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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief April 2017 Rundbriefe Tucholsky im Spiegel

Tucholsky im Spiegel [April 2017]

In der Zeitschrift Volltext, Nr. 4/2016, S. 64, gibt die österreichische Literatur­kritikerin Daniela Strigl im Fragebogen Zum Geschäft der Literaturkritik heute gleich an erster Stelle ihrer Antwort zu Protokoll:
(Frage): Welche LiteraturkritikerInnen schätzen Sie am meisten? Für welche Qualitäten?
(Antwort): Tucholsky für seine Geradlinigkeit und seinen Humor
Das Veranstaltungsmagazin des Mindener Tageblattes titelte in der Ausgabe für den 5. bis 11. Januar 2017
Hommage an Kurt Tucholsky
Schauspieler erinnern mit einer Revue an das Leben des Schriftstellers
um auf die diesjährige (vorgezogene) Geburtstagsveranstaltung am 8. Januar 2017 hinzuweisen. Organisiert von den zahlreichen Mitglieder*innen unserer Gesell­schaft aus Minden und inhaltlich repräsentiert vom Ensemble der Tucholsky Büh­ne Minden hinzuweisen. Im Weiteren heißt es dann u. a.:
Die Theatergruppe führt eine Hommage auf, in Erinnerung an die Anfänge, gemischt mit dem Biographical KurtT, das sie 2006 gespielt hat. Mit Songs und Texten aus der Feder des Berliner Journalisten und Satirikers erzählt das sou­verän agierende Ensemble aus seinem Leben. Seine Mutter kommt zu Wort, seine Frau Else Weil und auch seine Geliebte Mary Gerold. Mit der Marien-Kantorin Anna Somogyi am Flügel und der Sängerin Susanne Spitzmüller hat sich die Gruppe zwei hervorragende Musikerinnen als Verstärkung geholt. Ihre Interpretation des Gedichts Der Graben geht zu Herzen.
Soweit der Vorbericht, der uns wie immer ein volles Haus bescherte. Nachzutragen ist, dass unser Vorsitzender Ian King zu Beginn die Besucher*innen begrüßte, der Unterzeichner den Abend moderierte, der Büchertisch großes Interesse fand und die Mindener Brigitte Rothert in unsere Gesellschaft eintrat (Näheres dazu im Be­richt des Schatzmeisters).
In Ossietzky Nr. 1, 7. Januar 2017, finden sich vor allem Nachrufe auf den am 15. Dezember 2016 verstorbenen Mitbegründer und Mitherausgeber Eckart Spoo, der auch unserer Gesellschaft ein steter Freund, hilfreicher Unterstützer und nimmer­müder Ratgeber war.
Im Nachruf von Otto Köhler, zusammen mit dem leider auch bereits verstorbenen Lothar Kusche Träger des Kurt-Tucholsky-Preises 2013, heißt es auf S. 28 u. a.:
Wir von Ossietzky halten uns an das Beispiel, das Eckart Spoo uns gab, als er vor 19 Jahren schrieb: »Wir müssen wenigstens hinsehen. Möglichst genau hinsehen. Und uns erinnern. Dazu verpflichtet uns die Tradition, für die der Name Ossietzky steht.« In seinem Sinne verurteilte Eckart Spoo »das unver­schämte Drängeln nach weltweiter militärischer ›Verantwortung‹« – dieses Or­well-Wort gab es damals schon, bevor dieser Bundespräsident Gauck es in den Mund nahm. Er verurteilte die »Aufmärsche gewalttätiger junger Nazis« vor allem in »Dresden« – damals jung, heute, zwanzig Jahre älter und noch gewalttätiger. Und auch daran hat sich nichts zum Besseren geändert: »der immer rabiatere Umgang mit Flüchtlingen wie mit den einheimischen Armen, das Ausräubern öffentlicher Einrichtungen, das Mitmachen der SPD, die sich bemüht, alles zu bestätigen, was Tucholsky einst bitter über sie geschrieben hat.«
Erhard Weinholz schreibt in Ossietzky, Nr. 3, 4. Februar 2017, S. 93ff., über die Veränderung des Bötzowviertels in Berlin unter der Überschrift Umstrittenes Gelände u. a.:
Als die Bezirksverwaltung die seit mehr als hundert Jahren bestehende Büche­rei in der Esmarchstraße schließen wollte, blieb es nicht bei Protesten. Stammbewohner und Zuzügler, Westler und Ostler besetzten die Bibliotheksräume, gründeten den Verein Pro Kiez als Träger und betreiben seit dem Sommer 2008 die Bibliothek ehrenamtlich. Das sagt sich so einfach, war aber mit einer Unzahl von Problemen und Konflikten verbunden; gesichert ist der Fortbestand der der Kurt-Tucholsky-Bibliothek bis heute nicht.
Anmerkung: Mitglieder*innen unserer Gesellschaft haben schon mehrfach Unter­stützungsaktionen für den Erhalt der nach unserem Namensgeber benannten Bi­bliothek organisiert bzw. sich daran beteiligt. Mit dem Verein „Pro Kiez“ verbindet uns eine Mitgliedschaft auf Gegenseitigkeit.
Auch das folgende Heft, Ossietzky Nr. 4, 18. Februar 2017, kommt nicht ohne unseren Namensgeber aus. Volker Bräutigam beginnt seinen kritischen Artikel über den Kanzlerkandidaten der SPD, Martin Schulz aus Würselen, in dessen Schatten sich nach Aussage von Schulz Aachen erst entwickeln konnte, unter der Über­schrift »St. Martin und St. Michael« mit einem Tucholsky-Zitat:
Die SPD – Sie wissen schon, Tucholsky: die »Hier können Familien Kaffee kochen«-Partei – hat mit Martin Schulz wieder einen »Hoffnungsträger«. Das verkünden ihre Offiziellen, ohne rot zu werden, mit dieser Farbe haben es die Sozialdemokraten ohnehin nicht mehr so.
Die Zweitausendeins-Läden sind Geschichte. 1969 gegründet, wurde der letzte Laden Ende 2016 geschlossen. Aber nicht die unter dem Titel Merkhefte alle vier Wochen versandten kleinformatigen Kataloge auf Dünndruckpapier.
Die Merkhefte werden nunmehr von der Frölich & Kaufmann Verlag u. Versand GmbH aus Berlin in Kooperation mit der Zweitausendeins-Versand-Dienst GmbH, jetzt ansässig in Leipzig, herausgegeben und kostenlos verschickt.
Das aktuelle Merkheft Nr. 311 März/April 2017 ziert ein Hund mit einer zu­sammengefalteten Zeitung im Maul. Geworben wird damit schon auf der Titelseite für
Kurt Tucholsky
Bissiges über den Hund. Mit Illustrationen von Klaus Ensikat. Seite 6
Auf Seite 6 erfährt die geneigte Leser*innenschaft dann mehr:
Der Hund als Untergebener. Bissiges über Hunde und ihre Halter. Il­lustration von Klaus Ensikat.
Kaum ein Text Kurt Tucholskys rief bei seinen Lesern eine derart aufge­brachte Reaktion hervor wie sein satirischer Aufsatz Traktat über den Hund aus dem Jahr 1927. Auch in anderen Prosastücken, Feuilletons und Gedichten, die hier erstmals gesammelt vorliegen, hat sich der bekennende Katzenfreund Tucholsky humorvoll mit dem nicht immer unproblematischen Verhältnis zwischen Herrn und Hund auseinandergesetzt: »Es scheint wirklich so, dass die meisten Menschen hierzulande einen Hund nur deshalb besäßen, um noch einen unter sich zu haben.«
[56 S., statt 19,95 als Sonderausgabe nur 9,95 €, Nr. 773590, Merkheft, Postfach 650634, 13306 Berlin – online unter merkheft.de]
Auf der gleichen Seite wird noch folgendes Buch beworben. »Die komischen deutschen Erzähler«:
Gerd Haffmans hat 119 Geschichten um die Wechselfälle des Lebens grup­piert und zum Lachen, Grinsen oder auch zu divertiertem Lippenkräuseln freigegeben. Geschichten u. a. von Wilhelm Busch, Heinz Erhardt, Franz Kafka, Erich Kästner, Mascha Kaléko, Loriot Thomas Mann, Harry Rowohlt, Kurt Tucholsky u.v.a.
[650 S., Lesebändchen, Fadenheftung, Leinen, Haffmanns Verlag, 19 €, Nr. 799840.]
Die Welt bewirbt in ihrer Ausgabe vom 28. Februar 2017 ganzseitig (S. 12) eine neue »alte« Zeitschrift mit der Überschrift:
Das ANALOGE muss sich radikalisieren.
Es folgt der Untertitel:
»Die Dame« war in der Weimarer Republik eine revolutionäre Zeitschrift. Jetzt kommt sie zurück an den Kiosk. Nicht als Retro-Artefakt, sondern als Ausru­fezeichen in der digitalen Welt.
Im Textteil heißt es dann weiter:
Nun erscheint bei Springer eine Zeitschrift, die nicht nur gedruckt wird, son­dern das auch noch besonders aufwendig. 1,5 Kilogramm wiegt sie, 292 Sei­ten hat sie, 15 Euro kostet sie. (…) Die Marke (…), die am 2. März an den Kiosk kommt, heißt Die Dame. Nicht irgendeine Dame, sondern eben Die Dame. Die Zeitschrift erschien zwischen 1912 und 1937 im Berliner Ullstein-Verlag. Für die Zeitschrift arbeiteten Autoren und Künstler wie Kurt Tuchols­ky, Hannah Höch, Tamara de Lempicka, Joachim Ringelnatz, Bertolt Brecht, Vicky Baum. Nach der Enteignung Ullsteins durch die Nazis ging die Zeit­schrift an den »Deutschen Verlag«, wo sie bis 1943 erschien. Mit dem Frauen­bild der Nazis hatte die Welt der Dame freilich nichts am eleganten Organza­hut. Ein »Zentralorgan der Intelligenz der Weimarer Republik« nennt Christi­an Boros, Kunstsammler, Unternehmer und Herausgeber der neu aufgelegten Dame die Zeitschrift.
Ein großes Dankeschön an unser Ehrenmitglied Wolfgang Helfritsch, der in Ossietzky Heft 5, vom 4. März 2017, S. 172f, seine Rezension eines äußerst le­senswerten Buches unter der Überschrift »Zwischen Nationalpreis und Misstrauen« wie folgt beginnt:
»Beim Barte des Proleten!« Da drückte mir doch im Umfeld der Tuchols­ky-Jahrestagung 2016 in Szczecin der Autor und Kabarettist Jürgen Klammer seine gleichnamige Dokumentation über die Berliner »Distel« in die Hand. Und die legte ich vor dem Auslesen nicht wieder aus derselben.
Jürgen Klammer: Beim Barte des Proleten – Geschichten aus dem Ka­barett-Theater Distel, selbstironieverlag, 272 Seiten, 34.90 €. Der Verlag freut sich über Direktbestellungen unter: info@selbstironieverlag.de. Bei dieser Gelegenheit, sozusagen als Pendant, der Hinweis auf die ebenso lesenswerte Autobio­grafie von Wolfgang Helfritsch: »In 80 Jahren durch drei Welten – Erinnerungen und Episoden aus einem kurzen Leben«, 463 Seiten, 24.80 €, Verlag Ille & Riemer 2015, ISBN 978-3-95420 009-2.
Mein Dank gilt diesmal auch Marc Reichwein, unserem neuen Jurymitglied. Sämtli­che Artikel sind wie immer über die Geschäftsstelle abrufbar.
Bernd Brüntrup

