Kategorien
Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief April 2018 Rundbriefe

[Rezension] Rüdiger Wolff vertont Tucholsky-Texte

Stationen: Rüdiger Wolff singt Tucholsky„STATIONEN“ – so heißt die CD von Rüdiger Wolff mit 13 neuen Vertonungen von Tucholsky-Gedichten.

Rüdiger Wolff hat den Texten ein abwechslungsreiches musikalisches Gewand gegeben. Das Spektrum reicht von Balladen mit Gitarrenbegleitung über Cou­plets mit Berliner Schnauze bis zu jazzigen saxophondominierten Melodien. Alle Kompositionen passen glänzend zu den Gedichten und lassen durch die ruhigen und melodiösen Vertonungen Text und Melodie zu gleichen Teilen gut zur Geltung kommen. Die heiter-verspielte Melodie zu „Park Monceau“ sowie die klassische Tangomelodie zu Tuchos „Pfau“ ragen heraus. Selten vorgetragene Gedichte wie „Stationen“ oder das kirchen- und gesellschaftskritische „Kirche und Wolkenkratzer“ kombiniert mit Klassikern wie „Der Graben“ aber in neuem musikalischen Gewand machen die CD zu einem wunderbaren, herausragenden Hörerlebnis, auch für Tucholsky-Kenner.

Zu Rüdiger Wolff: Jahrgang 1953, studierter Litera­turwissenschaftler. Dem norddeutschen Fernsehpublikum ist er auch bekannt als Moderator der „Aktuellen Schaubude“ und der Sendung „Wunderschöner Norden“. Seit gut zehn Jahren konzentriert sich Wolff auf Literatur-Vertonun­gen. Er komponiert am Klavier die Melodien zu den Gedichten seiner Lieblings­lyriker. Seit zwei Jahren lebt er mit einer schweren, unheilbaren Muskelerkran­kung.

Robert Färber

 

Kategorien
Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief April 2018 Rundbriefe

Ende eines Provisoriums

Kurt Tucholskys 128. Geburtstag stand am 9. Januar 2018 unter einem besonderen Stern. Hatte doch die nach ihm benannte Bibliothek im Berliner „Prenzelberg“, inzwischen integrierter Be­standteil Pankows, ihre Nutzer und Fans ausgerechnet an diesem Tage freudig dazu eingeladen, nach 10 Jahren Selbstverwaltung die Wiedereingliederung des über 130jährigen Buchtempels in die hauptamtliche fachliche Anleitung und Betreuung des Bezirksamtes zu befeiern. Und der dreigeschossige Altbau in der Esmarchstraße platzte aus allen Nähten – nicht nur wegen der gewichtigen Foli­anten, sondern vor allem wegen der zahlreichen Besucher, deren selbstloses Engagement sich gelohnt hatte oder die einfach ihrem Interesse und ihrer Er­folgsfreude Ausdruck geben wollten.

Aber halten wir ein wenig Rückschau. Als Berlin noch zweigeteilt war, existier­ten bereits zwei Tucholsky-Bibliotheken in der Stadt: eine in des Autors und Satirikers Geburtsgegend Moabit, die andere am Luxemburg-Platz in Berlin-Mit­te. Letztere hatte den Namen des Schriftstellers anlässlich dessen 70. Geburts­tages im Jahre 1960 erhalten. Wie mir Klaus Neumann, im Oktober 2017 wie­der zum Vorstandsmitglied der Tucholsky-Gesellschaft gewählt, am 9. Januar 2018 in der Esmarchstr. berichtete, nahm er auf Einladung des Schriftstellers Walter Victor als Leiter eines Schülerkabaretts – er selbst war damals noch Be­rufsschüler – an der Veranstaltung teil. Er erinnerte sich daran, dass Mary Ge­rold-Tucholsky ebenfalls zugegen war, eine kleine Festrede hielt und das Zere­moniell der Namensverleihung vornahm. Er kam mit ihr anschließend auch ins Gespräch, wobei sie ihre Freude darüber zum Ausdruck brachte, dass Tuchols­kys Texte auch von jungen Leuten in der DDR gepflegt und verbreitet werden.

Beide Bibliotheken bildeten einen wichtigen Anlaufpunkt für Tucholsky-Fans und für Mitglieder der 1988 im Allgäu gegründeten Kurt-Tucholsky-Gesell­schaft, die ihr Freundesnetz in den späteren „alten“ und „neuen“ Bundeslän­dern dadurch noch enger knüpfen konnte. Ich erinnere mich noch gut daran, dass an den Namen Kurt Tucholsky gebundene literarische Veranstaltungen und thematische Diskussionsrunden in den Räumen am Luxemburgplatz stattfan­den, unter anderem mit Roland Links und Wolfgang Hering, und dass wir dort später im Beisein Brigitte Rotherts Ausschnitte aus unseren Tucholsky-Program­men vorstellten.

Dann stellte sich leider heraus, dass die Institution am historischen Platz, der von der Volksbühne, dem Liebknecht-Haus und dem Kino Babylon geradezu symbolisch eingerahmt wurde, aus Sparsamkeits-, Immobilien- und anderen Gründen verschwinden musste. Dagegen setzten sich Tuchos Großcousine Bri­gitte Rothert und die Tucholsky-Gesellschaft zwar energisch, leider aber vergeb­lich zur Wehr. Nun wäre Brigitte aber nicht Stammbaumzweig des Tuchols­ky-Clans gewesen, hätte sie sich damit abgefunden. Sie ging den Kulturpolitikern des Prenzlauer Berges auf den Docht und erreichte die Übertragung des Na­mens auf eine florierende Stadtteil- und Kinderbibliothek im prosperierenden Bötzow-Viertel. Und in dem Lesetempel in der Esmarchstr. fand der Name Tucholsky eine neue Anziehungs- und Begegnungsstätte, die überdies zu Vor­trägen über Literarisches, Verfilmtes und andere Diskussionswürdigkeiten gera­dezu einlud.

In besonderer Erinnerung sind mir Roland Links` Vorträge über den Berliner Arzt und Autor Alfred Döblin, Jochanan Trilse-Finkelsteins vergleichende Analy­sen über das Wirken und die Befindlichkeiten Heines und Tucholskys in Paris, Diskussionen mit den Schöpfern der Rheinsberg- und Gripsholm-Filme sowie Meinungsaustausche mit den Redaktionen der „Weltbühnen“-Nachfolger „Os­sietzky“ und „Das Blättchen“. Unter ihrer erfahrenen Leiterin Frau Bechtle und der energisch-unermüdlichen Tucholsky-Nachfahrin Brigitte Rothert festigte sich der Standort und machte seinem Namensgeber alle Ehre, und es sei auch nicht vergessen, dass die damaligen Vorstände der Tucholsky-Gesellschaft gern das Gastrecht des Hauses für ihre Beratungen in Anspruch nahmen. Soweit, aber leider nicht so gut.

Die fortschreitenden hauptstädtischen Sparzwänge, die Anfang des neuen Jahr­tausends über die Spreestadt hereinbrachen und offensichtlich vorwiegend auf kulturellem Gebiet ausgetragen werden mussten, fuhren unter der Equipe des Finanzsenator Sarrazin erneut ihre Krallen aus und führten zum Auflösungsbe­schluss der Tucholsky-Bibliothek. Da aber hatten die Behörden die Rechnung ohne den Wirt, in diesem Falle ohne die Leser gemacht.

