehler im Umgang mit Anderen und uns Selbst sind im 20. Jahrhundert bereits schon einmal gemacht worden und wir sollten uns unbedingt daran er­innern und daraus lernen.

Klaus Leesch

Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg. Campus Verlag. Frankfurt/Main 2016, 361 Seiten, gebunden, 34,95 €. ISBN: 978-3-593-50521-3
Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

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Helmut Duffner: Himmler im Tunnel

Helmut Duffner Himmler im Tunnel CoverDie Frage: »Was will uns der Autor damit sagen?«, wird immer dann gestellt, wenn der Leser eines Artikels oder eines Buches mit dem Geschriebenen nicht so ganz klar kommt.
Vor mir liegt ein hübsch gestaltetes Buch von Helmut Duffner mit dem Titel »Himmler im Tunnel« und dem Untertitel »Geschichten aus dem Schwarzwald«. Das hört sich nach Vergangenheit an und nach Bekanntem. So ist vor Jahren schon der Gremmelsbacher Heimatforscher Karl Volk dem zeitweisen Aufenthalt des ehemaligen Reichsfüh­rer SS, Heinrich Himmler, im Zweiten Weltkrieg in Triberg nachgegangen.
Dass dann noch die Besuche des Berliner Satirikers Kurt Tucholsky in Nußbach* und des späteren Nobelpreisträgers Ernest Hemingway in Triberg während der Wei­marer Republik sich in diesem Buch wiederfinden, gehört zum Thema. Dann aber wird es ganz persönlich, denn Helmut Duffner greift nun auf eigenes Erle­ben und das von Zeitzeugen während des Weltkriegs im Bereich Nußbach, Schwenningen und Löffingen zurück.
Und das leider recht ungeordnet, denn die Titelgeschichte befindet sich z.B. erst auf Seite 117. Dass Helmut Duffner in Schwenningen aufwuchs, sein Vater Karl der Bruder des in Nußbach lebenden und bei der Eisenbahn arbeitenden Eugen Duffner ist, erfährt man eher neben­bei nur bei ganz akribischem Lesen. Schade eigentlich, denn das Buch ist ein Sammelsurium von interessanten Fakten und liebevoll zusammen getragenen Recherchen.
Allerdings ärgert Hemingway-Freunde, dass der Amerikaner mit Frau und Freunden im Wehrle in Triberg wohnte. Biografen verorten ihn im ehemaligen Löwen, heute Sparkassengebäude am Marktplatz. Was will uns Hel­mut Duffner, der in Moers lebt und schon zwei weitere Bücher heraus gab, nun mit seinem Werk sagen?
Nun, dass er seiner alten Heimat verbunden ist und die unsäglichen Mühen und Taten des zweiten Weltkrieges vor dem Vergessen bewahren will. Somit gehört das Duffner-Buch besonders in die Hände der Hei­mat- und Geschichtsvereine der Region.

Renate Bökenkamp

Helmut Duffner: Himmler im Tunnel. Geschichten aus dem Schwarzwald. Moers 2016, 147 Seiten. Festeinband. 10,90 € ISBN 978-3-00-052793-7
*siehe Brief an Mary Gerold vom 19.8. 1919 (Tucholsky GA Bd. 17, [B 37], S. 68 ff.)
Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

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Kurt Tucholsky: Seifenblasen

»Hänschen klein / ging allein / wollte gerne Gretchen sein …«1

seifenblasen-orig300Tucholskys Film-Travestie Seifenblasen von 1931 zum Nachle­sen.

Auch, wenn heute in Film, Literatur und Sozialwissenschaft der Begriff Transgender häufig eine Rolle spielt, so ist das Phäno­men, das er bezeichnet, nicht neu. Das Spiel mit den Ge­schlechtern, das Verkleiden, waren schon vor Tucholskys Zeiten bekannt – mal gesellschaftlich geächtet und mal akzeptiert. Travestien von Transvestiten wa­ren als Bühnengag schon vor dem 1. Weltkrieg in Cabarets und Varietés beliebt.