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[Rezension] Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky

Lesenotizen ohne Erkenntniswert: die Tucholsky Forschung ist gefordert
Anmerkungen zu Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972
Entweder war es die Naivität der Autorin, einen Briefwechsel zu lesen und den Lesevorgang ohne Erkenntnis bringende Belege und Zitate als Büchlein zu publizieren oder es war Inkompetenz zu meinen, dass sich ohne Recherche und Lesekontext ein Brief­wechsel erschließt, erst recht, wenn es sich um zeitgeschichtlich bedeutsame Briefthemen und Personenbezüge handelt. Auch wenn der Band nur als Book on Demand mit ISBN verlegt wurde, schadet es der Zunft, wenn ein Titel die Erwartungshaltung so fehlleitet.
Um auch den Mangel zu belegen, sei darauf verwiesen, dass nicht einmal die Titel­geber von der Autorin vorgestellt werden, geschweige das literarische Leseinteres­se am Briefwechsel. Statt einer publizistischen Fragestellung sind Gerüchte, Belang­losigkeiten und unbelegte Pauschalurteile berichtenswert.
Der erste einleitende Satz gilt Hiller:

Dass mancherlei Diskrepanz besteht zwischen dem öffentlichen und den privaten Äuße­rungen Kurt Hillers, kann als gesichert gelten. Eine ihm gelegentlich nachgesagte Frauen­feindlichkeit beruht womöglich auf der Generalisierung einzelner auch drastischer Äuße­rungen, bei denen er nicht unterschied zwischen den Geschmähten.

Und weiter:

Die etwa 20 Jahre (1952-1972) währende Korrespondenz Hillers mit Mary Tucholsky war jedoch nicht den Briefmarkengewohnheiten in Marys Briefmarkenbeigaben in Marys Sendungen geschuldet!!

Keine weiteren biografischen Erläuterungen zu dem Schriftsteller und Publizisten Kurt Hiller außer dem Hinweis, dass er

als (auch) politischer Gefährte der Weltbühne-Zeit Kurt Tucholsky eine nahezu unerschöpf­liche Informationsquelle für ihr [Marys] Archiv

war. Und zu

Mary Gerold-Tucholsky (1898-1987), die „geschiedene Witwe“ Kurt Tucholskys

fällt Brigitte Laube auf Seite 2 nur ein:

lebte seit 1949 am Tegernsee, damals wohl noch nicht im „Tal der Millionäre“, und Be­wohner wie Ex-Politiker, Mitglieder der DDR-Nomenklatura und Fußballgrößen“. Sie war mit ihrem Freund [F.J. Raddatz] nach Rottach gekommen. Das Haus, das sie dort bezogen, muss nach Kriegsende für ein nicht vermögendes Paar [sic!] aus dem völlig zerstör­ten Berlin ein wahres Refugium gewesen sein, in dem sie anfangs auch Fremdenzimmer ver­mieteten.

Wichtig erscheint der Autorin noch die Charakteristik Marys aus der Feder ihres ‚Partners‘ F.J. Raddatz: »Mary sei
eine stolze, herrische Frau, gleichwohl warmherzig und bescheiden, mit schwerem baltischen Ak­zent« und Laube lobt als Zusatzinformation zu M. T. die »erfolgreiche Aufbauarbeit für das zukünftige KT-Archiv«, das die Autorin im Marbacher Literaturarchiv eingesehen ha­ben will.
Man muss fragen, ob eine Einsicht erfolgte. Geforscht hat sie dort sicherlich nicht, schon der Anspruch wäre bei dem vorgelegten Ergebnis vermessen, nicht einmal nachgefragt hat die unbedarfte »Briefe-Leserin«, obwohl sie nirgendwo besser kompetente Auskunft und Kontextberatung hätte bekommen können.
Genug des Ärgernisses unserer Besprechungslektüre. Eigentlich könnte man mit Tucholskys Zitat, das Mary mehrfach beruhigend Hiller vorhält, sagen: »Schweigen und vorübergehen«, wenn nicht das Thema Hiller und Tucholsky im Spiegel der Quel­len (Texte und Briefe) so wichtig wäre.
Im Rahmen einer Rezension kann ich nur beispielhaft die im Briefwechsel Mary Tucholskys mit Kurt Hiller relevanten Themen ansprechen und als Anregung Lite­raturwegweiser benennen, die auch zur Lektüre des zur Rede stehenden Briefwech­sels in den Archiven qualifizieren könnten.
Eine wichtige Anfrage von Marys Seite aus erfolgte zum Brief Tucholskys an Ar­nold Zweig vom 15.12. 1935, in dem Tucholsky besonders brisant die Frage des Verhältnisses zwischen Judentum und Deutschtum angesprochen hat und sein um­strittenes Statement verschiedentlich als sein »politisches Testament« gelesen wur­de.
Marys Frage im Brief an Hiller, warum der Hrsg. der Neuen Weltbühne (NWB) Prag, Hermann Budislawski eine gekürzte Fassung am 6.2.1936 veröffentlichte, lässt sich über die Gesamtausgabe der Werke (GW 21, B155 mit Kommentar) erschließen. Dort wird auch erläuternd und zielführend für weitere Recherchen auf die Stel­lungnahme Kurt Hillers in der NWB vom 26.3.1936 hingewiesen, den Hiller mit »Tucholsky und der Selbsthass« betitelte. In Marbach wäre auch die weiterführende Forschungsliteratur einzusehen. Das Thema ist in der aktuellen Israeldebatte bren­nend genug, um die Diskussion wieder zu beleben.
Ein zweites Thema der brieflichen Korrespondenz ist das vor allem von Hiller po­lemisch attackierte Vorwort von Hermann Kesten in der lizensierten Tuchols­ky-Anthologie in der Büchergilde, deren pauschalisierende Urteile zu Tucholskys Werk zurecht und besonders für Hiller und Mary Tucholsky anstößig wirken müssen.
Es sei nur eine kleine Auswahl aus Kestens Wortwahl zitiert:

[Tucholsky] schrieb fürs Volk, witzig und sentimental / ein deutscher Humorist / Unter kleinen Leuten fühlte er sich zu Haus. Im kleinen Leben tummelte er sich. / Er schreibt fürs Haustheater eines lokalen Humoristen, für die »Weltbühnenleser«, die in Cafés deut­scher Provinzstädte regelmäßig zusammenkamen und voreinander die Witze und Glossen aus der »Weltbühne« repetierten / vergießt literarische Tränen und kritisiert und verspottet dasselbe, was das kleine literarische Volk auf allen Straßen verlacht und verhöhnt / Aus nationalen Tragödien machte er possierliche Harlekinaden. / Er hatte die wahre Weltan­schauung des großen Haufens. Er dachte wie Hinz und Kunz, wenigstens wie Hinz und Kunz denken sollen.