Die Anwohner verbrüderten sich mit ebenfalls von der Raspel bedrohten Ein­richtungen wie dem „Theater unterm Dach“, der „Wabe“ und deren Betreibern, versicherten sich der Solidarität der Tucholsky-Gesellschaft, protestierten auf der Straße, warnten in der Fragestunde der Bezirksverordnetenversammlung vor der kulturellen Kahlrasur und machten der örtlichen Nähe zum fauchenden „Stierbrunnen“ durch ihr Verhalten alle Ehre. Eine besondere Zuspitzung erleb­te der Kampf gegen die Schließung durch die zeitweilige Besetzung der Biblio­thek durch die bisherigen Nutzer. In diesem Zusammenhang kam es auch zur Gründung des Vereins „Pro Kiez e.V.“, der die Einrichtung notfalls übernehmen wollte. Und das anfangs fast aussichtslose Unterfangen bewirkte, dass das Be­zirksamt der kostenlosen Verwendung der Bibliotheksräume durch ehrenamtli­che Betreuer zustimmte und so die Beräumung der Bestände verhinderte. Zehn Jahre lang überlebte die Tucholsky-Bibliothek als Muster mit hohem Wert und kleinem Geld und zur Freude der Anwohner und ihrer heranwachsenden Kinder sowie zur Selbstbestätigung der Gesinnungsfreunde des aufmüpfigen „Welt­bühnen“-Schreibers Kurt Tucholsky. Sie konnten weiterhin seinen Ratschlägen folgen, ihren belletristischen Interessen nachgehen und seinen Warnungen fol­gen, die Lektüre nicht durch Zeitungsaugen zu betrachten.

Erwähnenswert ist auch, dass die Tradition der Literaturveranstaltungen, Lesun­gen und Begegnungen das als „Durststrecke“ befürchtete Dezennium weiterhin begleitete und der Bibliothek neue Interessenten zuführte. Und in den Veran­staltungen kamen sowohl Zeitgenossen des Mannes mit den diversen Deckna­men als auch Schriftsteller und Persönlichkeiten aus dem Kiez zu Wort.

So gradlinig, wie sich das hier liest oder anhört, ging das Unterfangen allerdings nicht über die Bühne. Widerstand nämlich erhob sich aus der eigenen Sippe, fürchteten doch die noch festangestellten Mitarbeiter anderer Bibliotheken, das Beispiel der Esmarchstraße könne übertragen werden und zum Verlust ihrer Jobs führen. Solidarität ist zwar eine gute Sache, sie ist aber schwierig zu reali­sieren, wenn es ums eigene Eingemachte geht. Bereits am Nachmittag hatte Pro-Kiez-Mitglied Christine Kahlau in ihrer Dokumentation „Die kleine Biblio­thek“ auch darüber berichtet und engagierte Zuhörer und Fragesteller gefun­den.

Dass Danilo Vetter, Fachbereichsleiter der Pankower Bibliotheken, und Klaus Lemmnitz vom Vereinsvorstand in ihren Statements gemeinsam den Erfolg 10-jährigen ehrenamtlichen Engagements, 10-jähriger Solidarität und 10-jähriger Suche nach realisierbaren Lösungen hervorhoben, war eine Genugtuung für alle Beteiligten und stärkte letztlich die Erkenntnis, dass auch in fast aussichts­losen Situationen durch Solidarität und Kontinuität Sinnvolles erreicht werden kann.

Nuancenreiche Ausschnitte aus mehreren Tucholsky-Programmen rundeten den Fest- und Geburtstag nach fünf ereignisreiche Sternstunden ab.

Die Tatsache, dass die Tucholsky-Gesellschaft, repräsentiert durch drei Vor­standsmitglieder, einen Ex-Vorsitzenden und einen Ex-Vizevorsitzenden sowie weitere Vereinsmitglieder an der Veranstaltung teilnahm, soll nicht unerwähnt bleiben – und das nicht nur der Vollständigkeit halber.

Wolfgang Helfritsch

Kategorien
Presseschau Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief April 2018 Rundbriefe Tucholsky im Spiegel

Tucholsky im Spiegel [April 2018]

In der Badischen Zeitung vom 20. November 2017 beginnt auf Seite 9 ein Kom­mentar von Thomas Hauser zu Leserbriefen, die er zuvor wegen eines Kom­mentars zu der Ermordung einer jungen Frau in Freiburg durch einen Flüchtling erhalten hat, mit einem Tucholsky-Zitat: „Ereignisse können irren, Zeitungen tun das nie, ätzte der große Satiriker Kurt Tucholsky vor 100 Jahren.“
Der von „Andere Zeiten e. V.“ herausgegebene Kalender 2017/18 zum Thema „Der andere Advent“ enthielt den Hinweis auf einen käuflich zu erwerbenden Magnetstreifen: „FREUNDSCHAFT, DAS IST WIE HEIMAT“ KURT TUCHOLSKY
„Tucholsky und Harfe“ war ein Bericht im Mindener Tageblatt, Nr. 4, vom 5. Ja­nuar 2018, Seite 1, überschrieben, dazu der Untertitel „Außergewöhnliches Konzert in Bad Hopfenberg“.
Ein stimmungsvolles Programm unter dem Motto „Harfenmusik und Textvorträ­ge“ gestaltete Gertraude Büttner aus Dipenau-Essern im Kursportsaal von Bad Hopfenberg.
Mit Harfenklängen aus der Renaissance (…) und dem Barock (…) bis hin zu in­ternationaler Folkmusik (…) war für jeden Geschmack des Publikums im gut be­suchten Kursportsaal etwas dabei.(…) Zur Auflockerung zwischen der Musik trug Gertraude Büttner heitere und ernste Texte von Rainer Maria Rilke (…), Erich Kästner (…) und Kurt Tucholsky („Park Monceau“) vor.“
Matthias Biskupek erinnert in der Zweiwochenschrift Ossietzky“, Heft 2, 27. Ja­nuar 2018, auf Seite 60ff. an den 70. Todestag von Karl Valentin, der im Februar 1948 just zu Rosenmontag in München verstorben ist.
„Er starb am Tag, da die närrische west- und süddeutsche Welt sich nicht zu las­sen weiß vor Spaß, am Rosenmontag. Schuld war die Erkältung(…).
Er hatte sich aber auch jene Krankheit zugezogen, die viele Satiriker und Humo­risten gegen Lebensende trifft, heißen sie nun Jonathan Swift oder Walter Meh­ring, Kurt Tucholsky oder Wilhelm Busch. Die Krankheit hat den Namen Resi­gnation.“
In derselben Ausgabe ist in der regelmäßigen Rubrik B e m e r k u n g e n unter der Überschrift Geklopfte Sprüche zu lesen:
„Von Kurt Tucholsky ist der Spruch überliefert: „Die Frauen haben es ja von Zeit
zu Zeit auch nicht leicht, wir Männer aber müssen uns rasieren.“ Das klingt, als ob der Mann geglaubt hat es gebe nur zwei Geschlechter.“ Günter Krone
In der Süddeutschen Zeitung findet sich regelmäßig auf Seite 4 eine Rubrik AK­TUELLES LEXIKON, in der Ausgabe vom 7. Februar 2018 zum Stichwort Pusteku­chen:
„Vorhersagen zur Bundespolitik sollte man sich in diesen Zeiten ja eigentlich
verkneifen. Unbeeindruckt davon zeigt sich der SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Kelber. Zu den Anträgen, die beim Bundesverfassungsgericht gegen den SPD-Mitgliederentscheid über eine Koalition vorlagen, twitterte er: „Vorhersage Pustekuchen.“ Das lässt an eine Satire von Kurt Tucholsky denken, der einer Katze Fischköpfe herbeisehnt: „Son richtichen Kopp von nem Zanderchen – Pus­tekuchen!“
Dem Duden zufolge steht dieser Ausdruck umgangssprachlich für: „Das Gegen­teil, von dem, was man sich vorgestellt oder gewünscht hat, ist eingetreten.“
Ingrid Zwerenz bespricht in Ossietzky, Heft 3, 10. Februar 2018, S. 92f., die Au­tobiographie von Gregor Gysi und schreibt dazu u. a.:
„Während viele Zeitgenossen auf der Suche nach künstlichen oder außerirdi­schen Intelligenzen sind, schaut man besser nach bei Gregor Gysi, ein ähnlicher Charakter und Typ wie Kurt Tucholsky, beide tüchtige Juristen, sprachmächtig, geborene jüdische Berliner, ausgestattet mit unnachahmlicher Ironie, kongru­entem Witz und hochtourigem Humor. Differenzen sehe ich bei ihrem Urteil über Frauen, da hat Tucho mal einen Fehlgriff getan, als er formulierte: „Die Menschheit zerfällt in zwei Teile, einen männlichen der denken will, und einen weiblichen, der nicht denken kann.“ Hier bleibt einem etwas die Luft weg, und es tröstet auch nicht, dass er an anderer Stelle schrieb: „Es gibt keinen Erfolg ohne Frauen.“
In einer Buchbesprechung von Eva Berger in der tageszeitung, Wochenendaus­gabe vom 10./11. Februar 2018, S. 15 (politisches Buch) taucht unser Namens­geber bereits im Untertitel auf: „Ein Berserker gegen Hitler, Weggefährte von Kurt Tucholsky und Joseph Roth: Mit der Schrift „Deutschland ist Caliban“ ist der große Polemiker Walther Rode wiederzuentdecken.“
Im Text heißt es dann weiter:
„Eine der ersten Streitschriften gegen Hitler und den Nationalsozialismus ist wiederzuentdecken: Walther Rodes „Deutschland ist Caliban“: (…) Walther Rode (geborener Rosenzweig) steht in einer Geistesreihe mit dem berühmten Literaten und Feuilletonisten der Zwischenkriegszeit von Kurt Tucholsky bis Joseph Roth und ist doch ein großer Unbekannter geblieben. (…)
Er schrieb es 1933 „zum Zeitvertreib“, während er darauf wartete (resignierend), dass Hitler „der Schlag trifft“.
Als gern gesehener Gast verkehrt er auch in Künstlerkreisen, in deren Mitte im
August 1934 zu früh und überraschend sein Herz aussetzt. Er ist 58 Jahre alt. Zu
diesem Zeitpunkt sind seine Schriften in vorauseilendem faschistischen Gehor­sam längst auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ein Jahr später begeht Tucholsky in Schweden Suizid, und Joseph Roth trinkt sich 1939 in Paris zu Tode. Keine Brüder im Geiste mehr da also, die an ihn hätten erinnern können. Die Nazis haben ganze deutsche Arbeit geleistet.“
In der Ausgabe des Ossietzky vom 24. Februar 2018, Heft 4, S. 116ff., befasst sich Christophe Zerpka unter dem Titel Solferino mit dem politischen Nieder­gang sowohl der französischen Sozialisten als auch Kommunisten und führt u. a. aus:
„Doch das links Blinken, rechts Abbiegen hat Tradition. Schon in der Weimarer
Republik lieferte Kurt Tucholsky diese hochaktuelle Beschreibung: „Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt: Hieße sie seit dem 1. August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleineren Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas. Vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahin gegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Ge­schäfte unter einem ehemals guten Namen.“
Die „taz-Berlin“ nahm den 80. Geburtstag von Klaus Staeck, studierter Jurist und bekannt geworden durch seine politischen Plakate und Postkarten, inzwi­schen mehr als 380, zum Anlass, ein Interview zu führen. Überschrift: „David hat eine reale Chance gegen Goliath.“ Auf die Frage von Pascal Beuker „Gibt es für Sie Grenzen der Satire?“ antwortete Klaus Staeck:
„Satire bleibt immer eine Gratwanderung. Aber ich kannte für mich immer die Grenzen, bis zu denen ich gehen konnte und wollte. Tucholskys Diktum „Satire darf alles“ habe ich deswegen stets noch zwei Worte hinzugefügt: „in Verant­wortung. Das ist mir wichtig.“ (taz, 27.02.18, S. 4f.)