Peter Panter, bekanntlich in platonischer Liebe zur Kabarettistin Gussy Holl ent­flammt, schilderte 1913 einen Auftritt der Künstlerin als »Damenimitatorin«:

Aber die Höhe ist doch: die Imitation eines Damenimitators. Die Frau fühlt, wie unendlich weit es immer noch ist von jedem Mann, und sei er der wei­bischste, bis zu ihr. Wie diese Kluft doch nicht zu überspringen ist. Und so macht sie sich über die vergeblichen Anstrengungen eines Gegners lustig, den sie ja allerdings nicht mehr als Mann anerkennt, aber der doch nur ein amüsantes Zwischending ist, beileibe keine Frau. […] Am Schluß ein herrli­cher Zug: sie reißt sich anstatt der Perücke triumphierend den »Shinjong« aus und hält jubelnd die Trophäe ihrer Mannheit hoch.2

Daran muss er sich erinnert haben, als Peter Panter zu Beginn der Tonfilmzeit von Nero-Film den Auftrag für das Szenarium zu einer Filmkomödie erhielt. Ide­engeber war der der Nero-Regisseur G.W. Pabst, der als Hauptvertreter der »Neuen Sachlichkeit« im Film kein besonderes Verhältnis zu heiteren Stoffen hatte (aber mit dem Henny-Porten-Schwank Skandal um Eva seine leichte Hand bewies). Peter Panter schrieb also ein ausführliches Filmexposé von Barbara, ei­nem »Fräulein Nummer« am Varieté, das als Damenimitator zu einem umjubel­ten Star wird, in den sich viele Frauen verlieben – Frauen und ein Mann, der auf einem Wochenendausflug entdeckt, was es mit ihr auf sich hat. Dazu kommt noch eine etwas weit hergeholte Kriminalgeschichte.

Panter-Tucholsky zeigte in seinem Filmtext, daß er durchaus filmisch denken konnte. Bei ihm spielte die moderne Technik in Gestalt von Telefonen eine Hauptrolle. Er entwickelte für den damals noch ganz neuen Tonfilm bereits in seinem Szenarium dramaturgisch begründete Geräusch-Collagen. Dazu griff er auf seine Stärken zurück, den Mutterwitz und den Einsatz zahlreicher Chan­sons. Wenn die Igel in der Abendstunde, war beispielsweise für diesen Film vor­gesehen.

Tucholsky-Kennern ist diese Filmerzählung, die tatsächlich in der KT-Gesamt­ausgabe3 erstmals veröffentlicht wurde, spätestens seit der Jahrestagung über Tuchos Verhältnis zu den Medien 2005 ein Begriff. Ganz so sensationell ist also die Entdeckung des Rowohlt-Verlags nicht, aber immerhin ist es die erste Ein­zelpublikation dieses Textes. Michael Töteberg hat dazu ein Vorwort geschrie­ben, in dem er Tucholskys schwieriges Verhältnis zum Medium Film noch ein­mal referiert. Als 23jähriger hatte er für die Schaubühne erste Filmkritiken ver­fasst, in denen er dem Stummfilm mehr als kritisch gegenüberstand. Allerdings anerkannte Tucholsky schon damals technische Finessen, die nur im Film mög­lich waren und revidierte sein abschätziges Urteil über das Genre nach dem Kriege mehr und mehr – was bei Töteberg etwas zu kurz kommt.

Bekanntlich wurden die Seifenblasen nicht realisiert, möglicherweise, weil der einzig interessierte Regisseur Pabst die Nero-Film 1932 verließ. In einem seiner Schnipsel zeigte sich der Autor enttäuscht:

Es war einmal ein Vertrag zwischen einer Filmgesellschaft und einem Au­tor, der wurde von der Gesellschaft anständig und sauber erfüllt. Das war kurz vor der Erfindung der Fotografie.4

Der Stoff wurde kurz darauf von der Ufa aufgegriffen. Chefdramaturg Robert Liebmann – den Tucholsky wegen Vielschreiberei mit Sarkasmus bedachte – schrieb zusammen mit anderen die Film-Travestie Viktor und Viktoria, in dem der damalige Publikumsliebling Renate Müller einen Damenimitator spielte. (Der Stoff bot 1982 die Grundlage für den Hollywood-Film Victor/Victoria mit July Andrews.)