Dies sind nur Beispiele aus der ersten Seite des literarischen Charakterbildes, das Hermann Kesten Tucholsky zuschreibt. Originalzitate fehlen bei Brigitte Laube. Wer weiß, ob die Autorin den Text recherchiert hat. Diese Quelle ist aber notwen­dig, um die Kontroverse um die Vergabe der Lizenz an die Büchergilde und den Streit um das Vorwort von Hermann Kesten, der Tucholsky zum populistischen Provinzhumoristen degradiert, zu verstehen. Man kann den Text im Ullstein Tb. nachlesen: Hermann Kesten: Meine Freunde, die Poeten. Frankfurt/M – Berlin – Wien: Ull­stein Verlag 1953, Ullstein TB. 37101, S.131ff.
Die weiteren von Hiller an Mary herangetragenen publizistischen Kontroversen, die der aggressiv polemisierende Kurt Hiller gegen seine Erzfeinde u.a. Budis­lawski, Karl Vetter, Hermann Kesten führte, überfordern Mary, deren Interesse auf Quellen zu und über K.T. gerichtet ist. Sie zieht sich zunehmend aus der Kor­respondenz zurück. Die von Laube weiterhin nur nachlässig referierten Briefthe­men sind ohne eine Kommentierung für den Leser unergiebig.
Die Zeit wäre reif, die Rolle Kurt Hillers gegenüber seinem Kollegen Tucholsky neu zu erforschen. Gerade für die Zeit des antifaschistischen Kampfes am Ende der Weimarer Zeit, in der Hiller zeitweise mit Tucholsky und zeitweise auch in kla­rer Frontstellung zu Tucholskys publizistischer Strategie Stellung bezog, wäre eine systematische Erforschung des Quellenmaterial im Kurt Hiller Nachlass (Archiv Neuß) angeraten und hätte einer qualifizierten Auswertung des Briefwechsels ge­dient.
Um das politische Verhältnis der beiden Weltbühne-Autoren einschätzen zu kön­nen, ist es erforderlich u. a. die Kontroversen, die Hiller und Maximilian Harden gegenüber Tucholskys redaktionellem Engagement beim Pieron und zum Ullstein­schen Uhu austrugen oder den entsprechenden Diskussionen in der USPD und in der Gruppe revolutionärer Schriftsteller in den veröffentlichten Quellen nachzugehen.
Hillers Positionierung in seinem Vortrag »Über die Rolle der Intellektuellen in der proleta­rischen Revolution« (1929) und seine von der Weltbühne-Redaktion abweichende Be­wertung zum Freispruch im Weltbühne-Prozess 1931 über den Satz »Soldaten sind Mörder« wären in der aktuellen politischen Protestsituation spannend und motivie­ren eine quellenkritische Aktualisierung der Beschäftigung mit Kurt Hillers »Politischen Schriften und Briefen«.
Wer Recherchehinweise dazu sucht, sei verwie­sen auf die beiden Standardwerke zu Kurt Tucholskys politischem Journalismus (Michael Hepps einschlägige Biographische Annäherungen bei Rowohlt, zuerst 1993 erschienen, und der Marbacher Katalog Bd. 45: »Entlaufene Bürger« Tucholsky und die Seinen, 1990, mit Hilfe der jeweils unter dem Stichwort »Hiller, Kurt« gut erschlossenen Register). Besonders zu empfehlen ist für die Annäherung an den politischen Journalisten Kurt Hiller der instruktive Einleitungsessay von Stephan Reinhardt zu der von ihm herausgegebenen Anthologie: Kurt Hiller, Politische Publizistik von 1918-33 (Heidelberg: Wunderhorn Verlag 1983).
Und eine letzte Anmerkung zu der Briefschreiberin Mary Tucholsky, die in der For­schung sehr vernachlässigt wird. Ich habe vor Jahren, damals noch mit Unterstüt­zung von Antje Bonitz, eine Brieffolge der wechselseitigen Briefkorrespondenz zwischen Kurt und Mary Tucholsky zusammengestellt und dabei die faszinierende Briefschreiberin Mary entdeckt. Es wäre sehr wünschenswert, wenn die KTG an den Rowohlt Verlag die dringliche Bitte richten würde, diese Briefkorrespondenz geschlossen in einem Band zu publizieren. Im Jahr ihres 30. Todestages 2017 wäre die Jahresversammlung der KTG in Berlin gut beraten, einen solchen Vorstoß zu beschließen.

Harald Vogel

Brigitte Laube: Kurt Hiller – Mary Tucholsky. Briefwechsel 1952-1972. Books on Demand Norderstedt 2016. 64 Seiten, kartoniert. 4,99 € ISBN 978-3-7412-8277-5

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rezensionen Rundbrief April 2017 Rundbriefe