Wie immer können alle vollständigen Texte bei der Geschäftsstelle abgerufen werden.

Bernd Brüntrup, mit Dank an Gerhard Stöcklin.

Kategorien
Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik Pressemitteilung

[Pressemitteilung] Kurt Tucholsky-Preis: Neue Jury berufen

Die neue Jury für den mit 5.000 Euro dotierten Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik steht fest. Der Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft hat folgende Publizist_innen, Wissenschaftler_innen und Literaturexpert_innen in die Jury berufen:

Doris Akrap (c) Doris Akrap
(c) Doris Akrap

Doris Akrap, geboren 1974 in Flörsheim am Main. Sie lebt in Berlin und arbeitet seit 2008 als Redakteurin und Kolumnistin der taz. Zuvor war sie Redakteurin der Jungle World und der B.Z. und studierte Religionswissenschaft, Kulturwissenschaft und Südosteuropäische Geschichte in Berlin. Sie ist Mitgründerin der antirassistischen Leseshow Hate Poetry, für die sie gemeinsam mit den Journalisten Deniz Yücel, Mely Kiyak, Yassin Musharbash und anderen den Preis „Journalisten des Jahres 2014“ erhielt. Diese Auszeichnung erhält sie auch 2018 gemeinsam mit anderen für ihren Einsatz als Mitgründerin des Freundeskreises #FreeDeniz, der Kampagne, die sich seit der Festnahme des Welt-Korrespondenten und Kurt-Tucholsky-Preisträgers Deniz Yücel für dessen Freilassung einsetzte. Sie ist Herausgeberin seines im Februar 2018 erschienenen Buchs »Wir sind ja nicht zum Spaß hier. Reportagen, Satiren und andere Gebrauchstexte«. Außerdem moderiert sie literarische und politische Veranstaltungen und ist Autorin für diverse andere Publikationen.
(c) by Victoria Tomaschko

 
Zoë Beck ist Schriftstellerin, Übersetzerin, Verlegerin bei Culturbooks und Synchronregisseurin.
Sie studierte englische und deutsche Literatur, arbeitete am Theater, für Zeitungen und Radiosender und beim Film. Geboren wurde sie 1975, seitdem wechselte sie mehrfach Wohnort und Staat, jetzt lebt sie in Berlin.
 
 
(c) Ulrich Janetzki

Dr. Ulrich Janetzki, geb. 1948 in Selm/Westfalen. Promotion über Konrad Bayer. Fünf Jahre Assistent bei Walter Höllerer.
Er war 27 Jahre Geschäftsleiter des Literarischen Colloquiums Berlin bis 2014. Verheiratet, zwei Kinder, zwei Enkel. Mitglied des PEN, Grimme Preisträger. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt (gemeinsam mit Th. Bock u. W. Ihrig) »Ick kieke, staune, wundre mir. Berlinerische Gedichte von 1830 bis heute.« Berlin 2017.
 
(c) Klaas Posselt

Nikola Richter, geboren 1976 in Bremen, ist Verlegerin und Autorin und lebt in Berlin. In ihrem Verlag mikrotext publiziert sie zeitgenössische, grenz- und genreüberschreitende Literatur zu aktuellen Themen, etwa von Stefanie Sargnagel, Käthe Kruse, Heike Geißler oder neuen arabischen AutorInnen. Für ihre Tätigkeit als Verlegerin wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet. Sie ist Mitglied im PEN Deutschland. Als Autorin veröffentlichte sie bisher den dokumentarischen Roman »Die Lebenspraktikanten« (S. Fischer), die Kurzgeschichten »Schluss machen auf einer Insel« (Berlin Verlag/Piper) und drei Lyrikbände, einen auf Falschspanisch. www.mikrotext.de
(c) Stuart Parkes