Tucholskys einziger Film in der Weimarer Republik war die Verfilmung Wie kommen die Löcher in den Käse? von 1932, an der er selbst allerdings nicht mit­arbeitete.

Frank-Burkhard Habel

Kurt Tucholsky: Seifenblasen. Rowohlt rotation. Reinbek 2016, eBook, ca. 84 Seiten. ISBN 978-3-644-05391-5.

seifenblasenprint150Inzwischen hat Rowohlt auch eine gedruckte Ausgabe angekündigt:

Im Dezember 2016 erscheint eine Hardcover-Ausgabe im Geschenkformat:

Kurt Tuchols­ky: Seifenblasen. Eine Geschichte, die ein Film werden sollte.

Rowohlt Taschenbuch Ver­lag. Reinbek 2016, 128 Seiten, gebunden, 10 €. ISBN 978-3-499-29033-6

1Peter Panter: Seifenblasen. Ein Spiel. Nach einer Idee von G.W. Pabst. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 15, [T 144], S. 401

2 Peter Panter: Gussy Holl, Schaubühne Nr. 26, 3.7. 1913, S. 688 (Tucholsky Gesamtausgabe Band 1, [T 133], S. 224ff., hier: S. 225. Online bei textlog.

3 Peter Panter: Seifenblasen. Ein Spiel. Nach einer Idee von G.W. Pabst. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 15, [T 144], S. 400-462

4 Peter Panter: Schnipsel. Die Weltbühne, 03.11.1931, Nr. 44, S. 673. in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 14, [T 129], S. 435. Online bei textlog.

Dieser Beitrag erschien im Rundbrief der Kurt Tucholsky-Gesellschaft August 2016.

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Originaltexte Tucholsky: Zum Werk

Peter Panter: Der Prozeß

Es war ein lächelnder Gerichtshof, vor dem er dringend sich seinen Freispruch verbat.

Ludwig Hardt

Wenn ich das unheimlichste und stärkste Buch der letzten Jahre: Franz Kafkas ›Prozeß‹ (im Verlag Die Schmiede zu Berlin) aus der Hand lege, so kann ich mir nur schwer über die Ursachen meiner Erschütterung Rechenschaft ablegen. Wer spricht? Was ist das?

Erstes Kapitel. Verhaftung. Gespräch mit Frau Grubach. Dann Fräulein Bürstner. Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.

