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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief August 2017 Rundbriefe

[Rezension] Unda Hörner: Ohne Frauen geht es nicht

Neben Bertolt Brecht ist Kurt Tucholsky der deutsche Autor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, über dessen Liebesleben be­sonders ausführlich geschrieben wurde. Die Germanistin Unda Hörner, die in Tucholskys Lieblingsstädten Berlin und Paris stu­dierte, hat mit dem schmalen, aber kompakten Band »Ohne Frau­en geht es nicht« auf Erkenntnisse anderer Publizisten von Helga Bemmann bis Klaus Bellin aufgebaut. Ist Hörners Bändchen nun aufschlussreich? Oder überflüssig?
Die Frage ist mit einem klaren »Sowohl als auch« zu beantworten. Wer sich für Tucholsky und die Frauen interessiert – wohlgemerkt die Frauen, und nicht, wie es der Untertitel verheißt »die Liebe« – und keinen Stapel von Büchern wälzen möchte, wird hier kompakt bedient. Von dem wenigen, was wir über Kitty Frankfurter wissen, bis über Liebschaften und zu dem Vielen, was wir von Mary Gerold kennen, referiert die Autorin kenntnis- und zitatenreich wie es gelaufen ist.
Zudem hat sie viele Memoirenbücher von Tucholskys Zeitgenossinnen gelesen und das eine oder andere Detail in den Vordergrund gerückt. Tucholskys Liebe (zumindest zu Frauen) verlässt sie aber, wenn sie über die Diseusen und gar die zeitgenössischen Autorinnen spricht.
Die offenbar platonische Liebe zu Gussy Holl ist bekannt. Hörner lässt offen, ob es mit Hesterberg oder Kühl zu intimen Begegnungen kam. Gerade an diese beiden Künstlerinnen denkt die Autorin of­fenbar nicht, wenn sie feststellt, dass nach 1933 Tucholskys Interpretinnen ver­stummten. Es mag für Rosa Valetti gelten, oder auch für Claire Waldoff. Kate Kühl und Heinrich Manns Ex-Geliebte Trude Hesterberg machten (wenngleich viel zahmer) im Dritten Reich weiter, beide auch in der DDR, bevor sie vom westdeutschen Kulturbetrieb aufgesogen wurden.
Ein anderes Kapitel befasst sich mit den Autorinnen unter Tucholskys Zeitgenos­sen. Hörner legt glaubhaft nahe, dass sich Tucholsky und Vicky Baum durch den anderen Kurt, Tuchos Freund Szafranski, gekannt haben müssen. Aber auch Irmgard Keuns und Gabriele Tergits damalige emanzipierte Haltungen referiert sie mit Zitaten aus Tucholskys Rezensionen auf eingängige Weise.
Tucholsky-Freunde, die schon tief mit Leben und Werk des Meisters vertraut sind, müssen den Band nicht erwerben. Wer es aber kaufen möchte, um Freun­dinnen und Bekannte auf Tucholsky neugierig zu machen, der sollte zugreifen.

Frank-Burkhard Habel

Hörner, Una: Ohne Frauen geht es nicht, Tucholsky und die Liebe, ebersbach & simon. Berlin. 2017, 144 Seiten, geb., 16,80 € ISBN 978-3-86915-137-3

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief August 2017 Rundbriefe Tucholsky im Spiegel

Tucholsky im Spiegel [August 2017]

Unter dem Motto

Entspanne dich. Lass dass Steuer los. Trudle durch die Welt. Sie ist so schön.

hat erfreulicherweise das Café Tucholsky in der Kurt-Tucholsky-Straße 30a in Rheinsberg, direkt am See gelegen, wieder eröffnet. Von April bis Oktober täg­lich außer Dienstags von 12.00 bis 19.00 Uhr. info@tucholsky-cafe.de / Tel. 033931 34370
Auf eine Übernachtung warten die beiden schönen Dachgeschossferienwoh­nungen mit Seeblick »Wölfchen« und »Claire«.
Buchung der Ferienwohnung unter: Tel. 033931/3440 oder unter: http://bit.ly/2vG2okS bzw. http://bit.ly/2pzMNyA.
Das Mindener Tageblatt, Nr.126, vom 01.06. 17, S. 30, gratuliert unserem ersten Preisträger (1995) wie folgt:

Rebell, Poet
Konstantin Wecker wird 70
…Wecker heimste viele Preise ein, darunter die Medaille »München leuch­tet«, den Kurt-Tucholsky-Preis und mit Eugen Drewermann den Erich-Fromm-Preis.

In Hannover erscheint monatlich das Magazin Asphalt. Das Prinzip dieses Maga­zins lautet:

Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer sind Menschen mit brüchigen Bio­graphien. Irgendwann sind sie in ihrem Leben durch schwere Schicksals­schläge, Krankheiten oder traumatische Erlebnisse aus der Bahn geworfen worden. Heute versuchen sie, durch den Verkauf des Asphalt-Magazins ih­rem Leben wieder Struktur und Sinn zu verleihen. Viele sind oder waren wohnungslos. Sie kaufen das Asphalt-Magazin für 1,10 Euro und verkaufen es für 2,20 Euro. Asphalt ist eine gemeinnützige Hilfe-zur-Selbsthilfe-Ein­richtung und erhält keinerlei regelmäßige staatliche oder kirchliche Zu­wendung.