Prof. Dr. Stuart Parkes wurde 1943 im nordenglischen Bradford geboren. Er studierte Germanistik und Romanistik an der Universitiät Oxford. 1971 promovierte er mit einer Arbeit über Martin Walser. Er arbeitete an Hochschulen in Münster, Birmingham, Sheffield und Sunderland und ist jetzt emeritierter Germanistikprofessor der Universität Sunderland. Er hat vor allem über die Literatur und Politik der Bundesrepublik gearbeitet und hat drei Bücher zu diesem Thema geschrieben. Er ist auch Mitherausgeber mehrerer Bände über die moderne deutsche Literatur. In letzter Zeit hat er über die Gruppe 47 und das politische Engagement ihrer Mitglieder geschrieben. Zur Zeit arbeitet er über die Einstellungen deutschsprachiger Schriftsteller zu Europa. Er ist Jurymitglied für den Kurt-Tucholsky-Preis seit 2013.
Die unabhängig agierende Jury wird mit der Vergabe für den Kurt Tucholsky Preis 2019 ihre Arbeit aufnehmen und 5 Jahre amtieren. . Die Ausschreibung für den Preis erfolgt nach der diesjährigen Tagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft in Leipzig.
Wir danken den Juror_innen für Ihre Bereitschaft, sich dieser verantwortungsvollen Arbeit zu stellen und freuen uns auf ihre künftigen Entscheidungen.
Weitere Informationen:
Der Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik:
Aus Anlass des 60. Todestages von Kurt Tucholsky wurde 1995 der Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik gestiftet. Alle zwei Jahre werden mit ihm engagierte deutschsprachige Publizisten oder Journalisten ausgezeichnet, die der »kleinen Form« wie Essay, Satire, Song, Groteske, Traktat oder Pamphlet verpflichtet sind und sich in ihren Texten konkret auf zeitgeschichtlich-politische Vorgänge beziehen.
Ihre Texte sollen im Sinne Tucholskys der Realitätsprüfung dienen, Hintergründe aufdecken und dem Leser bei einer kritischen Urteilsfindung helfen.
Die Auswahl der Preisträger erfolgt durch eine fünfköpfige Jury; das Preisgeld beträgt seit dem Jahr 2015 5.000 € (bis 2013: 3.000 €).
Die bisherigen Tucholsky-Preisträger sind: Der Journalist Sönke Iwersen, der Heine-Forscher und Theaterkritiker Jochanan Trilse-Finkelstein, der Journalist Mario Kaiser, der Journalist Deniz Yücel, der Journalist und Literaturkritiker Volker Weidermann, der Schriftsteller und Satiriker Lothar Kusche, der Journalist und Publizist Otto Köhler, der Journalist und Schriftsteller Erich Kuby, der Journalist Wolfgang Büscher, der Autor und Hochschullehrer Harry Pross, die Schriftstellerin und Journalistin Daniela Dahn, Schweizer Schriftsteller Kurt Marti, der Journalist Heribert Prantl und der Liedermacher Konstantin Wecker.
 
Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft:
Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft wurde 1988 gegründet, um dem facettenreichen »Phänomen Tucholsky« nachzuspüren. Sie will als literarische Vereinigung die Beschäftigung mit Leben und Werk Kurt Tucholskys pflegen und fördern und hat ihren Sitz in Tucholskys Geburtsstadt Berlin. Als Publikationsorgan der Kurt Tucholsky-Gesellschaft erscheint dreimal im Jahr ein Rundbrief. Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft gibt zudem eine eigene Schriftenreihe heraus, in der vorrangig die Dokumentationen der von ihr organisierten wissenschaftlichen Tagungen erscheinen. Den jährlichen Höhepunkt der Vereinstätigkeit bilden Tagungen mit wissenschaftlichen Kolloquien, Vorträgen, Exkursionen und kulturellen Veranstaltungen. Aller zwei Jahre vergibt sie den Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik.
Die nächste Tagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft findet vom 12. bis 14. Oktober 2018 in Leipzig unter dem Thema »Dürfen darf man alles« statt. Das aktuelle Tagungsprogramm ist auf der Website einzusehen. Dort besteht auch die Möglichkeit, sich anzumelden.
Diese Pressemitteilung als pdf herunterladen.

Kategorien
Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik

Zur Freilassung von Deniz Yücel

Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft freut sich, dass Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der Zeitung DIE WELT, von einem Gericht in Istanbul auf freien Fuß gesetzt wurde und zu seiner Familie, seinem Freunden- und Kollegenkreis nach Berlin zurückkehren durfte. Wir freuen uns, weil Deniz kein Terrorist ist – wie vom türkischen Präsidenten vorschnell behauptet – sondern Journalist. Wer den Unterschied nicht wahrhaben will, richtet sich selbst. Wir freuen uns nicht zuletzt, weil Deniz freigekommen ist, ohne Kompromisse und trotz alledem mit einem guten Schuss Humor gesegnet. Gerade diese Eigenschaften, in Verbindung mit einem funkelnd-witzigen Schreibstil, überzeugten 2011 eine Jury, Deniz den Kurt-Tucholsky-Preis zu verleihen. In der Haft ist er sich selbst und unserem Vorbild Tucholsky treu geblieben.
Andere Tatsachen dürfen jedoch nicht vergessen werden. Deniz wurde mehr als ein Jahr lang als unschuldige Geisel festgehalten. Auch jetzt arbeiten dort Staatsanwälte an Prozessvorbereitungen, fordern für Deniz 18 Jahre Haft. Am  Tag seiner Befreiung bekamen drei andere Journalisten – die Brüder Ahmet und Mehmet Altan sowie Nazli Ilicak – wegen angeblicher Unterstützung des gescheiterten Putschversuchs vom Juli 2016 von einem anderen Istanbuler Gericht lebenslängliche Haftstrafen. Damit erwarten sie vierzig Jahre hinter Gittern.
In den 1930er Jahren war die Türkei unter Kemal Atatürk ein Zufluchtsort für politisch oder religiös  Verfolgte aus Deutschland, wie der spätere Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Ernst Reuter und seine Familie. Auf solche rechtsstaatliche und gastfreundliche Traditionen konnte das Land jahrelang stolz sein. In den letzten Jahren hat das türkische Regime dieser aufgeklärten Vergangenheit anscheinend den Rücken gekehrt. Aber für eine Wende zur Einsicht ist es nie zu spät. So darf die Entlassung von Deniz kein einzelner Schritt bleiben. Andere Inhaftierte  – auch solche ohne deutschen Pass – sollten ebenfalls freikommen.

Im Namen des Vorstandes der Kurt Tucholsky-Gesellschaft
Dr. Ian King, 1. Vorsitzender

Kategorien
Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief Dezember 2017 Rundbriefe

Rundbrief Dezember 2017

Liebe Mitglieder und Freunde der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
der neue Rundbrief Dezember 2017 ist erschienen. Sie können ihn (ohne Vereinsinterna) als pdf herunterladen [ca 3 MB].
Ausgewählte Beiträge sind zudem direkt als Einträge im Blog zu lesen:
[Presseschau] Tucholsky im Spiegel
[Rede] Laudatio für Sönke Iwersen
[Rede] Dankesrede von Sönke Iwersen
[Nachruf] Abschied von Beate Schmeichel-Falkenberg
[Nachruf] In Gedenken an Irmgard Ackermann
[Artikel] In Amerika entdeckt: Kabinettfoto von Berta und Flora Tucholsky
[Originaltext] Großstadt-Weihnachten

Kategorien
Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief Dezember 2017 Rundbriefe

In Amerika entdeckt: Kabinettfoto von Berta und Flora Tucholsky


»Ich hatte sie sehr gern – sie waren so grundanständig« (Kurt Tucholsky über seine Tanten)1
Das Kabinettfoto, das Kurt Tucholskys Tanten Berta (rechts im Bild) (geboren am 8. Juni 1856 in Greifswald) und Flora (geboren am 14. September 1864 in Greifswald), die Schwestern seines Vaters Alex, zeigt, wurde um 1895 in Stanis­lawow/Ost-Galizien (damals Österreich-Ungarn) im Fotostudio Leo Rosenbach aufgenommen. Das Foto gelangte nun über 120 Jahre später auf abenteuerli­che Weise von Amerika nach Deutschland.

Verkauft wurde es 2016 auf einem amerikanischen Flohmarkt in Saint Louis im Bundesstaat Mis­souri. Die Käuferin bot das Foto zum Wiederverkauf im Inter­net an, woraufhin es die Autorin entdeckte, einen moderaten Preis dafür zahlte und das schöne und sehr seltene Kabinettfoto schließlich ca. zwei Wochen spä­ter in den Händen hielt. Die Freude war groß, als sie erkannte, um wen es sich auf dem Foto handelte.