[Rezension] Jan Eik: Ost-Berlin, wie es wirklich war

Es gibt Geschenke, die besonders erfreuen, wenn es den Nerv des Beschenkten treffen. So lag eines Tages Ost-Berlin, wie es wirklich war – Erinnerungen aus der Hauptstadt der DDR von Jan Eik auf mei­nem Tisch. Ich freute mich riesig, dass sich Helmut Eikermann – so heißt er mit bürgerlichem Namen – gerade dieses Themas an­genommen hat und mir Stunden der Erinnerungen bescherte.
Ei­kermann, also Jan Eik, ist nicht nur Berliner und in Ost-Berlin auf­gewachsen, als Krimi-Autor mehrfach ausgezeichnet, als Sach­buch-Autor ebenso geschätzt, sondern auch Mitglied und Referent bei Tagungen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft. Somit ein Seelenverwandter.
»Ost-Berlin« sagte ich als Kind und Jugendliche übrigens nie. Mit »Berlin-Karls­horst im Osten« behalf ich mich. Auch »Hauptstadt der DDR« kam mir nie über die Lippen. Eine halbe Stadt als Hauptstadt zu bezeichnen, das widerstrebte ja nicht nur mir. Und dann »Karlshorst«, da gingen bei Erwähnung des Stadtteils oft die Augenbrauen hoch.
Jenseits der Treskowallee, später Hermann-Duncker-Straße, war russisches Sperr­gebiet. Später übernahmen die Stasi und manch andere DDR-Behörden die dorti­gen Villen und mehrstöckigen Wohngebäude. Wir lebten also sehr gut bewacht. In Karlshorst steht bis heute das ehemalige Offizierskasino der Wehrmacht, in dem die bedingungslose Kapitulation am 8. März 1945 unterschrieben wurde.
Doch zurück zu Jan Eik: Grenzen sind zum Schmuggeln da überschreibt er eines seiner 13 Kapitel. Und geschmuggelt wurde in Berlin viel. Eine Episode erlebte ich mit. Für die Turmuhr und deren Ziffern der frei gegebenen und sehr renovierungsbe­dürftigen evangelischen Kirche hatten kirchliche Dienststellen in Westberlin Blatt­gold zur Verfügung gestellt. Und wer holte es in seiner verschlissenen alten Akten­tasche über die Grenze? Mein Vater. Erst als dieser wieder heil mit seiner heißen Ware zu Hause eintraf, fand meine Mutter ihre Sprache wieder.
Noch vor dem Mauerbau lockten West-Berliner Kinos, Sportpalast und andere Ver­gnügungsstätten auch die Ost-Jugend an. Und chic wollte man als »Backfisch« ja auch sein. Um eine Sonnenbrille mit Spiegelgläsern in West-Berlin zu erwerben, hatte ich fleißig Ostmark gespart.
Sie kostete zwar nur 10 DM, für mich aber 50 Ostmark, die man umtauschen musste. Kess setzte ich sie nach dem Kauf in Neukölln auf dem Heimweg in der S-Bahn auf. Sie konnte ja ein Geschenk von Tante Elli sein…
Alltag in Ost-Berlin, auch den hat Jan Eik faktenreich beschrieben, wie ich auf jeder Seite des rund 250 Seiten großen Buches so viel Bekanntes und Selbsterlebtes wie­der entdeckte. Es spiegelt 40 Jahre einer Teilstadt und ihrer Entstehung wieder. Im­mer den »Westen« vor Augen, wo es ja ganz anders zuging, damit musste man als Kind erst einmal klar kommen. Somit war diese Zeit eine bewusst erlebte Zeit. Wer den Spruchbändern, der Agitation und sonstige Einschränkungen nicht folgen wollte, hatte es nicht leicht.
Hat nun Jan Eik das Buch nur für die Berliner geschrie­ben, wie sein Kollege Gerd Bosetzky („ky“) eines über West-Berlin?
Nicht wirklich, denn auch für Nicht-Berliner ist es unterhaltsam und interessant. Ost-Berlin wie es wirklich war könnte ergänzt werden: und was davon übrig blieb“. Denn auch die »Überreste« der 40 Jahre Ost-Berlin entgingen nicht dem scharfen Blick des Autors. Lesenswert, besonders weil der Berliner Autor Jan Eik und der Tucholsky-Freund Helmut Eikermann eine wunderbare Symbiose eingegangen sind.

Renate Bökenkamp

Jan Eik: Ost-Berlin, wie es wirklich war. Erinnerungen aus der Hauptstadt der DDR. Jaron-Verlag Berlin. 256 Seiten, kartoniert. 9,95 € ISBN 978-3-89773-800-3

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Jahrestagung 2017 Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik Pressemitteilung Tagungen

Kurt Tucholsky-Gesellschaft lädt Deniz Yücel als Ehrengast ein

Seit mehreren Wochen sitzt der Kurt Tucholsky-Preisträger Deniz Yücel nun bereits in Haft. Ein Schicksal, das er mit über 150 Kolleg_innen teilt.
Inzwischen in Isolationshaft, wurde der Einspruch gegen seine Haft von den zuständigen Gerichten abgewiesen. Wir sehen diese Entwicklung mit großer Sorge, insbesondere, da wir weiterhin der festen Überzeugung sind, dass die Deniz Yücel vorgeworfenen Straftaten jeglicher Grundlage entbehren.
Vielmehr drängt sich der Verdacht auf, dass in seinem Fall – wie auch in zahlreichen anderen Fällen – versucht wird, unbequeme Gegenstimmen gegen den derzeitigen Kurs der türkischen Regierung verstummen zu lassen.
Umso dankbarer sind wir für die zahlreichen, bunten und vielfältigen Protest- und Solidaritätsaktionen, die derzeit in Deutschland und Europa die Freilassung der inhaftierten Journalist_innen fordern.
Wir begrüßen zudem die klare und deutliche Distanzierung von jeglichen »Nazi-Methoden« durch den türkischen Präsidenten. Bekanntermaßen gehörte die Bekämpfung von publizistischen Gegenstimmen durch konstruierte Vorwürfe unter Wahrung des rechtsstaatlichen Anscheins zu den von den Nationalsozialisten bereits unmittelbar nach der Machtübernahme verwendeten Methoden. Kurz: Indem man Journalismus zum Verbrechen erklärte. Kurt Tucholskys Nachfolger als Herausgeber der Weltbühne, der überzeugte Pazifist und spätere Nobelpreisträger Carl von Ossietzky starb an den Folgen dieser Praxis.
Mithin dürfen wir also davon ausgehen, dass sich die gegen Deniz Yücel erhobenen Vorwürfe in Kürze in einem fairen und rechtsstaatlichen Prozess als vollkommen haltlos erweisen werden und vielmehr festzustellen ist, dass er seiner journalistischen Arbeit und Pflicht nachgekommen ist. Und Journalismus ist kein Verbrechen.
Wir laden Deniz Yücel als Ehrengast zur diesjährigen Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises am 22. Oktober im Theater im Palais ein und freuen uns auf seinen sicher grandiosen Beitrag.