In der Juni-Ausgabe wird auf Seite 11 unter der Rubrik »Wer war eigentlich…WALDEMAR BONSELS?« das Leben dieses Mannes, der von 1880 bis 1952 lebte und unter anderem dadurch bekannt geworden ist, dass er das Buch »Biene Maja« schrieb, in dem er die Entwicklung Majas von der Anarchistin zu einem staatsbewussten Individuum, »vom Abenteurer zum Bürger«, so sein Biograph Bernhard Viel, aufzeigt.
Der Verfasser des Asphalt-Artikels, Gerd Schild, bezeichnet Bonsels als Anhänger des Kaiserreichs, Opportunisten und Antisemiten, wenn – soweit wieder der Biograph – wohl auch kein glühender Nazi-Anhänger. Seine schriftstellerischen Fähigkeiten beschreibt der Verfasser wie folgt:

Will man Bonsels freundlich beschreiben, kann man ihn als Karrierist ab­tun, als einen begabten Schriftsteller, extrem fleißig und wandlungsfähig, der seinen Stil an eine erhoffte Leserschaft anpassen konnte. Er war ein Prahlhans, aber kein Dandy, denn Bonsels war ein fleißiger Autor. […] Er war beliebt, besonders im Bürgertum.
Ein stilbildender Autor war er nicht. Und den eitlen Schriftsteller hat es sicher arg gekränkt, als er etwa von Kurt Tucholsky für seine »Trostlitera­tur« verspottet wurde.

Unter der Überschrift »Tucholsky-Symposium Rheinsberg« berichtet unser lang­jähriges Vorstandsmitglied Wolfgang Helfritsch in Ossietzky, H. 12/17, S. 425ff., über eine Tagung in Rheinsberg unter anderem wie folgt:

Angejahrte Tucholsky-Fans und begeisterte Eleven des Opernfaches, Lite­raturwissenschaftler, Autoren, Komponisten, Publizisten und Satiriker tra­fen sich zur Begutachtung und Diskussion eines bisher einmaligen Projek­tes, das als Oper »Tucholskys Spiegel« am 21. Juli in der Kammeroper sei­ne Premiere erleben wird. Wenn sich dann nur einiges von der begeister­ten, nicht unkritischen Atmosphäre des Symposiums auf die Bretter über­trägt, ist der Erfolg vorprogrammiert […]
Am zweiten Konferenzabend wurde das Symposium durch ein eindrucks­volles musikalisches Programm bereichert. Die »Tour de Rheinsberg« startete in der »Musikbrennerei«, einer von Jane Zahn und dem Komponis­ten Hans-Karsten Raecke begründeten kleinen Aufführungsstätte für groß­artige Kunst. Vormals hatte das Haus anderen spirituellen Genüssen ge­huldigt (Schnapsbrennerei). Zahn und Raecke gestalteten »Musik für Kurt«. In Anlehnung an Bach und Eisler bis zu Heiner Müller verblüfften der Komponist und seine Solistin nicht nur durch eigene Kompositionen, sondern auch durch den Einsatz selbstentwickelter Instrumente wie der Orionharfe.

»Ins Gehirn des Monsters« ist ein Artikel im Mindener Tageblatt, Nr. 142, vom 22.06.17, S. 10, überschrieben, in dem der Komponist und Dirigent Manuel Rös­ler aus Berlin über seine Twittermonologe berichtet.
Dabei geht es in Anlehnung an die von Hans Eisler in den 20er-Jahren vertonten Zeitungsannoncen um Vertonung von Tweets des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. So hat Rösler einen Tweet gegen einen kritischen Fernsehmode­rator, für den Trump 22 Minuten brauchte, vertont, dabei auch die Recht­schreibfehler eingebaut und die Musik amerikanischer Nachrichten persifliert. In Röslers Augen verhält sich der amerikanische Präsident »wie ein 5-jähriger im Körper eines 71-jährigen«. Es heißt dann weiter:

Er [Rösler – B.B.] möchte in seinen Kompositionen weder als Verteidiger noch als Gegner des Präsidenten auftreten, obwohl er weiß, dass er nicht neutral sein kann. Privat sei er Gegner. Als »künstlerisches Ich« möchte er sich aber in das »Gehirn des Monsters« versetzen können, um zu ergrün­den, was den Mann eigentlich antreibt, oder, frei nach Tucholsky, ob es hinter dem Lärm, den er macht, einen Menschen gibt.

Hatte sich Tucholsky zu Lebzeiten häufig kritisch zur SPD geäußert, sind jetzt auch mal DIE GRÜNEN/Bündnis 90 »dran«, wenn auch nur in einem Leserbrief von Wolfgang Siedler, Berlin, in der Berliner taz vom 24./25.06.17, S. 33:
betr. »Perfekt inszeniert, tief verunsichert«, taz vom 19.6.17

Die Grünen sind in der Mitte angekommen. »In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod.« (Tucholsky) Wie viele Mittelwähler wohl grün wählen? Drei Prozent, fünf Prozent? Wir werden sehen!
Anmerkung: Ein weiteres Beispiel für eine Falschzuschrift. Tatsächlich stammt das Zitat vom barocken Epigrammatiker Friedrich von Logau (1605-1655).

In Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 28 vom 14.07.17, S. 28, wird unter der Über­schrift »Dufte!« für verschiedene Modeartikel, Accessoires und Kosmetika gewor­ben, die sich alle um den Tucholsky-Schnipsel

Das beste Gedächtnis hat bekanntlich die Nase

gruppieren. Ob Tucholskys Nase allerdings auch Bekleidungsstücke und Saft­pressen in sein Gedächtnis transportieren konnte, sei dahingestellt, könnte aber eventuell Interesse für ein neues Forschungsprogramm wecken.
Mein Dank gilt mal wieder unserem Mitglied Gerhard Stöcklin. Sämtliche Arti­kel sind wie immer über die Geschäftsstelle abrufbar.