Klar erkennbar sind die Namen der beiden Schwestern, erahnen kann man weiter noch: »Schwestern von Alex Tucholsky«. Gut möglich, dass sich die bis zu ihrem Tod unver­heirateten Tanten Tucholskys längere Zeit dort bei Verwand­ten aufhielten. »Frau Flora Tucholsky, Sta­nis­lau« konnte man z.B. im selben Jahr auf einer Liste (Jg. 4 (1895) Nr. 10, S. 381–383) der Öster­­rei­chi­schen Gesell­schaft der Friedens­freunde lesen. Die Lehrerin Flora Tucholsky hatte zwei Kro­nen als Mitgliedsbeitrag oder Spende bezahlt. Am Untertitel Die Waffen nie­der! lässt sich eine gewisse Geistes­verwandtschaft zu Kurt erkennen, der später ein­mal »Soldaten sind Mör­der« schreiben sollte. Dass es in Stanislawow (bzw. Sta­nislau) eine Familie Tu­chols­ky gegeben haben muss, beweist auch der Eintrag im Pester Lloyd vom 15.7.1891 auf S. 6. Damals stieg dort – laut »Frem­den­liste des ›Grand Hotel Hungaria‹« in Budapest – »F. Tu­cholsky s.[amt] Töchter, Sta­nislau« ab. Die genaue Identität dieser Familie konnte derzeit nicht ermittelt werden und muss an dieser Stelle zunächst offen bleiben.

Im Jahr 1899 ließ sich Berta in Wien in der Lutherischen Stadtkirche taufen. Ihre genauen Lebensstationen können dort nicht vollständig rekonstruiert werden, weil die hi­sto­ri­schen Wiener Meldeunterlagen lückenhaft sind. Um diese Zeit wohnte sie im Leh­re­rinnenheim der Stadt in der Wipplingerstraße 8. Unter die­ser Adresse hatte sie ein Jahr zuvor einen Brief an Samuel L. Clemens in Ameri­ka geschrieben2. Dahinter ver­barg sich der von Berta hoch verehrte Schriftstel­ler Mark Twain, dessen Werke sie gerne ins Deutsche übersetzt hätte.

Das Kabinettfoto dient auch als Beweis, dass schon früh ein Kontakt zwischen den preußischen Tucholskys und ihrer amerikanischen Verwandtschaft in Saint Louis bestand, einer Verwandtschaft, die vereinzelt aus der Kurt Tucholsky-Ge­samtausgabe hervorgeht.

Mitte des 19. Jahrhunderts war der preußische Lehrer Neumann Tucholsky mit seiner Ehefrau Johanna geb. Arnfeld und den gemeinsamen fünf Kindern nach Amerika ausgewandert und hatte sich in Saint Louis nieder­ge­lassen, wo er vier Jahre nach seiner Einbürgerung (die Einbürge­rungsurkunde datiert vom 19. April 1886) im Jahr 1890 verstarb

Seine Enkelin, Rose Tuholske, hatte Kontakt zu Kurt Tucholsky, was durch Briefe in der Tucholsky-Gesamtausgabe be­legt ist. Kurts Bruder Fritz half sie mit einem affidavit (einer Art Bürgschafts­erklärung von Verwandten oder Freunden wäh­rend der NS-Zeit, damit Verfolgte aus Deutschland in die USA einreisen konn­ten), schnell in Amerika unterzukommen, weil die Situation in Deutschland für ihn immer bedrohlicher wurde. Seines Amtes bei der Berliner Stadtverwaltung enthoben, gelang ihm über Prag die Flucht nach Amerika, wo er jedoch bereits 1936 bei einem Autounfall ums Leben kam.

Im Jahr 1899 kam es zu der einzigen persönlichen Begegnung zwischen Rose und dem damals neunjährigen Kurt, als ihr Vater sie auf einer längeren Euro­pareise mitnahm, die sie auch nach Berlin führte.

»Und Sie wollen mich nicht heiraten? Sie bleiben dabei3

Wie ihre Cousine Doris Tucholski, der Mutter Kurts, wird Berta ihre Lehrerin­nen-Ausbildung am Königlichen Lehrerinnen-Seminar in Berlin absolviert ha­ben. Ihren Lebens­­unterhalt verdiente sie sich als Erzieherin und Leh­rerin, gele­gentlich aber auch als Schrift­stellerin und Über­setzerin.

So veröffentlichte sie z.B. einige Feuille­ton­­­­­artikel im Pester Lloyd. Ihre gelungene Übersetzung des englischsprachigen Romans Jane Eyre erschien 1927. Die nordenglische Pfarrerstochter Charlotte Brontё hatte ihn im Jahr 1847 unter dem Pseudonym Currer Bell veröffentlicht, wohl in der voraus­­schauenden Angst vor Ablehnung des Romans aufgrund ihres Geschlechts. Es sollte noch eine lange Zeit ver­gehen, bevor auch weibliche Autoren in der Gesellschaft ak­zeptiert werden würden, eine Erfahrung, die Berta vermutlich als alleinstehen­de Frau auch nicht unbekannt war.

Kurt mochte seine Tante Berta sehr, das unsichtbare Familienband zwischen ih­nen war sehr eng. Als Tu­cholsky sich 1928 wegen eines Zahn­ge­schwürs operie­ren lassen musste und sich vorübergehend deformiert so auf keinen Fall der Öf­fentlichkeit prä­sentieren wollte, hatte er nur Tante Berta eingeweiht:

Ich sage überall, daß ich »bei Ver­wand­t­en« wohne, ohne Telefon, u. der Tante Berta habe ich gesagt, was los ist. Adresse gibt’s nicht. Kopf ist noch dick.4

An Berta war auch bereits 1908 die berühmte Widmung auf der Rückseite mit dem Foto Tucholskys gerichtet, in der er ihr ohne Scheu anvertraute:

Außen jüdisch und genialisch, innen etwas unmora­lisch, nie alleine, stets à deux: – der neveu!

Berta kehrte später wieder nach Berlin zurück. Die Tatsache, dass sie sich Jahre vorher in Wien hatte evangelisch taufen lassen, war keine Garantie dafür, dass sie den national­sozialistischen Schikanen entgehen konnte. Von der »Judenver­mögensabgabe« wurde sie nicht befreit, 1938 musste sie daher »auf Grund der Durch­führungsverordnung über die Sühneleistung der Juden vom 21. Novem­ber 1938 (Reichsgesetzblatt I S. 1638)« die für sie festgelegte Abgabe von 1.400 Reichs­mark zahlen, was »20 von hundert des angemeldeten Vermögen« ent­sprach. Ab­zuleisten war die Zahlung in Teilbeträgen von 350 Reichsmark. Bei nicht rechtzeitiger Zah­lung drohte ein Säumniszuschlag von zwei von hundert des rückständigen Be­trages. Bei nicht erfolgter Zahlung erfolgte die Zwangsvoll­streckung5.

Berta Tucholsky wurde am 29.8.1942 in The­re­sien­stadt ermordet, sie wurde 83 Jahre alt. Als Todesursache nannte ihre Todesfallanzeige: »Erschöpfung der Herz­kraft«. Ihr Name ist auf dem Grabstein ihrer Schwester Flora, die bereits am 20. Au­gust 1929 in Berlin gestorben war, auf dem jüdischen Friedhof Wei­ßensee in Berlin verewigt (Feld A 7).

Bettina Müller

Die Autorin steht kurz vor der Vollendung eines 35seitigen Aufsatzes mit weiteren neuen Erkennt­nissen über die Familie Tucholsky, u.a. über ihre ame­ri­kanische Verwandtschaft (Veröffentlichungs­ort und -termin stehen noch nicht fest); Kontakt: b-mueller-koeln@t-online.de)

1 Bemmann, Helga: Kurt Tucholsky. Ein Lebensbild. Berlin 1990. S. 55.

2 vgl. Brief Berta Tucholsky an Mark Twain (Samuel L. Clemens) v. 2.3.1898, Wien, in: Mark Twain Project and papers, University of Berkeley, California, Signatur UCLC 46196
3 Currer Bell (= Charlotte Brontё): Jane Eyre. 1927, S. 335
4 aus einem Brief an seine zweite Ehefrau Mary Tucholsky, Berlin, v. 18.1.1928, in: Kurt Tucholsky Ge­samt­ausgabe 19, S. 9
5 vgl. Bescheid über die Juden­­vermögensabgabe v. 6.12.1938 an Berta Tucholsky, Berlin, in: Akademie der Künste, Literaturarchiv, Tucholsky 197; 03 Per­sönliche Do­kumente
Anmerkung: Eine leicht veränderte Version dieses Beitrags erschien am 28. Dezember 2017 im Neuen Deutschland.