So fängt es an. Es ist ein Bankbeamter, um den es sich handelt – und die zwei Gerichtsboten, die da morgens in sein möbliertes Zimmer kommen, wollen ihn verhaften. Aber sie verhaften gar nicht – der ›Aufseher‹ stellt an einem Nachttischchen ein Verhör mit ihm an, dann darf er in die Bank gehen. Er ist frei. Bitte, Sie sind frei … Der Prozeß schwebt.
Wir alle, die wir ein Buch zu lesen beginnen, wissen doch nach zwanzig oder dreißig Seiten, wohin wir den Dichter zu tun haben; was das ist; wie es läuft; obs ernst gemeint ist oder nicht; wohin man im groben so ein Buch zu rangieren hat. Hier weißt du gar nichts. Du tappst im Dunkel. Was ist das? Wer spricht?
Der Prozeß schwebt, aber es wird nicht gesagt, was für ein Prozeß. Der Mann ist offenbar eines Vergehens angeklagt, aber es wird nie gesagt, welches Vergehens. Die irdische Gerichtsbarkeit ist es nicht – also welche sonst? Eine, um Gottes willen, allegorische? Der Autor erzählt, erzählt mit unerschütterlicher Ruhe – bald merke ich, daß es nichts Allegorisches wird – deute nur, du deutest nie aus. Nein, ich deute nie aus.
Josef K. wird zum Verhör geladen – er geht. Das Verhör findet unter seltsamen Umständen im fünften Stockwerk eines Außenviertels statt – man liest, weiß nicht …
Und ganz unmerklich hat sich die Idee festgehakt, sie greift über, und nun gibt es nichts zu freudianern, und keine gebildeten, geschwollenen Fremdwörter helfen hier weiter.
Es ergibt sich, das Josef K. in eine riesenhafte Maschinerie geraten ist, in eine bestehende, arbeitende, geölt laufende Maschine des Gerichts. Er vernachlässigt seine Stellung in der Bank, er berät mit Advokaten, er geht zu den Verhören, obgleich er sich geschworen hat, nicht hinzugehen, er beschwert sich über das Betragen der Gerichtsdiener in seiner Wohnung – es sickert auch langsam durch, daß er einen ›Prozeß‹ hat, es scheint, daß alle Leute davon wissen, oder doch viele, es ist wohl etwas Legitimes. Bis es ihn in der Bank selbst erwischt.

„Als K. an einem der nächsten Abende den Korridor passierte, der sein Büro von der Haupttreppe trennte – er ging diesmal fast als der Letzte nach Hause, nur in der Expedition arbeiteten noch zwei Diener im kleinen Lichtfeld einer Glühlampe -, hörte er hinter einer Tür, hinter der er immer nur eine Rumpelkammer vermutet hatte, ohne sie jemals selbst gesehen zu haben, Seufzer ausstoßen.“ Er öffnet. Da steht ein Mann in dunkler Lederkleidung und vor ihm die beiden Gerichtsdiener. „Was tut ihr hier?“ fragt er sie. „Herr! Wir sollen geprügelt werden, weil du dich beim Untersuchungsrichter über uns beklagt hast.“ In der Bank? In dieser so realen Bank? K. unterhandelt mit ihnen, versucht, den Prügler zu besänftigen – so hart habe er seine Beschwerde nicht gemeint … Aber sie müssen sich ausziehen, die Gerichtsdiener, schon sind die Oberkörper nackt, die Rute tanzt … Da schlägt K. die Tür zu. Der Schrei der Geprügelten wird jäh abgeklemmt.
Am nächsten Tag geht er scheu an der Tür vorbei, die sein Geheimnis vor der Bank verbirgt. Er öffnet, aus Gewohnheit …
Vor dem, was er statt des erwarteten Dunkels erblickte, wußte er sich nicht zu fassen. Alles war unverändert so, wie er es am Abend vorher beim öffnen der Tür gefunden hatte. Die Drucksorten und Tintenflaschen gleich hinter der Schwelle, der Prügler mit der Rute, die noch vollständig angezogenen Wärter, die Kerze auf dem Regal und die Wächter begannen zu klagen und riefen: Herr! Sofort warf K. die Tür zu …