Bernd Brüntrup

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Tucholsky Museum erhält wertvolle Dokumente

Eine großzügige Schenkung hat das Kurt Tucholsky Literaturmuseum in Rheins­berg Ende Juni 2017 erreicht. Brigitte Rothert, die Großcousine und letzte noch lebende Verwandte Kurt Tucholskys, übergab dem Museum einige bedeutende Sammlungsstücke aus dem Nachlass von Kurt Tucholsky, die sie wiederum zum Teil in den 1980er Jahren von Tucholskys damals noch lebender Schwester Ellen Milo aus New York, USA, erhalten hat.
Darunter sind drei wertvolle, von Tucholsky gewidmete bzw. signierte eigene Bücher, sehr seltene Erstausgaben und weitere Bücher, zum Teil mit hand­schriftlichen Anmerkungen von Ellen Milo. Im Weiteren gehören dazu originale Kinderfotos von Kurt Tucholsky und seinen Geschwistern Ellen und Fritz, einige amerikanische Publikationen mit Tucholsky-Texten und frühe Nachkriegseditio­nen.
Weitere Dokumente und Objekte, wie interessante Briefwechsel, Zeitungsaus­schnittsammlungen, weitere Fotos und ihren Briefwechsel mit der Schwester Tucholskys Ellen Milo hatte sie bereits früher dem Museum übergeben. Die Briefe von Ellen Milo an Brigitte Rothert sind sehr privater Natur, sie geben un­ter anderem Auskunft über das sehr problematische Verhältnis der Mutter Do­ris Tucholsky zu ihren Kindern.
Ein ganz besonderes Stück ist auch der einmalige Exil-Koffer von Ellen Milo, auf dem man durch diverse Aufkleber die Stationen ihres Exils über Italien in die USA ablesen kann.
Das Museum verfügt nunmehr, mit dieser Schenkung, über dreißig Auto­graphen von Tucholsky und mehr als 40 originale Objekte — von Briefschatul­len, Schreibwerkzeugen, Schreibtischutensilien über häusliche Gegenstände bis hin zu Möbeln wie seinen letzten Schreibtisch aus dem schwedischen Exil und zwei Sesseln aus der gemeinsamen Wohnung mit Mary Gerold, die wir gerade im Februar aus dem Nachlass von Fritz J. Raddatz übereignet bekamen.
Weitere Autographen, z.B. Briefe von Rudolf Arnheim, Emil Jannings, von Sieg­fried Jacobsohn, Lisa Matthias, Mary Gerold und Else Weil kommen hinzu. Dar­über hinaus gehören zur Sammlung dutzende originale Fotos und Dokumente z.B. aus dem Familienbesitz von Else Weil, sowie hunderte Erstdrucke in der Weltbühne, der Vossischen Zeitung, dem Berliner Tageblatt, dem Simplicissimus und vielen weiteren Publikationen. Selbst ein originales Blatt aus dem Flieger erhiel­ten wir vor zwei Jahren geschenkt.
Die Schenkung war von Brigitte Rothert schon 2005 testamentarisch verfügt worden, nun hatte sie sich, die mittlerweile fast 89 Jahre alt ist, dazu entschlos­sen, ihr Erbe bereits als Vorlass an das Museum zu übergeben. Wie glücklich wir über diesen bedeutenden Zuwachs unseres Archivs sind, und wie dankbar für das große Vertrauen und die Anerkennung, die Brigitte Rothert damit unse­rem Museum entgegen gebracht hat, brauchen wir nicht zu betonen. Wir wer­den uns bemühen, es mit unserer zukünftigen Arbeit für Tucholsky, sein Werk und seine Ideen, weiterhin zu rechtfertigen.

Dr. Peter Böthig

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[Rezension] Tucholskys Spiegel: Oper-Premiere in Rheinsberg

Diese Rezension beginnt mit einem Geständnis. Ich schätze eher das klassische Opern-Repertoire, von Siegfried Jacobsohns geliebtem Mozart bis zu SJs Feind Wagner. Bin also Opern-Fan, aber kein Experte. Wie es Tucho selbst formulierte, kommt es im Künstlerischen nur auf ein Kriterium an: die Gänsehaut. Bei moderner E-Musik fehlt sie sehr häufig bei mir.
Ausnahme: James Reynolds‘ Partitur. Von Jazz-Einlagen mit Flair der zwanziger Jahre bis zur latenten Bedrohung (man tanzte auf einem Vulkan) steckt atmosphärisch alles drin. Tucho und die NS-Gegenspieler, die ihn die Worte »Giftspeiender Jude!« an den Kopf werfen — wunderbar herausgearbeitet. Das ist nicht in erster Linie MODERNE Musik, sondern vor allem zum Thema PASSENDE Musik, die von einem aufgeweckten Publikum begeistert aufgenommen wurde.
Zweites Lob: dem ideenreichen, innovativen Organisator und gutem Geist des Ganzen, Frank Matthus sowie seinem Regisseur Robert Nemack. Ich hatte mit Vorstandskollegin Jane Zahn schon bei einem Expertensymposium im Mai Gelegenheit, Frank kennenzulernen: Auf diesen Charismatiker müsste Rheinsberg, ja ganz Brandenburg stolz sein. Und Nemack! Die Bühne als Boxring für Tucholskys Kampf um ein demokratisches Deutschland: eine gelungene Idee! Die Beweglichkeit des Ensembles, unter Benutzung der Gänge und des Zuschauerraums: bewusst verunsichernd, hier wollte niemand einschlafen. Jeder wartete gespannt auf den nächsten Regieeinfall.
Die Sänger und Sängerinnen; Wenn ich hier alle, darunter den bekannten Countertenor Jochen Kowalski, und ihre Meriten loben sollte, müsste dieser Rundbrief um vier Seiten verlängert werden. Also soll hier eine für alle stehen: die energische, humorvolle, bei Gelegenheit angsteinflößende Mezzosopranistin Felicitas Brunke. Sicher zum Teil auch als Darstellerin von Mary Tucholsky, aber nicht nur deswegen, hat sie bei mir einen Stein im Brett. Singen kann sie, können sie alle. Ein tolles, aufeinander eingestimmtes Ensemble.
Also eine völlig positive Kritik? Leider nicht. Am Libretto war die Idee mit Pseudonymen, Freundinnen und Gegnern , die Tucholskys Charakter von vielen Seiten beleuchteten, bewundernswert. Aber durch Zerhacken der Figur in die einzelnen Pseudonyme ging m.E. die Tatsache verloren, dass sie fünf Finger an einer Hand sind. Der innere Kompass, der allen PS eigen war, fehlte. Weiter: Christoph Klimke war wohl ein verdienstvoller Rheinsberger Stadtschreiber, wir sind dankbar, dass er mit diesem Libretto Tucholsky ein Denkmal gesetzt hat. Aber er hat meiner Ansicht nach die Größe seiner Hauptfigur nicht verstanden. Ist das Gedichtchen Der Pfau wirklich Tucholskys entscheidendes Werk und nicht etwa Der Graben? Mein Lieblingspseudonym, der politische Kämpfer und Friedensfreund Ignaz Wrobel, war nur als Gegner von Rosa Luxemburg und Zielscheibe einer Kritik von Karl Kraus präsent, eine Verniedlichung, die an die misslungene Anthologie von Hermann Kesten in den 1950er Jahren erinnert.
Die kleine Hosenrolle des Melancholikers Kaspar Hauser ging fast ganz unter: schwere Versäumnisse. Dass Tucholskys Alter Ego am Schluss Tucholskys Spiegel anzünden sollte, wie ursprünglich im Libretto vorgesehen, war ein schwerer Fehle: das hätte Tucholsky-Freunde an die öffentliche Verbrennung von Tucholskys Büchern erinnert, vielleicht auch ans tragische Schicksal seiner ersten Ehefrau Else in Birkenau. Zum Glück wurde diese Idee fallengelassen. Aber es blieb am Schluss ein Antiklimax zurück. Bei Wagners Tannhäuser muss der Stab des Papstes Knospen bekommen; bei Faust I darf die Stimme von oben »ist gerettet« auch nicht fehlen. Hier blieb bei vielen Zuschauern ein Fragezeichen.
Trotz alledem: Dass 82 Jahre nach dem einsamen Tod in Schweden eine Oper über unseren Namenspatron gespielt wird, ist eine tolle Sache. »Ich bekomme recht, wenn’s mich nicht mehr gibt«, resümiert die Tucholsky-Gestalt. Matthus, Reynolds, die Sängerinnen und Sänger haben dafür gesorgt, dass Tucho recht bekommt. Es liegt an uns, das gleiche Ziel anzustreben.