Kategorien
Allgemein Presseschau Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief Dezember 2017 Rundbriefe Tucholsky im Spiegel

Tucholsky im Spiegel [Dezember 2017]

Die Presseschau erscheint dieses Mal sogar mit Preisrätsel.
Ulrich Sander, Journalist, Buchautor und Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), fährt jeden Montag nach Wuppertal, um im Landesbüro der VVN-BdA nach dem Rechten zu sehen. In Ossietzky, Heft 16/2017, berichtet er in der Ausgabe vom 26. August 2017, S. 561ff., über eine Begegnung mit einem erblindeten Menschen am 19. Januar 2015 auf eben diesem Weg, die bei ihm zu verschiedensten Assoziatio­nen zum Wort »Blindsein« führt.
Sein Artikel beginnt wie folgt:

Augen in der Großstadt ist eines der schönsten Gedichte, die ich kenne. Es ist ein Gedicht von Kurt Tucholsky. Es heißt darin:

Du musst auf deinem Gang

durch Städte wandern;

siehst einen Pulsschlag lang

den fremden Andern.

Es kann ein Feind sein,

es kann ein Freund sein,

es kann im Kampfe dein

Genosse sein…

Es sieht hinüber

und zieht vorbei…

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

die Braue, Pupillen, die Lider;

was da war?

Von der großen Menschheit ein Stück!

Vorbei, verweht, nie wieder.1

In der gleichen ossietzky-Ausgabe, diesmal Seite 579, sinniert Matthias Biskupek ironisch-satirisch über die Bedeutung bzw. Notwendigkeit von »Schnipseln«, mal auch »Aphorismen« oder sogar »geistreiche Sinnsprüche«. Natürlich darf bei so einer Betrachtung ein Hinweis auf den »größten Schnipsler aller Zeiten« (diese Bewertung stammt von dem Unterzeichner) – unseren Na­mensgeber – nicht fehlen.
Biskupek kriegt die entsprechende Kurve wie folgt:

Wir könnten an dieser Stelle den Text bis auf höchste Zinnen, also über alle Sinne Treiben, wollen aber doch nun endlich die Produktionsmethode von Aphorismen verraten. Man suche einen Text wie diesen und entnehme daraus folgendeAphorismen:

1. Auch Schnipsel können eine Seite füllen.

2. Langweilig ist noch nicht ernsthaft.

3. Auch geistreiche Sprüche benötigen ein Portal.

4. Wenn einer nichts gelernt hat, dann organisiert er. Wenn einer aber gar nichts gelernt und nichts zu tun hat, dann macht er Propaganda.

5. »Twittern« ist nur für Menschen mit abnehmendem Verstand

6. Wer lobt, wird selten nach seiner Aktivlegitimation gefragt.

7. Wer nicht gern nimmt, kann uns gern haben.

8. Erwarte nichts. Heute: das ist dein Leben.

9. Humor ruht oft in der Veranlagung von Menschen, die kalt bleiben, wo die Masse tobt, und die dort erregt sind, wo die meisten nichts dabei fin­den.

10. Er war eitel darauf, nicht eitel zu sein.

11. Er trug sein Herz in der Hand und ruhte nicht eher, bis sie ihm aus der Hand fraß.

12. Wann macht man aus der Gleichberechtigung endlich eine Gleichbe­richtigung?

Sie Sehen, wir haben im Nu ein Dutzend Aphorismen bei der Hand. Gewiss, die Nummern (…)* stammen von Kurt Tucholsky und wurden als Schnipsel in der Weltbühne 1931 und 1932 gedruckt.

*Nun das Preisrätsel.
Zuerst das Rätsel: Welche der obigen Aphorismen stammen von unserem Na­mensgeber?
Jetzt der Preis: Eine Essenseinladung mit Getränken bei dem Unterzeichner in Minden ohne Übernahme der Fahrt- und eventuellen Übernachtungskosten. Werden zusätzlich noch die Fundstellen richtig angegeben, gilt die Einladung zu den gleichen Konditionen auch für eine Begleitperson. Einsendeschluss ist der 6. Januar 2018, 24:00 Uhr.
Entscheidend ist im Zweifels­falle der Poststempel, aber nur falls eine #FreeDeniz-Briefmarke benutzt wird.
Bei mehreren richtigen Einsendungen hat allein der Unterzeichner ein Wahl­recht, mit wem er am liebsten dinieren möchte.
In der taz vom 4. November 2017 bespricht der Autor Helmut Höge ein Buch von Cat Warren, erschienen im Kynos-Verlag 2017: Der Geruch des Todes. Ein­sätze eines Leichenspürhundes unter der Überschrift: Drogen, Bomben, Leichen. Weil unser Geruchssinn verkümmert ist, trainie­ren wir Leichenspürhunde. Aber auch Bienen und Schimpansen haben eine feine Nase.

Und wie nicht anders zu erwarten, muss bei einem Buch über Hunde auch der spezielle »Hundefreund« Kurt Tucholsky zu Wort kommen.

Der englische Soldat Hugh Loftin verfasste 1917 – umgeben von toten Tie­ren und Menschen auf dem Schlachtfeld – ein Kinderbuch, das berühmt wurde: »Dr. Dolittle und seine Tiere«. Kurt Tucholsky schrieb: »Es kommt darin Jip, der Hund von Dr. Dolittle, vor, der sehr gut riechen kann. Einmal lag er auf dem Deck eines Schiffes und witterte, wo der verlorene Onkel wohl sein könnte (es war da ein Onkel verloren gegangen). Er stellte sich hin, zog die Luft ein und analysierte. Dabei murmelte er:Teer, spanische Zwiebeln, Petroleum, nasse Regenmäntel, zerquetschte Lorbeerblätter, brennender Gummi, Spitzengardinen, die gewaschen – nein, ich irre mich, Spitzengardinen, die zum Trocknen aufgehängt worden sind, und Füchse – zu Hunderten – junge Füchse – und Ziegelsteine‹, flüsterte er ganz leise, ›alte gelbe Ziegel, die vor Alter in einer Gartenmauer zerbröckeln; der süße Geruch von jungen Kühen, die in einem Gebirgsbach stehen; das Blei­dach eines Taubenschlags – oder vielleicht eines Kornbodens – mit darauf­liegender Mittagssonne, schwarze Glacéhandschuhe in einer Schreibtisch­schublade aus Walnussholz; eine staubige Straße mit Trögen unter Plata­nen zum Pferdetränken; kleine Pilze, die durch verfaultes Laub hindurch­brechen‹, und – und – und. Das ist nicht gemacht – das ist gefühlt«2, freu­te sich Tucholsky.

Bernd Brüntrup, mit Dank an Philipp Müller. Wie immer können alle vollständigen Texte bei der Geschäftsstelle abgerufen werden.

1 Theobald Tiger, AIZ (1930), Nr. 11; GA, Bd. 13, S. 97f.
2Peter Panter, Voss 10.12.1925; GA, Bd. 7, S. 540ff, 543

Kategorien
Originaltexte Tucholsky: Zum Werk

Kurt Tucholsky: Großstadt-Weihnachten

Großstadt – Weihnachten

Nun senkt sich wieder auf die heim’schen Fluren
die Weihenacht! die Weihenacht!
Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,
wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.
 
Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?
Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.
Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,
den Aschenbecher aus Emalch glasé.
 
Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen
auf einen stillen heiligen Grammophon.
Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen
den Schlips, die Puppe und das Lexikohn,
 
Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
»Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!«
 
Und frohgelaunt spricht er vom ›Weihnachtswetter‹,
mag es nun regnen oder mag es schnein,
Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,
die trächtig sind von süßen Plauderein.
 
So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden
in dieser Residenz Christkindleins Flug?
Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden …
»Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.«

 
 

Theobald Tiger in: Die Schaubühne, 25.12.1913, Nr. 52, S. 1293.