Ich gebe diese Probe, um die grausame Mischung von schärfster Realität und Unirdischem zu zeigen – wie neben den Büroboten der lederschwarze Prügler, aus einer Masochisten-Fotografie geschnitten, die Rute schwingt … Und K. wirft die Tür zu – nein: »er schlug noch mit den Fäusten gegen sie, als sei sie dann fester verschlossen«. Der Prozeß schwebt.
Der Prozeß braucht einen Advokaten. K. findet ihn, aber hier hat das Buch nun schon beinah ganz die Erde verlassen – wie eine schwarze Kugel schwebt es durch den Raum. Beim Advokaten ist ein Leidensgefährte, ein jämmerlicher zerprügelter kleiner Mensch – und es gibt untere und obere Advokaten, und das Schrecklichste ist, daß niemand die Spitze dieser Pyramide absehen kann, niemand dringt jemals in diese Höhen, scheint es …
Also eine Justizsatire? Nichts davon.
So wenig, wie die ›Strafkolonie‹ eine Militärsatire ist oder die ›Verwandlung‹ eine Bourgeois-Satire – es sind selbständige Gebilde, die niemals auszudeuten sind.
Der treuste Freund Max Brod, der dem Buch ein wunderschönes Nachwort geschrieben hat, und dessen unermüdlichen Anstrengungen wir erst die Drucklegung dieses Schatzes und fast aller andern Bücher Kafkas verdanken – Brod erzählt uns, das Buch sei ein Fragment geblieben. Man merkt das auch; ich fühle in diesem Punkt ein klein wenig anders als Brod. So erscheint mir bei diesem herrlichen Prosaiker zum ersten Mal dies und jenes nicht ganz ausgeglichen – auch steht für mein Empfinden das grandiose Schlußkapitel etwas unvermittelt an dem vorletzten Abschnitt, der übrigens eine Meisterleistung für sich ist. Auf meine Bitte war Max Brod so freundlich, mir seine Ansicht über den ›Prozeß‹ mitzuteilen; hier ist sie:

Der Prozeß, der da geführt wird, ist der ewige Prozeß, den ein zart empfindender Mensch mit seinem Gewissen auszufechten hat. Held K. steht vor seinen innern Richtern. Das gespenstische Verfahren vollzieht sich an den unscheinbarsten Schauplätzen und so, daß scheinbar K. immer recht hat. Ganz ebenso sind wir rechthaberisch gegen unser Gewissen und versuchen, es zu bagatellisieren. Das Besondere ist nur die fatale Feinfühligkeit gegen die innere Stimme, die auf Schritt und Tritt immer lebendiger wird.
Mit Kafka selbst konnte man natürlich nie über Deutungen sprechen, auch bei der größten Intimität nicht. Er selbst deutete so, daß die Deutungen neuer Deutungen bedürftig wären. So wie ja auch sein Prozeß nie recht entschieden werden kann.