Ian King

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[Rezension] Thomas F. Schneider: Emil Ludwig

Emil Ludwig schrieb Romane, Dramen, Biographien, war Pazifist, Publizist, frühzeitiger Apostel der Vereinigten Staaten von Europa — er schrieb sogar eine Verfassung für dieses Gebilde. Nach Thomas Mann und Stefan Zweig war er der bekannteste deut­sche Exil-Autor in den USA. Er verfasste Expertisen über die Be­handlung Deutschlands nach der voraussehbaren Niederlage im Zweiten Weltkrieg, kannte und beriet Präsident Franklin Roose­velt . War nicht zuletzt Freund und Briefpartner Kurt Tucholskys , der Ludwigs ausgesprochene kritische Biographie vom Ex-Kaiser Wilhelm II. lobte.
Ein be­deutender Zeitgenosse — und ein heute fast vergessener Autor, an den Thomas F. Schneider und seine Mit-Verfasser durch diesen Essayband mit Recht erinnert haben. Nicht jeder Tote hat eine Witwe, die seine Schriften sammelt und her­ausgibt.
Der nach Themen, nicht chronologisch unterteilte Band befasst sich also mit Ludwigs Biographien und Dramen, seinen publizistischen Anbahnungen von Krieg und Moderne, seinen politischen Schriften in der Weimarer Republik — Benjamin Ziemanns Essay dürfte für Tucholsky-Freunde von besonderem Inter­esse sein — sowie mit Anmerkungen zu Charakter und Stil in den Biographien — darunter über Bismarck, Mussolini, Stalin und Hitler.
Ludwig war zweifellos Anhänger der Thomas Carlyle-These, dass die Geschichte von großen Männern gemacht werde, im Guten wie im Bösen. Dabei benutzte er Bismarck als Wider­sacher von Wilhelm II., enttarnte das Schauspielhafte des Kaisers, um durch Zerstörung einer reaktionären, überschätzten Legende die Republik indirekt zu stärken.
Ludwig zog den tschechischen Demokraten Thomas Masaryk allen Diktatoren vor und nicht nur deswegen, weil er wie Kurt Hiller und andere Exilschriftsteller in der Tschechoslowakei kurzfristig Zuflucht gefunden hatte und freundlich auf­genommen worden war. Im US-amerikanischen Exil benutzte er seinen hohen literarischen Ruf, um vor dem deutschen Gehorsam (Tucholsky nannte dies den »Untertanengeist«), dem Militarismus und den Rachegefühlen allzu vieler Landsleute zu warnen: Krieg gegen die Nazis sei nicht zu vermeiden und müsse gewonnen werden.
Diese Ideen eines besonders unreifen, bösen Nationalcharakters verleiteten ihn zum Vorschlag, sein geschlagenes Volk so lange unter Kuratel der Alliierten zu stellen,bis eine neue, vom Faschismus unverdorbene Generation erwachsen werden könnte. Helga Schreckenberger analysiert diese Exilschriften des akti­ven Politikers Ludwig, der den klassenmäßigen Hintergrund der Nazis, die Her­kunft vieler faschistischen Promis aus einem wild gewordenen Kleinbürgertum sowie die Verstrickung von Deutschlands Großindustriellen in die Massenver­brechen der Faschisten — kurz, den sozialen Charakter des NS-Regimes — wohl unterschätzt hat. Vom Marxismus blieb Ludwig unbeeindruckt. Dass es »die« Deutschen nie gab, sondern Täter, Mitläufer, Opfer und wenige Widerstands­kämpfer — wollte er nicht wahrhaben.
Thomas Schneider selber hat einen einfühlsamen Essay (unter dem Titel Erfolg ohne Einfluss) verfasst, der an Tucholskys Formulierung »Ich habe Erfolg, aber keinerlei Wirkung« erinnert. Anders als unser Namenspatron hat Ludwig bei den Mächtigen antichambriert, statt sich nur als Anwalt der Getretenen zu füh­len. Aber Ludwig hat so wenig wie Tucholsky seine demokratischen Grundsätze verraten, zahlte dafür mit Exil und — nach 1945 in der Schweiz — mit un­verdienter Nichtachtung.
Dabei waren beide überzeugte Antinationalisten und »gute Europäer«. Das wird bei unserer Tagung im Oktober zu hören sein, denn der Ludwig-Experte Schneider tritt als Referent auf.