Kategorien
Jahrestagung 2017 Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik Tagungen

Dankesrede von Sönke Iwersen

Meine Damen und Herren,
Liebe Mitglieder der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
Verehrte Jury,
ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, hier vor Ihnen zu stehen. Kurt Tucholsky! Literarische Publizistik! Und mittendrin ich. Und dann diese Vorrede! Thomas, vielen Dank!
Lassen Sie mich Ihnen gleich zu Beginn beichten, wie aufregend diese Sache für mich ist.
Die erste Nachricht vom Kurt Tucholsky-Preis erreicht mich vor sechs Wochen. Ich saß in der Straßenbahn in Düsseldorf, neben mir mein Sohn, von Kopf bis Fuß in Bayern-Rot gekleidet. Wir kamen gerade von seinem Fußball-Training. Ich las die E-Mail von Ihrem Vorstand Steffen Ille, dann stiegen wir um.
Und fuhren in die falsche Richtung. Der erste, der das merkte, war nicht ich. Meine Frau rief an, und fragte mich, wo wir bleiben. So schnell kommt man als Preisträger zurück auf den Boden der Tatsachen.
Natürlich habe ich mich in Vorbereitung auf diesen Tag gefragt, wie es mich hierher verschlagen konnte. Ich entstamme keiner Literatenfamilie. Meine Mutter war einmal Kinderkrankenschwester, mein Vater Maler. Keine Leinwände, Raufasertapeten. Nun wollte ich zwar nicht Handwerker werden. Aber bis mich Mitte 20 die Geldnot dazu trieb, einen Artikel zu schreiben, hatte ich an den Beruf Journalist auch keinen Gedanken verschwendet.
Dabei hatte ich alle Gelegenheit dazu. Es war der 9. November 1989. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Ein historisches Datum. Aber für mich war dieser Tag damals einfach Donnerstag. Der Tag in der Woche, an dem mein Judo-Training bis 22:00 Uhr dauerte. Ich duschte, fuhr zurück mit der S21 aus Hamburg-Stellingen nach Hamburg-Altona.
Zwei Stunden zuvor hatte die Tagesschau berichtet, die DDR habe ihre Grenzen geöffnet. Ich bekam davon nichts mit. Es gab kein Twitter, keine News-Alerts. Es gab keine Handys. Zuhause angekommen, stürzte ich mich auch nicht auf den Fernseher, sondern auf den Kühlschrank.
Am nächsten Morgen schaltete ich das Radio ein. „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages haben gestern Abend die Nationalhymne gesungen“. Das hörte ich, und dachte, ich hätte mich verhört.
Zwei Tage später reiste ich mit meinem Geschichte-Leistungskurs nach Ost-Berlin. Ein paar Wochen danach bestiegen wir einen der Sonderzüge von Hamburg nach Dresden. Auf dem Bahnhof empfingen uns Tausende. Eine Blaskapelle spielte, wildfremde Menschen drückten uns Blumen in die Hände, umarmten uns. Und hier, im Elbflorenz, begegnete ich Kurt Tucholsky.
Es war ein blonder Engel, der mir den Namensgeber Ihrer Gesellschaft näherbrachte. Sie hieß Sabine. Während die Weltgeschichte um uns wogte, schlossen wir Freundschaft. Im April 1990 schenkte sie mir etwas von Kurt Tucholsky. Die Geschichten von Rheinsberg und Schloss Gripsholm.
Sie alle wissen, was für ein Schatz dieses Buch ist. Diese federleichten Sätze. Dieser Anmut. Ich möchte hier nicht lügen. Habe ich mir damals gesagt: „Ach, so willst du auch einmal schreiben!“
Nein. Ich habe dieses und später andere Bücher von Tucholsky nur gelesen. Nur genossen. Aber natürlich stelle ich mir gern vor, dass er mein Ansporn war. Besonders heute.
Tatsächlich bin ich ja aus einem ganz bestimmten Grund hier. Meine Kollegen beim Handelsblatt, allen voran Thomas Tuma in der ersten Reihe, sind außerordentliche Kollegen. Vor fünf Jahren haben wir in Düsseldorf ein neues Ressort gegründet. Investigative Recherche. Und was soll ich Ihnen sagen. Wenn wir unsere Arbeit schlecht machen, gibt es Ärger. Wenn wir sie gut machen, gibt es Ärger.
Verstehen Sie das bitte nicht als Beschwerde. Wir haben auch Spaß bei der Arbeit. Als Rudi Völler für den Stromanbieter Teldafax warb, schrieben wir, Teldafax sei seit einem Jahr überschuldet und würde von einem Betrüger aus dem Gefängnis heraus geführt. Die Affäre kostete Völlers Verein 13 Millionen Euro.
Ein anderes Mal nahm sich das Handelsblatt die Ergo Versicherung vor. Auftakt war ein Reisebericht über eine Motivationsveranstaltung für Versicherungsvertreter in Budapest. Es ist der einzige Artikel, mit dem ich es bis ins Haus der Geschichte geschafft habe. Die Ausstellung „Schamlos, Sexualmoral im Wandel der Zeit“ zeigte die farbigen Armbändchen, mit denen die Versicherung damals in der Gellert-Therme die Prostituierten von den Hostessen trennte. Es musste ja alles seine Ordnung haben.
Es waren lehrreiche Wochen. Viel mehr Rechercheaufwand als für den Badespaß der Verkäufer steckte ich in die falschen Abrechnungen für Riester-Verträge. Es ist wahr: die Resonanz auf die Budapest-Geschichte war ungleich größer. Aber immerhin: Tausende von Rentenverträgen wurden nachträglich korrigiert und die Kunden entschädigt.
Einsicht ist meist nicht die erste Reaktion der Menschen, über die wir schreiben. Bei einem steinreichen Finanzinvestor wiesen wir Insiderhandel nach. Die Folge: Sechs Verfahren an drei verschiedenen Gerichten. Nicht gegen den Finanzinvestor. Gegen das Handelsblatt.
Als alle scheiterten, betrieb der Mann ein strafrechtliches Privatklageverfahren gegen einen Kollegen und mich. Sein Anwalt schrieb dem Gericht von einer „besonderen Schwere der Tat“ und der deshalb gebotenen „doppelten Strafschärfung“. Er hielt fünf Jahre Gefängnis für angemessen.
Aber das ist der Unterschied zwischen Deutschland und anderen Ländern. Hier sind inhaftierte Journalisten allenfalls Phantasien der Mächtigen. In der Türkei sitzen in dieser Stunde mehr als 150 Kollegen tatsächlich hinter Gittern. Ich verneige mich also vor dem Mut von Deniz Yücel und all den anderen, die ihren Job mit ihrer Freiheit bezahlt haben. Wissend, wie viel besser es mir geht.
Ich bin frei. So frei, dass ich vor gut einem Jahr in das Büro von Thomas Tuma gehen konnte, und von diesen Slumbewohnern in Hongkong erzählte, die ich gern treffen wollte. Die Schutzengel von Edward Snowden. Menschen, deren Geschichte im Getümmel um den US-Spion unentdeckt geblieben war.
Sie mögen sich erinnern: Anfang Juni 2013 schlugen fast im 24 Stunden Takt journalistische Bomben auf dem Globus ein. Der britische Guardian berichtete über unvorstellbar weitgreifende Spitzelaktivitäten der US-Nachrichtendienste. Jede E-Mail wurde mitgelesen. Jede besuchte Webseite protokolliert. Die Amerikaner konnten die Kameras unserer Laptops anzapfen, und die Mikros unserer Telefone. Ohne gerichtliche Genehmigung. Ohne, dass wir es merkten.
Am 9. Juni 2013 bekam die Enthüllungswelle ein Gesicht.
Der Mann, der die größten Geheimnisse des größten Geheimdienstes der Welt verriet, stellte sich vor eine Kamera. Ich schrieb noch an jenem Abend meinem Chefredakteur: „Der ist doch verrückt. Snowden ist ab morgen der meistgesuchte Mann der Welt.“