Der Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

Weitere Informationen:
Kurt Tucholsky-Gesellschaft
Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft wurde 1988 gegründet, um dem facettenreichen »Phänomen Tucholsky« nachzuspüren. Sie will als literarische Vereinigung die Beschäftigung mit Leben und Werk Kurt Tucholskys pflegen und fördern und hat ihren Sitz in Tucholskys Geburtsstadt Berlin. Als Publikationsorgan der Kurt Tucholsky-Gesellschaft erscheint dreimal im Jahr ein Rundbrief. Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft gibt zudem eine eigene Schriftenreihe heraus, in der vorrangig die Dokumentationen der von ihr organisierten wissenschaftlichen Tagungen erscheinen. Den jährlichen Höhepunkt der Vereinstätigkeit bilden Tagungen mit wissenschaftlichen Kolloquien, Vorträgen, Exkursionen und kulturellen Veranstaltungen. Aller zwei Jahre vergibt sie den Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik.
Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik
Aus Anlass des 60. Todestages von Kurt Tucholsky wurde 1995 der Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik gestiftet. Alle zwei Jahre werden mit ihm engagierte deutschsprachige Publizisten oder Journalisten ausgezeichnet, die der »kleinen Form« wie Essay, Satire, Song, Groteske, Traktat oder Pamphlet verpflichtet sind und sich in ihren Texten konkret auf zeitgeschichtlich-politische Vorgänge beziehen.
Ihre Texte sollen im Sinne Tucholskys der Realitätsprüfung dienen, Hintergründe aufdecken und dem Leser bei einer kritischen Urteilsfindung helfen.
Die Auswahl der Preisträger erfolgt durch eine fünfköpfige Jury; das Preisgeld beträgt seit dem Jahr 2015 5.000 € (bis 2013: 3.000 €).
Jury-Begründung zur Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises 2011 an Deniz Yücel
In seiner Kolumne »Vuvuzela«, die während der Fußballweltmeisterschaft 2010 erschien, hat Yücel sowohl den deutschen Spießer als auch die deutsche Spießerin auf angenehme Art entlarvt. Dabei übersteigert er bewusst das nationalistische Element, riskiert lustige Wortspiele sowie einen überdeutlichen Stimmungsumschwung nach der deutschen Niederlage (»Gurkentruppe….«) Das wäre vielleicht peinlich, wenn so etwas nicht den Lebensinhalt der Sportseiten im Boulevard bildete. Deniz Yücel hat sich Tucholskys Maxime zu eigen gemacht, der 1919 geschrieben hatte: »Die Satire muss übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird.«
Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft 2017
Die Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft steht im Jahr 2017 unter dem Thema »Tucholsky, Die Weltbühne und Europa«.
Die Tagung vom 20.-22. Oktober 2017 an der Humboldt-Universität zu Berlin widmet sich historischen und zeitgenössischen Dimensionen des Europa-Bildes und sucht dabei insbesondere nach Anknüpfungspunkten im Werk Tucholskys.
Als Abschluss und Höhepunkt der Tagung wird am 22. Oktober 2017 im Theater im Palais der Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik verliehen.
#Freedeniz
Neben der bewundernswürdigen Berichterstattung in zahlreichen deutschen Medien, insbesondere bei der ehemaligen publizistischen Heimat Yücels die tageszeitung und seiner aktuellen publizistischen Heimat DIE WELT sei beispielhaft auf die Solidaritätsseite des Freundeskreises Freedeniz verwiesen, die Berichte, Aktionen und Veranstaltungen bündelt.
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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief April 2017

Zur Inhaftierung von Deniz Yücel

Ich kenne Deniz Yücel in meiner Funktion als 1. Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft sowie als Mitglied der Jury, die ihm 2011 den KT-Preis vergab. Er bekam die Auszeichnung für seine „taz“-Kolumne „Vuvuzela“ zur Zeit der Fußballweltmeisterschaft 2010.
Diese Arbeiten bewiesen, dass Deniz ein Satiriker von Format ist, mit funkelnden Wortspielen und eigenwilligen Sprachschöpfungen. Sie zeigten ihn auch als Freund der deutschen Sprache, der diese vor Phrasendreschern der Sportberichterstattung schützen wollte. Und last not least als Gegner von billigem Hurrapatriotismus, als Kämpfer gegen den Nationalwahn, als Europäer und Weltbürger. So wurde Deniz zum würdigen Träger des Kurt-Tucholsky-Preises.
Jetzt sitzt Deniz in einem türkischen Gefängnis. Präsident Erdoğan hat ihn ohne Anklage und Urteil als Terroristen bezeichnet. Das ist Deniz garantiert nicht. Er ist kein Freund der Mächtigen – aber seine Arbeiten für die taz und Die Welt beweisen: er ist ein lupenreiner Demokrat.
Die Türkei wurde in der Zwischenkriegszeit zu einem Zufluchtsort für antifaschistische deutsche Emigranten, zu einem demokratischen Rechtsstaat. Zur Demokratie gehört der Grundsatz der freien Meinungsäußerung, zum Rechtsstaat das Prinzip „Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils“. Jetzt hat die Türkei die Chance, sich im Falle Deniz Yücel als Demokratie und Rechtsstaat zu bewähren.
Die Kurt Tucholsky-Gesellschaft ist sicher, dass das Land diese Chance ergreift und Deniz als unschuldig freilassen wird. Sie lädt Deniz Yücel zur Teilnahme an der diesjährigen Kurt Tucholsky-Preisverleihung am Sonntag 22. Oktober ins Theater im Palais, Berlin ein.

Dr. Ian King, 1. Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

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Zum Tod von Jochanan Trilse-Finkelstein

Der Tucholsky-Preisträger Jochanan Trilse-Finkelstein ist mit 84 Jahren gestorben.