Ian King

Schneider, Thomas F. (Hrsg): Emil Ludwig. (= Non Fiktion, 11. Jahrgang 2016, Heft 1/2). Wehrhahn Verlag Hannover 2016. 232 Seiten, kart., 24,80 € ISBN 978–3–86525–546–4 ISSN 0340–8140

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[Rezension] Ohne Frauen geht es nicht

Unda Hörner, 1961 geboren, ist eine in Berlin lebende Schriftstellerin, deren reiches Oeuvre vor allem die Frauen zum Thema hat. In vielen ihrer Publikatio­nen beschäftigt sie sich mit berühmten Frauen, aber auch mit den Lebensge­fährtinnen berühmter Männer, Künstler, Maler und Schriftsteller.
In ihrem jüngsten Buch »Ohne Frauen geht es nicht« widmet sie sich Kurt Tuchols­ky und der Liebe. Liebe ist, so wissen wir ja, ein Gefühl, das auch vergehen kann, Verliebtheit eher der hoffnungsvolle Anfang einer möglichen Liebe. Somit hat Tucholsky geliebt (Mary Gerold), war aber hoffnungslos und oft verliebt.
Die Autorin zeigt auf 123 Seiten mit Fußnoten, einem ausführlichen Literatur-Verzeichnis das Leben und den beruflicher Werdegang des in der Weimarer Re­publik wohl meist gehassten Autoren auf. Sie beschreibt die nach ihrer Mei­nung wichtigsten fünf Frauen in Tucholskys Leben: Else Weil, Mary Gerold, Lisa Matthias, Gertrude Meyer und Hedwig Müller und stellt zu deren Kapiteln Fotos.
Die jeweiligen Verbindungen mit Tucholsky sind mit dem historischen Hintergrund und Tucholskys Lebensstationen gut recherchiert verwoben.
Dass zu diesen Frauen auch die Diven und Diseusen der Weimarer Zeit wie Claire Waldoff und Gussy Holl gehören, stellt Unda Hörner an den Anfang ihres Buches. Auch kommen die Kolleginnen im Zeitungsviertel Gabriele Tergit, Irm­gard Keun und Vicki Baum zu Worte. Eine fehlt: Inga Melin, die Schwedin, die Tucholsky in seinem Exil in Hindas als deutsch-schwedische Sekretärin zur Seite stand. Er hat ihr einige Veröffentlichungen gewidmet. Nach eigenen Aussagen hat sie seinem Werben widerstanden.
Über seine erste Verlobte, Kitty Frankfurter, kann auch Hörner wenig mitteilen, von ihr ist nach wie vor wenig überliefert. Alle diese Frauen im Leben Tuchols­kys sehen ihn aus jeweils verschiedenen Blickwinkeln und haben unterschiedli­che Erwartungen. Sie beschreiben ihn als gebildet, charmant, als sensibel, aber eben nicht als treu.

Das Buch liest sich flott, bleibt sachlich und ist mit vielen Zitaten auch unter­haltsam: Für alle, die das Beziehungsleben von Kurt Tucholsky im Zusammenhang kennen lernen und ein Zeitdokument erhalten wollen, ist es eine gute Lektüre.

Renate Bökenkamp

Hörner, Una: Ohne Frauen geht es nicht, Tucholsky und die Liebe, ebersbach & simon. Berlin. 2017, 144 Seiten, geb., 16,80 € ISBN 978-3-86915-137-3

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief April 2017 Rundbriefe

Rundbrief April 2017

Liebe Mitglieder und Freunde der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
der neue Rundbrief April 2017 ist erschienen. Sie können ihn hier (ohne Vereinsinterna) als pdf herunterladen.
Ausgewählte Beiträge sind zudem direkt als Einträge im Blog zu lesen:
[Stellungnahme] Zur Festsetzung von Deniz Yücel
[Stellungnahme] Zur Inhaftierung von Deniz Yücel
[Pressemitteilung] KTG lädt Deniz Yücel als Ehrengast ein
[Presseschau] Tucholsky im Spiegel
[Rezension] Tucholsky – eine Revue – eine Hommage
[Rezension] Marc Kayser: Ein Wochenende mit Tucholsky
[Rezension] Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky
[Rezension] Kurt Hiller/Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972
[Rezension] Jan Eik: Ost-Berlin, wie es wirklich war
 
 

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[Rezension] Marc Kayser: Ein Wochenende mit Tucholsky

Linn und Gilbert in Rheinsberg

Marc Kayser hat Kurt Tucholskys weltberühmten Klassiker … ins Heute versetzt und ein neues Bilderbuch für Verliebte geschaffen

verspricht der Klappentext der mit dem Untertitel Liebeserklärung an Rheinsberg versehenen ersten Auflage des Bild- und Heimat-Verlages Berlin. Eine originelle Idee, mit heutigen Personen ein Pendant zum Original zu schaffen.
»Hätten wir es nicht besser ein wenig kleiner?« fragte sich der Re­zensent allerdings, nachdem er am 30. März die Vorstellung des Büchleins im Tucholsky-Literaturmu­seum in Rheinsberg miterlebt hatte. Wenn man schon weiß, dass die Claire-Wölf­chen-Geschichte von 1911 jungen Leuten als Vorlage für ein freieres Liebesleben im illegalen Hotelbett, im schaukelnden Kahn oder im weichen Moos diente und ein reichliches Jahrhundert nach Werthers ver­klemmtem Liebeskummer manchem dazu verhalf, auf den Suizid vorerst noch zu verzichten und selbst in einer nach wie vor verspießerten Umgebung nach anderen Lösungswegen zu suchen, erschien mir das dem Prolog vorgestellte Versprechen