Die nächsten Tage waren nicht besonders angenehm für mein Team. Ohne die Dateien, die Snowden aus dem Hochsicherheitstrakt mitgenommen hatte, konnten wir seine Informationen nicht überprüfen. Und denen, die Snowden sie geben wollte, hatte er sie schon gegeben.
Was soll ich Ihnen sagen. Manchmal hat man Glück. 2015 wurde ich auf einen walisischen Investmentbanker aufmerksam. Der Mann hatte nicht nur einmal in seine Karriere, sondern gleich zweimal einen Milliardenschaden angerichtet. Trotzdem durfte er weitermachen – immer zu fürstlichem Gehalt. Ich nahm die Spur auf.
Dabei traf ich einen Anwalt. Robert Tibbo. Neun Monate später saß ich Tibbo im Mira Hotel in Hongkong gegenüber.
Es war dasselbe Hotel, in dem Edward Snowden 2013 Weltgeschichte schrieb. Und Tibbo war der Mann gewesen, der ihn aus diesem Hotel herausbugsiert hatte.
Ich gebe zu: Drei Jahre lang war mir diese Lücke in der Geschichte von Edward Snowden selbst gar nicht aufgefallen. Dabei ist der Moment auf Film festgehalten.
In der Oscar-gekrönten Dokumentation „Citizenfour“ von Laura Poitras sehen wir Snowden, wie er am Morgen des 10. Juni 2013 in seinem Hotelzimmer in Hongkong nachdenkt.
Snowden steht still in der Mitte des Raumes. Es scheint, als suche er nach einem Halt. Doch er findet keinen. Die Journalisten, mit denen er die Tage zuvor verbrachte, sind fort. Die Filmemacherin Poitras ist geblieben. Doch sie filmt nur, sie hilft nicht. Snowden ist auf sich allein gestellt. Er öffnet die Tür. Dann verschwindet der Amerikaner.
Zwei Wochen lang suchte der gesamte US-Geheimdienst, jeder Polizist in Hongkong und jeder Journalist in der Stadt nach Edward Snowden. Keiner fand ihn. Erst am 23. Juni 2013 sah die Welt ihn wieder – am Flughafen von Hongkong. Snowden verschwand durchs Gate, in der Hand ein Ticket nach Moskau. Der Spion war entwischt.
Robert Tibbo war der Mann, der dieses Entwischen arrangierte. Ein Menschenrechtsanwalt in Hongkong. Er kam zum Fall Snowden wie die Jungfrau zum Kinde.
Wie gesagt: Ich brauchte ungefähr neun Monate, um den Anwalt davon zu überzeugen, dass er gerade mir gerade dieses Stück verschwundener Zeitgeschichte erklärte. Ja mehr noch: dass er mich zu den Menschen führte, die Snowdens Entkommen erst möglich machten.
Sie heißen Ajith, Nadeeka, Supun und Vanessa.
Vier Flüchtlinge, die im hässlichen Schatten der reichsten Stadt der Welt leben. Hongkong akzeptiert nur 0,3 Prozent der Flüchtlinge, die sich um Asyl bewerben. Asylverfahren, oder das, was man dort so nennt, dauern regelmäßig länger als zehn Jahre.
Alle vier Flüchtlinge, die ich besuchte, hatten eine furchtbare Geschichte zu erzählen. Von Verfolgung, Vergewaltigung, Folter. Und dann erzählten sie, wie eines Abends Edward Snowden vor ihren Türen stand.
Der Menschenrechtsanwalt Tibbo hatte in allerhöchster Zeitnot einen tollkühnen Plan entwickelt. Er versteckte den Amerikaner dort, wo ihn keiner suchen würde: bei den Ärmsten der Armen. Unter Asylbewerbern, mitten in Hongkong. Und tatsächlich: Vier Menschen, die kaum genug hatten, um selbst zu überleben, gaben Snowden das, was er am Dringendsten brauchte: Sicherheit und Vertraulichkeit.
Snowden beschrieb mir dies später so:
Es kommt zu einem zauberhaften Moment. Hinter dir schließt sich eine Tür. Und all der Lärm, all die Gefahr bleibt auf der anderen Seite dieser Tür. Ich werde diesen Moment nie vergessen.
Zwei Wochen lang schlief Edward Snowden in den Betten seiner Helfer. Im Schutze der Dunkelheit wechselte er die Verstecke. Die Flüchtlinge gaben ihm zu essen, kauften ihm neue Unterwäsche und feierten mit Snowden seinen 30. Geburtstag. Ihre Kinder sangen ihm etwas vor.
Snowden war das nicht ganz geheuer. In seinen Worten:
Mir war unwohl wegen der Umstände, die sich die Flüchtlinge meinetwegen machten. Sie versuchten, mir anderes Essen zu kochen als das, was sie selbst aßen. Und da half kein Protest von mir. Ich konnte nicht anders, als mich schuldig zu fühlen. Und da sich die Flüchtlinge auch unter den widrigsten Umständen weigerten, Geld von mir zu nehmen, musste ich auch das anders lösen. Ich musste das Geld so in der Wohnung verstecken, dass sie es erst nach meiner Abreise finden würden.
Meine eigene Zeit in Hongkong verging wie im Rausch. Noch im Flugzeug schrieb ich meine ersten Sätze. Wir veröffentlichten die Geschichte im September 2016. Dann passierte etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Leser meldeten sich. Sie wollten den Menschen helfen, die Snowden geholfen hatten.
Nun gab keine Adresse, an die ich diese Leser weiterleiten konnte. Die Flüchtlinge hatten kein Konto. Tibbo waren aus juristischen Gründen die Hände gebunden. Wenn nicht schnell etwas geschah, würde die Spendenbereitschaft ins Leere laufen und versiegen.
Selbst ist der Journalist. Ich richtete eine Crowd-Funding-Seite im Internet ein.
Prompt twitterte Snowden den Link und innerhalb weniger Tage kamen 10.000 Euro zusammen.
Der Schauspieler Joseph Gordon-Levitt, der Snowden in Oliver Stones neuem Film verkörperte, hörte von der Aktion. Er drehte er ein kleines Video, mit dem er seinerseits zu Spenden aufrief.
Jetzt griffen Medien aus aller Welt die Story über Snowdens Schutzengel auf. In Toronto versuchte eine Gruppe von Menschenrechtsanwälten, ihnen zu Asyl in Kanada zu verhelfen. Die erste Reaktion aus dem zuständigen Ministerium ließ sehr hoffen.
Im Dezember 2016 war ich Gast beim Chaos Computer Club in Hamburg.
Auf dem Jahreskongress erzählte ich die Geschichte von Snowdens Fluchthelfern. Seinen Anwalt brachte ich mit, Schutzengel Vanessa wurde per Videoschalte in den Saal geholt. Am Ende standen 2000 schwarz gekleidete Hacker auf und spendeten ihr tosenden Applaus.
Das klingt jetzt alles nach einem Happy End. Aber Thomas Tuma hat es Ihnen schon berichtet: Die Geschichte hat eine Wende zum Schlechteren genommen. Mehr als zehn Jahre lang waren die Asylanträge der Schutzengel in Hongkong unbearbeitet. Dann wurden sie plötzlich im Schnelldurchlauf abgelehnt. Und in Kanada hat sich noch immer nichts bewegt.
Die Kinder der selbstlosen Retter von Edward Snowden, Keana, Sethumdi und Dinath, sind noch immer staatenlos. Ihr eigener rechtlicher Status ist unsicherer denn je. Ich wünschte, ich könnte daran etwas ändern. Aber ich kann es nur beschreiben.
Ich bin froh, in einem Land zu arbeiten, in dem das möglich ist. Und für eine Zeitung, die ihre Journalisten dazu ermutigt.
Lassen Sie sich nicht täuschen. Unser „Handelsblatt“ mag einen spröden Namen tragen. Und tatsächlich erinnere ich mich an die erste Reaktion meines früheren Chefs, als ich ihm sagte, ich hätte ein Angebot aus Düsseldorf. „Was? Zum Handelsblatt wollen Sie? Mit Ihrer Schreibe?“
Ich glaube nicht, dass er diese Frage noch einmal stellen würde. Schon gar nicht seit heute.
Thomas, vielen Dank dafür! Und vielen Dank, liebe Kurt Tucholsky-Gesellschaft!