Jochanan bin ich viermal begegnet: bei den Tagungen in Schweden 1994, Paris 2008 und Berlin 2015, sowie in seiner Wohnung nahe der Schönhauser Allee, wo er seinen guten Freund Wolfgang Helfritsch und mich am Schabbat-Abend zum Essen eingeladen hatte. Er hat ein kompliziertes, zum Teil schweres Leben gehabt: in der Jugend als Jude und als Linker doppelt gefährdet, dann auch als respektierter Professor in der DDR und nach der Vereinigung 1990 manchmal gemeinen Diskriminierungen ausgesetzt. Seinen Lieblingsautoren  – Heine, Tucholsky, Peter Hacks – hielt er die Treue, war auf dem Gebiet des Theaters anerkannter Experte, der sich regelmäßig auch in dem Weltbühne-Nachfolgeorgan Ossietzky regelmäßig zu Wort meldete.

Ich habe Jochanans Kenntnisse bewundert, sein konsequent geführtes Leben ebenfalls. Sein ausführlicher Vortrag über die beiden Paris-Liebhaber Heine und Tucholsky wird keiner der anwesenden Tagungsteilnehmer vergessen. Gleiches gilt für die Rührung, mit der er 2015 seine Lebensgeschichte kurz und prägnant erzählte: ein würdiger Preisträger. Ich denke jedoch auch an den Privatmann: sicher war er manchmal ein Unbequemer, aber einer mit Zivilcourage und ein freundlicher, hilfsbereiter Gastgeber. Seine Lebensgefährtin Barbara, seine Freunde, seine Leserinnen und Leser – und unsere Gesellschaft- werden Jochanan vermissen.

Ian King, 1. Vorsitzender der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

Jury-Begründung zur Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises 2015 an Jochanan Trilse-Finkelstein

Laudatio für Jochanan Trilse-Finkelstein 2015

Dankesrede von Jochanan Trilse-Finkelstein 2015

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Kurt Tucholsky Preis für literarische Publizistik Pressemitteilung

Zur Festsetzung von Deniz Yücel

»Denn wo blieben dann die Religionen, und wo bliebe vor allem der Patriotismus, wenn die Leute wüßten, was los ist! Die Zensur ist der Schutz der Wenigen gegen die Vielen.« (Kurt Tucholsky, 1932)[1]
Als sich die Jury des Kurt-Tucholsky-Preises 2011 für Deniz Yücel entschied, zeichnete sie seine satirischen Kolumnen aus und hob dabei Yücels Fähigkeit der »angenehmen Entlarvung« hervor.
Seitdem hat Deniz Yücel auf vielfältige Weise gezeigt, dass der Name Tucholskys völlig zu Recht mit seiner Arbeit verbunden wurde. Insbesondere seine Arbeit als Türkeikorrespondent zeigt einen Journalisten im besten Sinne: Scharf analysierend, genau beobachtend, Zusammenhänge darstellend.
Yücel stellt dabei Menschen und Geschichten vor, die in der zunehmend enger werdenden türkischen Presselandschaft, kaum zu sehen und zu hören sind.
Es liegt in der Natur der Sache, dass er im Rahmen seiner Arbeit mit Menschen spricht, die der sich nahezu täglich ändernden Rechtslage in der Türkei nicht entsprechend handeln – wie sonst sollte ein Journalist offenlegend arbeiten?
Kurt Tucholsky, der selbst leidenschaftlich für freie Presse (und vor allem, für die Freiheit der seinerzeitigen Neuen Medien) kämpfte, schrieb:
»Und hier zeigt sich nun die ganze Schwäche jedes Versuchs […], ein eng gefügtes Weltbild zu statuieren: jeder Vertreter solches Zwanges hindert den ihm Unterworfenen, sich eine freie Meinung zu bilden. Er läßt die Gegenargumente gar nicht erst an ihn heran.«[2]
Die Pressefreiheit ist aus gutem Grund ein hohes Gut. Sie ist ein Grundpfeiler offener, demokratischer Gesellschaften. Richtig genutzt erfüllt sie elementare Kontrollfunktionen, denn auch die gefestigste Demokratie ist nicht vor den Verführungen von Macht und Geld gefeit.
 
Wir können von außerhalb nur schwer beurteilen, wie stichhaltig die von den türkischen Behörden erhobenen Vorwürfe gegen Deniz Yücel sind und unterstützen die Forderungen von Auswärtigem Amt, Bundeskanzlerin, Reporter ohne Grenzen und der WELT nach einem fairen Verfahren. Es scheint dies allerdings im bestehenden Ausnahmezustand in der Türkei geradezu aussichtslos zu sein. Ziel aller Aktionen muss daher sein, so bald als möglich eine Freilassung Deniz Yücels zu erreichen.
 
Wir können jedoch gleichzeitig nicht die Augen davor verschließen, dass das Verfahren gegen Deniz Yücel kein Einzelfall ist. Er reiht sich ein in eine lange Reihe von massiven Verfolgungen kritischer Journalisten in der Türkei. Die Forderung der Freilassung Deniz Yücels kann daher nur in Verbindung mit der Forderung nach der Freilassung aller anderen inhaftierten Journalisten in der Türkei erhoben werden.
 
Der Kurt-Tucholsky-Preis wird vergeben für Arbeiten, die sich »kritisch mit zeitgeschichtlichen Entwicklungen und Vorgängen auseinandersetzen und Realitäten hinter vorgeschobenen Fassaden erhellen«. Genau dies ist Kern der Arbeit von Deniz Yücel. Es ist dies die vornehmste Aufgabe und Pflicht eines Journalisten – und kein Verbrechen.
 

Der Vorstand der Kurt Tucholsky-Gesellschaft

Weiterführende Links:
Diese Mitteilung als pdf downloaden.
Begründung der Jury zur Verleihung des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische 2011
Petition zur Freilassung Deniz Yücels
Die Aktionsseite »#FreeDeniz«
Überblicksseite zu Reaktionen von Behörden und Medien von Knut Kuckel auf journalistblog.de
[1] Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel: »Freier Funk! Freier Film!« in: Die Weltbühne, Nr. 18 vom 03.05.1932
[2] Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel: »Freier Funk! Freier Film!« in: Die Weltbühne, Nr. 18 vom 03.05.1932
 