Für alle Liebenden, alle Geliebten und jene, die auf der Suche waren oder noch sind

– mit Verlaub – doch ein wenig hochgestochen.
Aber bekräftigen wir erst noch einmal das Positive: Der Gedanke, ein vom Alter und von den Lebenserfahrungen her reiferes Pärchen rund 100 Jahre später auf den Spuren Tucholskys durch das märkische Städtchen wandeln und rudern und erotisch brenzeln zu lassen, ist durchaus verlockend. Von den bislang 45 Rheins­berger Stadtschreibern seit 1992 haben zwar 35 eine Beziehung zum Städtchen und zur sanft geschwungenen Landschaft hergestellt. Aber bestenfalls zehn haben sich in ihrem literarischen Praktikum um einen Bezug zur Person des unbekannten Ju­risten und später berühmten Publizisten, vielseitigen Schreibers und anspruchsvol­len Frauenfreundes K.T. bemüht. Einer von ihnen ist der in Potsdam lebende Jour­nalist, Interviewer, Kriminalschriftsteller und Sachbuchschreiber Marc Kayser.
Einen weiteren Vorzug der Veröffentlichung – bezeichnen wir sie wie Tucholskys Tagebuch für Verliebte ebenfalls als Novelle – sehen wir darin, dass der Autor Personenforschung betreibt und vor allem die Claire Pimbusch alias Else Weil aus ihrem Inkognito holt. Er greift dabei die Spurensuche von Sunhild Pflug auf, die sich vor Jahren verdienstvoll um die im Tucholsky-Literaturmuseum veröffentlichte tragische Lebensdokumentation der jüdischen Ärztin bemühte.
Ein Glück, dass sich im Gästebuch einst die Eintragung der in London lebenden Gabriele Weil fand, Else-Claires Nichte, die sich gern auf Nachfragen zu ihrer geliebten rothaari­gen Verwandtschaft einließ.
Dass sich das aktuelle Paar Linn und Gilbert nennt und nicht unbedingt englische Vornamen trägt, macht die Sache sympathisch. Dass die Angejahrten mit dem Auto über die 96 andüsen und nicht mit der Bahn über Löwenberg, ist bei der Si­tuation der ostprignitzschen Umlandanbindungen und der im Winterhalbjahr da­hinrostenden Gleise durchaus nachvollziehbar. Dagegen kann selbst Gilbert, laut Autor Kayser selbst Fahrplanmacher bei der Bahn, nichts ausrichten.
Dass die Liebe aus der Rheinsberger Umgebung und dem literarischen Vorbild Im­pulse erhalten kann, soll nicht in Zweifel gestellt werden und wird durch die Vi­gnetten Klaus Ensikats romantisch unterstrichen. Und dass Linn nicht wie weiland die Claire

… gepackt und wie ein Wickelkind davongetragen wurde bis in die blumige Mulde… (Tucholsky, Rheinsberg)

findet durchaus unser der höheren Altersgruppe geschuldetes Verständnis. »Alles hat wohl seine Zeit«, sagt der in die Erzählung eingeführte alte Mann, der wie ein schwedischer Troll unseren Zeitgenossen immer wieder über den märkischen Weg schlurft. »Was früher einmal war, ist vorbei.« (S. 19).
»Das Städtchen von heute ist nicht mehr das Städtchen von einst«, konstatiert auch der Autor Kayser. Wahrlich. Wo jetzt noch ein stattliches Gebäude das Postamt verspricht, muss längst keins mehr drin sein. Andere Dienstleister haben nur ihr Gesicht verändert und das Angebot sogar erweitert: Der Kolonialwarenhändler Krummhaar bot einst Waren aus dem fernen Indien an – heute werben Lidl, Aldi und Edeka für Orangen aus Afrika, Erdbeeren aus Neuseeland und Knoblauch aus China. »Das sind die Kolonialhändler von heute«, bemerkt Gilbert (S. 25). Wo aber bleibt denn da Tucholskys Ratschlag an den Verbraucher, nur deutsche Zitronen zu kaufen?
Zu des aufmüpfigen Dichters Zeiten gab es noch kein Tucholsky-Literaturmuse­um, keine Akademie für junge Sängerinnen und Sänger, keine Tucholsky-Buch­handlung und kein inzwischen aufgegebenes Tucholsky-Café mit nachdenklichen Lebensweisheiten an den Gasthauswänden. Zu DDR-Zeiten existierten außerdem ein Atomkraftwerk in der Nähe, ein Diabetiker-Heim im Rokoko-Schloß, und im Umfeld der Stadt warteten sowjetische Bündnis-Truppen auf den glücklicherweise nicht eingetretenen Ernstfall.
In Nachwendezeiten gab es Mobiltelefone und Smartphones, rekonstruierte und farbenfrohe Gebäude, aber auch provokatorische Veranstaltungen der Rechten, wie sie die Tucholsky-Fans zu ihrer zeitgleichen Jahrestagung im Herbst 2012 erlebten. Davon und von ähnlich gearteten Vorfällen ist allerdings in den Plaudereien zwi­schen oder mit dem Paar nicht die Rede.
Gut, dass der Autor eine Begegnung Linns und Gilberts mit dem Stadtschreiber ar­rangiert. Dadurch erfahren wir wenigstens etwas über das Wirken und das Leben des Rheinsberger Arztes Dr. Weidauer, an dessen Mut und Zivilcourage eine Ge­denktafel am Hause seiner ehemaligen Praxis erinnert. Mit dem aktuellen barfüßi­gen Stadtschreiber kommen sie beiläufig ins Gespräch über Tucholsky, über seine glücklichen Tage mit Else Weil, über die Bücherverbrennung und den Tod des Dichters in Göteborg. »Du meinst, sein Geist hat hier Frieden gefunden?« fragt Linn ihren Gilbert. Der »stupst sie in die Seite«, und alles bleibt offen.
Die Kernfragen um die Liebe sind heute nicht neumodischer, als sie es schon 1911 waren.
stellt der Autor in seinem Epilog fest. Mag sein. Aber ich hatte etwas mehr Tucholsky und noch etwas mehr an zeitgeschichtlichen Ansätzen erhofft. Anderer­seits soll man nicht mehr erwarten, als der Autor von sich aus verspricht. Immerhin erwähnt er auch Tucholskys Mitarbeit an der Weltbühne. Über deren historische Umstände und die Nachfolger des Periodikums kamen wir nach der Lesung ins Gespräch.
Wir versprachen ihm Probe-Exemplare des Ossietzky – er versprach ein Abonnement. Und über die Nähe zur Tucholsky-Gesellschaft lässt sich sicher mit ihm reden.