Dieser Prozeß ist selbstverständlich, wie auch aus Brods Darlegungen im Nachwort hervorgeht, niemals eine Allegorie gewesen. Er ist sofort als Symbol konzipiert, tatsächlich hat sich das Symbol selbständig gemacht, es lebt sein eignes Leben. Und was für ein Leben …
Da ist eine Szene bei einem etwas verkommenen Maler, von dem man dem Angeklagten K. gesagt hat, er könne ihm im Prozeß durch Fürsprache bei den obern Richtern nützlich sein. Zu dem geht er. Der Mensch wohnt oben im Haus, in einer kleinen, unaufgeräumten Stube. Zum Schluß der Unterredung bittet der Maler, ihm doch ein Bild abzukaufen, vielleicht mehrere Bilder … Und holt nun immer dieselbe Heidelandschaft unter seinem Bett hervor, immer dieselbe … Und dann geleitet er den Hilfesuchenden zur Tür hinaus, und K. ist wieder in den gefürchteten Gerichtskorridoren. „Woher staunen Sie?“ fragt der Maler. „Es sind die Gerichtskanzleien. Wußten Sie nicht, daß hier Gerichtskanzleien sind? Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem Dachboden, warum sollten sie grade hier fehlen?“
Also ein Traum? Nichts ist für mein Gefühl verkehrter, als mit diesem verblasenen Wort Kafka fangen zu wollen. Dies ist viel mehr als ein Traum. Das ist ein Tagtraum.
Etwas Ähnliches an Zügellosigkeit gibt es nur noch in geschlechtlichen Kindheitsphantasien, wo Schule, Haus, die Stadt und die Welt einer, einer einzigen Idee untergeordnet sind – wo die Menschen Glaskleider tragen oder halt! noch besser: vom kleine Glasluken, damit man sie besser sehen kann … Das Buch ist nicht wahnsinnig – es ist vollkommen vernünftig, es ist in seiner Idee so vernünftig, wie manche Irre vernünftig sind, logisch, mathematisch in Ordnung: es fehlt eben jene leise Dosis von Irrationalem, die erst dem vernünftigen Menschen den innern Halt gibt. Nichts schrecklicher als ein reiner Mathematiker des Verstandes – nichts unheimlicher.
Nun ist aber Kafka ein Dichter seltenen Formats, und diese ultralogische Grundidee ist berankt mit realen Phantasiegebilden. Es gibt gar keine Frage mehr, ob es das alles gibt – das gibt es, das ist so wahr, wie in der Strafkolonie eine Tötemaschine steht, so wahr, wie sich der Geschäftsreisende damals in einen Käfer verwandelte … das ist so.
Das vorletzte Kapitel enthält die theologische Ausdeutung einer kleinen Geschichte Kafkas, die sich in dem Band ›Ein Landarzt‹ findet, sie heißt: ›Vor dem Gesetz‹, ein Muster reiner Prosa. Hier im Buch schwillt die Geschichte auf, wird, nach des Autors eignen Worten, unförmlich; ein Gefängniskaplan im Dom erklärt sie dem lauschenden und disputierenden Josef K., verstrickt ist er, nichts kann ihn retten.
Wie er stirbt, mag man selber nachlesen. Die letzte Minute ist eine Vision von einer nie gehörten Stärke. „Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch grenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein Einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte?“
Das Buch schließt mit einem optischen Bild, das ich hier nicht aus dem Zusammenhang reißen möchte, einer alten Fotografie von unvergeßlicher Grausigkeit.
Seit Oskar Panizza ist so etwas an eindringlicher Kraft der Phantasie nicht wieder gesehen worden. Das Deutsch ist schwer, rein, bis auf wenige Stellen wundervoll durchgearbeitet. Wer spricht?
Franz Kafka wird in den Jahren, die nun seinem Tode folgen, wachsen. Man braucht niemand zu ihm zu überreden; er zwingt. Wände beleben sich, die Schränke und Kommoden fangen an zu flüstern, die Menschen erstarren, Gruppen lösen sich auf und bleiben wieder wie angebleit stehen, nur der Wille zittert noch leise in ihnen. Man sagt von Tamerlan, er habe einmal seine Gefangenen mit Mörtel zu einer Mauer zusammenmauern lassen, zu einer brüllenden Mauer, die langsam verzuckte. So etwas ist es. Ein Gott formt eine Welt um, setzt sie neu zusammen, ein Herz steht am Himmel und scheint nicht, sondern klopft; ein Fetisch wandelt, eine Apparatur wird lebendig, nur, weil sie da ist, die Frage Warum? ist so töricht, beinah so töricht wie in der realen Welt.
Deren Teile sind da – aber sie sind so gesehen, wie der Patient kurz vor der Operation die Instrumente des Arztes sieht: ganz scharf, überdeutlich, durchaus materiell – aber hinter den blitzenden Stücken ist noch etwas andres, die Angst brüllt der Materie in alle Poren, erbarmungslos steht das Operationsbett, hab doch Mitleid! sagt der Kranke, auch du! Das Bett ist so fremd, aber es ist doch im Bunde.
Ein solcher Wille begründet Sekten und Religionen – Kafka hat Bücher geschrieben, einige wenige, unerreichbare, niemals auszulesende Bücher. Hätte sich der Schöpfer anders besonnen, und wäre dieser in Asien geboren: Millionen klammerten sich an seine Worte und grübelten über sie, ihr Leben lang.
Wir dürfen lesen, staunen, danken.


Autorenangabe: Peter Panter
Ersterscheinung: Die Weltbühne, 09.03.1926, Nr. 10, S. 383.
Editionen: Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe. Texte und Briefe. Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp, Gerhard Kraiker. 22 Bände, Rowohlt Verlag, Reinbek 1996ff., Band 8. Texte 1926, S. 168 ff.
Ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Verlag, Reinbek 1975. Band 4, S. 374 ff.

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