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Presseschau

Presseschau zum Tod von Gisela May

Gisela May, viele Jahre Ehrenmitglied der Kurt Tucholsky-Gesellschaft, war eine der bedeutendsten Schauspielerinnen des 20. Jahrhunderts. Als Diseuse von Weltrang ist ihr Schaffen eng mit dem Werk Kurt Tucholskys verbunden.
Sehr vielfältig fielen die Würdigungen anlässlich ihres Todes am 2. Dezember 2016 aus. Wir versuchen hier einen Überblick zu geben, der selbstredend keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann.
»Die May – wirklich einmalig« überschreibt Wolfgang Helfritsch, selbst Ehrenmitglied der Kurt Tucholsky-Gesellschaft, seinen Nachruf im KTG-Rundbrief Dezember 2016.
Für Deutschlandradio Kultur sprach Britta Bürger mit der Schauspielerin Carmen-Maja Antoni über Gisela May, zusammengefasst unter dem Fazit »Ich habe immer ihre Haltung bewundert«.
Ebenfalls für Deutschlandradio Kultur verfasste Dirk Fuhrig einen umfangreichen Nachruf unter dem Titel »Von Mutter Courage zu „Muddi“«, auf den auch von der Internationalen Hanns-Eisler-Gesellschaft verwiesen wird.
Für die junge Welt zeichnete Frank-Burkhard Habel (seines Zeichens langjähriges Vorstandsmitglied der Kurt Tucholsky-Gesellschft) für den umfassenden Nachruf »Parteilichkeit, glaubwürdig« auf »eine der letzten großen Diseusen des literarischen Kabaretts« verantwortlich.
Für die ARD-tagesschau erstellte Tina Löhneysen vom rbb einen Beitrag, dessen Begleittext sich nachlesen lässt.

Der knapp 15minütige Film von Anne Kohlick »Keine sang Brecht wie sie – Abschied von Gisela May« für den rbb kann weiterhin auf der Website des Senders angesehen werden.
Er findet sich übrigens ebenso als eingebettes Video im Nachruf »Mutter Courage ist tot« von Oliver Kranz ebenfalls vom rbb.
Die dpa-Meldung findet sich in der Süddeutschen Zeitung, deren nichtsdestotrotz lesenswerten Beitrag man in derselben oder ähnlichen Form naturgmäß auch andernorts findet.
Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb Simon Strauss eine Würdigung unter dem Titel »Brechts First Lady«.
Reinhard Wengierek hat seinen Nachruf für Die Welt mit »Der sozialistische Weltstar mit der Krawatte« betitelt.

Zwei Pole ihres Werkes erfasst die Überschrift »Muddi Courage«, die Lothar Heinke für seine Würdigung Gisela Mays im Tagesspiegel gefunden hat.
Etwas nüchterner formuliert dies Birgit Walter für die Berliner Zeitung, ihr Nachruf ist mit »Gegensätze gehörten zum Wesen dieser Diva« überschrieben.
Ihr Leben schlaglichtartig Revue passieren lässt Daland Segler für die Frankfurter Rundschau in seinem Nachruf »Die Stimme des Dichters«.
Kurz gehalten ist der Nachruf bei Theater der Zeit.
Für die Akademie der Künste, deren Mitglied Gisela May seit 1972 war, veröffentlichte deren Präsidentin Jeanine Meerapfel einen Nachruf.
In Der Freitag würdigte Magdalene Geisler unter dem Titel »Treuer Typus mit Pagenkopf« Leben und Werk Gisela Mays.
Den vermutlich ersten Nachruf veröffentlichte nachtkritik.de unter dem Titel »Die Stimme Brechts«.

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Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbriefe

Rundbrief Dezember 2016

Liebe Mitglieder und Freunde der Kurt Tucholsky-Gesellschaft,
der neue Rundbrief Dezember 2016 ist erschienen. Sie können ihn hier (ohne Vereinsinterna) als pdf herunterladen.
Ausgewählte Beiträge sind zudem direkt als Einträge im Blog zu lesen:
[Presseschau] Tucholsky im Spiegel
[Pressemitteilung] Marc Reichwein in Jury berufen
[Ausschreibung] Kurt Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2017
[Nachruf] Lothar Kusche (1929-2016)
[Nachruf] Gisela May (1924-2016)
[Rezension] Rafael Cardoso: Das Vermächtnis der Seidenraupen
[Rezension] Bernhard Weck: Kurt Tucholsky (1890 -1935) »Schmerz über das Unrecht im Recht«
[Rezension] Distel – Beim Barte des Proleten
[Rezension] Petra Eisele, Annette Ludwig, Isabel Naegele: Futura. Die Schrift
[Originaltext] Theobald Tiger: Der Graben

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Originaltexte Publikationen der Kurt Tucholsky-Gesellschaft Rundbrief Dezember 2016 Rundbriefe

Kurt Tucholsky: Der Graben

Der Graben

Mutter, wozu hast du deinen aufgezogen?
Hast dich zwanzig Jahr mit ihm gequält?
Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen,
Und du hast ihm leise was erzählt?

Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Mutter, für den Graben.

 
Junge, kannst du noch an Vater denken?
Vater nahm dich oft auf seinen Arm.
Und er tat dir einen Groschen schenken,
Und er spielte mit dir Räuber und Gendarm.

Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Junge, für den Graben.

 
Drüben die französischen Genossen
Lagen dicht bei Englands Arbeitsmann.
Alle haben sie ihr Blut vergossen,
Und zerschossen ruht heut Mann bei Mann.

Alte Leute, Männer, mancher Knabe
In dem einen großen Massengrabe.

 
Seid nicht stolz auf Orden und Geklunker!
Seid nicht stolz auf Narben und die Zeit!
In die Gräben schickten euch die Junker,
Staatswahn und der Fabrikantenneid.

Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben,
Für das Grab, Genossen, für den Graben!

 
Werft die Fahnen fort! Die Militärkapellen
Spielen auf zu euerm Todestanz.
Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen –
Das ist dann der Dank des Vaterlands.

Denkt an Todesröcheln und Gestöhne.
Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne,
Schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben.
Wollt ihr denen nicht die Hände geben –?
Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben
Überm Graben, Leute, überm Graben –!

Theobald Tiger, Neue Berliner Zeitung, 1.8. 1924 in: Tucholsky Gesamtausgabe Band 6, [T 105], S. 240f.