Wolfgang Helfritsch

Marc Kayser: Ein Wochenende mit Tucholsky. Liebeserklärung an Rheinsberg. Mit Vignetten von Klaus Ensikat. Bild und Heimat Berlin 2017. 120 Seiten, gebunden. 14,99 € ISBN 978-3-95958-077-9

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[Rezension] Kurt Hiller/Mary Tucholsky: Briefwechsel 1952-1972

Zwei Schlüsselfiguren in Kurt Tucholskys Leben – die zweite Ehefrau und Al­leinerbin (zunächst seiner Schulden) Mary und der Weltbühne-Mitstreiter, Kriegs­gegner und antikommunistische Linke Kurt Hiller. Brigitte Laube hat den zwanzig­jährigen Briefwechsel zwischen den beiden bis zu Hillers Tod in einem schmalen Bändchen geschildert und kommentiert.
Hiller galt bisher mancherorts als Frauenfeind – teils wegen eigener Homosexuali­tät, teils wegen harter Kritik an bestimmten Frauen. Laube macht am Beispiel Mary Tucholskys deutlich, dass der Vorwurf unfair ist. Der cholerische Hiller hat zu den Menschen gehört, von denen es im Englischen kopfschüttelnd heißt, dass sie eine Schlägerei in einem leeren Raum anfangen könnten. Seine Ausbrüche gegen die KPD-nahe Zeitschrift »konkret« oder den Tucholsky-Verleger Ernst Rowohlt zei­gen, dass er ihm missliebige Männer ebenfalls nicht verschonte. Die langjährige Korrespondenz mit der Witwe seines Mitkämpfers beweist jedoch Kollegialität und gegenseitige Wertschätzung: mindestens dieser Frau gegenüber hat Hiller relativ wenig Porzellan zerschlagen.
Dies nicht nur, wie Laube gleich zu Beginn ihrer Analyse anmerkt, wegen der Brief­markenbeigaben in Marys Sendungen (S. 1). Hiller war leidenschaftlicher Philatelist, aber für Mary viel mehr, nämlich Berater und Helfer beim Aufbau ihres Rottacher Archivs – früher in ihrem Haus am Rosswandweg, heute Teil des Deutschen Lite­raturarchivs in Marbach am Neckar.
Für Tucholsky-Freunde, die nicht das Glück hatten, Mary persönlich kennenzuler­nen, dürfte der 62 Seiten kleine Band eine Fundgrube sein. Wo Fritz J. Raddatz et­was gönnerhaft eine »stolze, herrische, gleichwohl warmherzige und bescheidene Frau« be­schreibt (S. 4), gibt Laube durch Hillers Briefe Beispiele eben dieser Warmherzig­keit. Wie er sich über den Empfang – und das gute Essen! – im schönen Oberbay­ern freut, beschreibt beispielsweise ein Zitat auf Seite 34, das – nicht untypisch – sofort in eine Kritik an Raddatz wegen angeblichem Vertragsbruch übergeht.
Man liest, wie Mary ihren geschätzten Informanten oft zu beschwichtigen versucht, ihn aber auch gut kennt. Sie liest seine Briefe, wenn sie mal verzagt ist, denn »Wer kann sich so alterieren wie Sie?« (S. 51). Eine rein rhetorische Frage.
Andererseits: die zielstrebige Mary braucht Hillers Rat, als es um die Publikation der verzweifelten Briefe aus Tucholskys letzten Wochen an den Bruder Fritz und den Schriftsteller Arnold Zweig geht. Hiller rät von einer Veröffentlichung ab: zum Höhepunkt der Restaurationsepoche unter Adenauer könnte Tucholskys unbarm­herzige Kritik an Deutschlands Linken und vor allem an seinen Juden von den Rechten instrumentalisiert werden. Im Streit um Hermann Kestens Vorwort zu ei­ner missglückten Tucholsky-Ausgabe der Büchergilde Gutenberg 1957, die den Au­tor zum Nur-Humoristen verharmlost, schreiten beide Briefpartner Seit‘ an Seit‘, scheuen den juristischen Kampf ob der ad usum delphini getrimmten Ausgabe nicht, lassen das Buch nur mit einem distanzierenden Statement erscheinen, das Kestens Darstellung entlarvt.
Wie Hiller auch anderswo mit Recht erklärt hat, fehlte dort das (politische) Pseud­onym Ignaz Wrobel fast völlig. Aber Tucholsky war nicht in erster Linie ein berli­nernder Spaßvogel, sondern vor allem ein Kämpfer für Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
Ähnliches gilt aber auch für Mary, die ohne archivarische Kenntnisse für die Samm­lung und Verbreitung der nach NS-Bücherverbrennungen und Entfernung aus den Bibliotheken in alle Winde verstreuten Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge ihres Mannes betrifft. Dass Kurt Tucholsky jetzt zwanzigmal mehr Leser als zu Lebzei­ten hat, dass das Werk in 17 Sprachen übersetzt ist (S. 4) – das alles ist größtenteils Marys Verdienst.
Wir, die wir sie noch gekannt haben, wissen diese Ehre zu schät­zen: Wer in ihrem Wohnzimmer zum ersten Mal Ernst Buschs einmalige Interpre­tation des Antikriegsliedes Der Graben gehört hat, vergisst das nie. Die nach Kurt Tucholsky genannte Gesellschaft setzt sich zum Ziel, weiter im Geist der beiden Ehepartner zu forschen, zu lernen, zu lehren und zu leben. Dieses Buch ist zu empfehlen!

Ian King

Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972. Books on Demand Norderstedt 2016. 64 Seiten, kartoniert. 4,99 € ISBN 978-3-7412-8277-5

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief April 2017 Rundbriefe

[Rezension] Tucholsky – eine Revue – eine Hommage.

Neuer Triumph der Tucholsky-Bühne: Tucholsky – eine Revue – eine Hommage.
Nein, diesmal keine Premiere, die am 8. Januar in Minden aufgeführte Revue ist von den SchauspielerInnen der Kurt Tucholsky-Bühne unter Leitung von Eduard Schynol schon im September 2016 zum 20jährigen Jubiläum der Bühne uraufge­führt worden.
Also nur eine Wiederholung der beiden bisherigen Tucholsky-Biographicals dieses Ensembles? Mitnich­ten! Als erste Neuheit kündigte Moderator Bernd Brüntrup eine Weltpremiere an: Eine waschechte Tucholsky-Enkelin.
Die Abiturientin Maria Wrobel ist zwar mit Ignaz gleichen Namens weder versippt noch verschwägert, aber sie erwies sich als ausge­sprochen talentierte Sängerin. Ihre hauchende, wohl modulierte Stimme passte ideal zu den selbstkompo­nierten oder aus den USA stammenden Songs, dar­unter einer besonders schönen von Billie Holliday. Ein viel­versprechender erster Auftritt: Peter Panter, der Chanson-Abende rezensierte, hätte sich gefreut.
Dann die eigentliche Revue, mit in Minden wohlbekannten Darstellerinnen wie An­nette Duwenkamp-Bütow, Thea Luckfiel und der als furchterregenden Kriemhild in Erinnerung gebliebenen Antje Baumgart. Doch sollte an dieser Stelle eine zweite Neue herausgehoben werden. Susanne Spitzmüller übernahm es, mein Lieblings­lied Der Graben zu singen: Keine leichte Aufgabe, denn sie befand sich damit gewissermaßen in Idealkonkurrenz gegen die Aufnahmen von Ernst Busch und Gisela May. Doch ging sie mutig und entschlossen ans Werk, schuf eine gelungene Eigeninterpretation, riss das Publikum zu kurzem atemlosen Schweigen und dann zum begeisterten Beifall hin. Nach der Pause brillierte sie erneut als schüchternes Mädchen im Japan-Lied.
Der dritte Neue heißt Eduard Schynol. Ja doch, wir kennen ihn seit Jahren als be­gabten Regisseur, auch als Autor einiger Revue-Songs. Doch hier agierte der Mittel­feldregisseur nicht nur wie Günter Netzer aus der Tiefe des Raums, sondern glänz­te mit zwei Toren. Das erste, Ein älterer, aber leicht besoffener Herr, könnte sogar zum Tor des Monats werden, wobei die Besoffenheit des Wahlbeobachters nach reichli­chem Alk-Genuss bei jeder Wahlveranstaltung verständlich war. Hier galt der Ap­plaus nicht nur dem allseits beliebten und geachteten Ensemble-Chef, sondern vor allem diesem besonders gelungenen Auftritt, dem er als mit den Nerven fertige Ehefrau in Ein Glas klingt einen zweiten Erfolg, pardon, ein zweites Tor, folgen ließ.
Eine dritte Innovation: Die Verbindung des Gedichts Mutterns Hände mit der auf die Kanzlerin gemünzten Neuschöpfung »Muttis Hände«. Normalerweise vertrete ich bei Neuschreibungen von Tucholsky-Texten den Luther-Standpunkt: »Das Wort, ihr sollt es lassen stahn«. Doch hier muss zugegeben werden, dass das Originalgedicht leicht ins Kitschig-Sentimentale umkippen kann und meiner Ansicht nach nur durch den Gebrauch des Berliner Dialekts gerettet wird. (Empörte Zuschriften nehmen ich gern entgegen, beweisen sie doch, dass ihr diese Rezension tatsächlich bis hierher gelesen habt.) Zweitens finde ich die Parodie, wie Angie ihre männli­chen Konkurrenten in den Sack steckt (wegmerkelt?) so gelungen, dass sie vor den NRW- und Bundestagswahlen ein größeres Publikum verdiente. (Dabei deute ich nur meine sozialdemokratischen Sympathien an: In der Flüchtlingsfrage hat Frau Merkel sich tausendmal christlicher/menschlicher verhalten als die britischen Regierungspolitiker.)
Was sonst noch zu sagen wäre? Die Ensem­ble- bzw. von den Frauen vorgetragenen Stücke gut gelungen, obwohl es schwierig ist, gleichzeitig toll singen, gut tanzen und überzeugende Schauspielerinnen zu sein. (Weil ich in allen drei Disziplinen passen muss, will ich hier nicht als oberschlauer Kritiker gelten.) Die beiden Pianis­tinnen Anna Somogyi und Barbara Grote verdienen großes Lob. Ähnliches gilt meinem Kumpel, dem Moderator mit der Fliege, für seine klugen Überleitungen und Hin­weise auf politisch/menschliche Themen wie die Tausende 2016 im Mit­telmeer er­trunkenen Flüchtlinge sowie die allzu häufigen gegen Ausländer gerichte­ten Brand­anschläge.
Wie seine Witwe Mary oft betont hat, war Kurt Tucholsky nicht nur der beliebte Humorist, sondern auch der engagierte linke Humanist, der Deutschland und Europa noch heute manch guten Rat zu geben hätte. So gesehen, boten das für die »Nie-wieder-Krieg!«-Demonstrationen geschriebene Gedicht Drei Minuten Gehör! und die Anti-Nazi-Satire Rosen auf den Weg gestreut einen besonders gut gewählten Schlusspunkt.

Ian King